Der Sinn der