Ein neuer Skandal in Frankreich
Am Anfang steht ein Buch. In „La familia grande“ schreibt sich die Französin Camille Kouchner ein schreckliches Geheimnis von der Seele. Die 45 Jahre alte Juristin hat nie mehr losgelassen, was ihr Zwillingsbruder ihr im Alter von 13 oder 14 Jahren anvertraute: Der vergötterte Stiefvater hat sich an ihm vergangen, ihn regelmäßig zu sexuellen Handlungen genötigt, ob in der großzügigen Altbauwohnung der privilegierten IntellektuellenFamilie in Paris oder in der geerbten Ferienvilla an der Côte d’Azur. Eindrücklich schildert Kouchner den Teufelskreis aus Scham und Schweigen, aus dem auch sie, die Mitwisserin, nicht ausbrechen kann.
Camilles Schuldgefühle wachsen mit jedem Tag. Aber immer wieder gibt sie dem Flehen ihres gepeinigten Bruders nach, das Geheimnis zu wahren.
Das Buch ist ein heute vom Bruder gebilligter persönlicher Befreiungsschlag – und hat in ganz Frankreich einen Bann gebrochen. Tausende von Betroffenen haben sich seit dem Erscheinen ermutigt gefühlt, über ihre erlebte sexuelle Gewalt in der eigenen Familie zu sprechen. Bei der unabhängigen „Kommission für Inzest-Opfer“ gingen hunderte Briefe ein. Andere nutzten die Anonymität des sozialen Netzwerks Twitter, um unter dem Hashtag #metooinceste zu berichten, wie ihnen Vater oder Onkel die Kindheit raubten.
„Beim ersten Mal war ich sechs Jahre“, schreibt jemand, „beim ersten Mal war ich zehn“, eine andere.
Ein Abgeordneter der Regierungspartei La République en Marche, Bruno Questel, twitterte: „Er war nicht aus meiner Familie, er war aus dem Dorf, einer der Orte, wo die Familie groß ist. Ich war elf Jahre alt. Ich habe es niemals vergessen.“ Und: „Vergeben ist nicht möglich. Es gibt keine Entschuldigung“, fährt der 54 Jahre alte Parlamentarier fort. Er wehrt sich dagegen, dass der Blick in die Vergangenheit nachsichtig ausfällt: Andere Zeiten, andere Sitten – das dürfe nicht gelten.
Ja, es waren andere Zeiten, die Camille Kouchner mit klarem Blick erzählt. Ihr Buch ist auch eine Studie der Elite der Achtundsechziger-Generation in Saint-Germain-des-Prés. Es ist nicht nur ein feines, sondern scheinbar auch edles Milieu. Ihre Eltern: Der Vater ist der spätere Mitbegründer der Hilfsorganisation Médecins sans frontières (Ärzte ohne Grenzen) und Minister Bernard Kouchner, die Mutter Évelyne Pisier, eine namhafte Universitätsprofessorin, einst bekannt geworden als langjährige Geliebte von Fidel Castro. Sie lernten sich bei einer Reise nach Kuba kennen. Der spätere Stiefvater, Olivier Duhamel, machte an der Elitehochschule „Sciences Po“ Karriere, kommentierte die politische Lage im Fernsehen und beriet wechselnde Regierungen.
„La familia grande“ sind für Camille Kouchner die Freunde ihrer Eltern, Schriftsteller, Minister, Professoren, Schauspieler, Künstler und Journalisten. Viele von ihnen wussten, was ihrem Bruder wiederfuhr – aber alle hatten geschwiegen. Kouchner vermutet, sie seien stolz darauf gewesen, das Geheimnis gewahrt zu haben. Wie ihre Mutter träumten viele der elterlichen Freunde als Studenten von Revolution und einem Bruch mit den bürgerlichen Moralvorstellungen. Nicht selten auf Kosten der Kinder, die mussten mitmachen, ob sie wollten oder nicht.
Im Sommer balgen alle nackt am Pool, Kinder wie Eltern, man küsst einander auf den geöffneten Mund. Die Erwachsenen amüsieren sich köstlich, schreibt Kouchner, als sie als Mädchen bei einem Ratespiel Geschlechtsverkehr mimen muss. In diesem Klima, in dem Verbieten verboten ist, wird sexueller Missbrauch zum Kavaliersakt. Nach langen einsamen Qualen konfrontiert der missbrauchte Junge seine Mutter 2008 mit dem, was ihr Mann und sein Stiefvater über Jahre getan hatte. Anzeige erstatten, Trennung von dem Mann, der ihrem Kind das angetan hatte? All das kommt für diese Frau nicht in Frage. Kouchner schreibt, wie die Mutter vor ihrem Bruder Duhamel in Schutz nimmt: „Er bedauert es, weißt Du. Es quält ihn. Aber er hat nachgedacht, Du warst bestimmt schon über 15 Jahre alt. Und dann gab es ja keine Penetration. Fellatio ist was ganz anderes.“ Auch die anderen Erwachsenen tun nichts. Der leibliche Vater, Kouchner, droht damit, Duhamel „die Fresse zu polieren“ – aber die Polizei informiert er nicht. Die Freunde schweigen, einige wenden sich diskret vom Täter ab, aber Hilfe erfahren weder Camille noch ihr Bruder.
Camille Kouchner rechnet mit dieser ganzen Elterngeneration ab, die bei ihrer Begeisterung für die sexuelle Revolution die Schwächeren unterbutterten. Die Mutter, Évelyne Pisier, die als eine der ersten Frauen an der Sorbonne einen Lehrstuhl in Rechtswissenschaften erhielt, flüchtete sich zunehmend in den Alkohol. Rückblickend liest sich ihr 2005 erschienener autobiografischer Roman „Une question d’âge“ (Eine Frage des Alters) wie ein Schuldeingeständnis. Die Hauptfigur ist ein außergewöhnlicher Uni-Professor, charmant und einflussreich, mit Beziehungen zu den höchsten Entscheidungsträgern – wie ihr eigener Mann Duhamel. In einer Passage schreibt sie, wie angespannt das Verhältnis sei: „Es herrscht nicht Krieg zwischen uns, aber die Stimmung ist unheilvoll. Gehst du noch zu den Anonymen Alkoholikern?, fragt er. Ich antworte, eiskalt: ‚Bevorzugst du pädophile Netzwerke?‘“
Das Buch hat nach Jahrzehnten des Wegsehens Frankreich aufgeschreckt. Präsident Macron höchstpersönlich hat versprochen, dass die Gesetzgebung bei sexuellem Missbrauch von Kindern und bei Inzest verschärft werden soll. „Wir sind hier, wir hören Ihnen zu, wir glauben Ihnen Sie werden nie wieder allein sein“, erklärte er Richtung Inzestopfer.
Auch im Fall Kouchner hatte sich die Justiz nicht sonderlich um die Opfer bemüht. Pisiers Schwester, die bekannte Schauspielerin Marie-France Pisier, war so empört über die Übergriffe des Stiefvaters, dass sie ihre Schwester bekniete, ihren Mann zu verlassen. Sie erzählte überall herum, was Duhamel getan hatte. 2011 wurde sie tot im Swimming Pool in Duhamels Familienvilla in Sanary aufgefunden. Um die Todesursache zu klären, wertete die Polizei ihren Computer aus und stieß auf den E-Mail-Austausch mit ihrer Schwester, in dem es um die sexuellen Übergriffe Duhamels ging. Doch die Ermittlungen wurden kurze Zeit später eingestellt. „Ich habe nie an einen Selbstmord geglaubt“, erklärte jüngst Camilles Bruder. Jetzt hat die Staatsanwaltschaft neue Ermittlungen aufgenommen, auch wenn die Taten mutmaßlich verjährt sind.
Olivier Duhamel hat inzwischen alle Ämter niedergelegt. Der Skandal zieht immer weitere Kreise. Im Fernsehen wurde der frühere Kulturminister Jack Lang zur Rede gestellt, der 1977 einen Aufruf zur Legalisierung von sexuellen Beziehungen zu Kindern mit unterzeichnet hatte. „Das war eine Dummheit! Wir waren in dieser Zeit von einer libertären Vision getragen“, rechtfertigte Lang sich in einem Radiointerview. Den Appell hatten 69 namhafte Intellektuelle, darunter Jean-Paul Sartre, Roland Barthes und Simone de Beauvoir unterzeichnet. Jack Lang war vor etlichen Jahren von dem Portier des Marrakescher Luxushotels Mamounia gemeldet worden, weil die Jungen, die er mit in seine Suite nahm, gar zu klein waren. Ohne Konsequenzen. Und ohne Folgen für seine politische Karriere.
Und der Initiator des Aufrufes, der Schriftsteller Gabriel Matzneff, war noch 2013 mit dem renommierten Literaturpreis Renaudot ausgezeichnet worden. Matzneff ist Autor von Dutzenden Romanen, Essays und Notizbüchern, in denen er offenherzig seine pädophilen Abenteuer beschreibt (EMMA 2/20). In Saint-Germain-desPrés eckte er damit nicht an. Erst als das Buch eines seiner Opfer, Vanessa Springora, erschien, änderte sich das. Das Buch von Camille Kouchner markiert nun endgültig eine neue Etappe auf dem Weg der Gerechtigkeit für die Opfer sexuellen Missbrauchs. Auch in den feinsten Kreisen.
MICHAELA WIEGEL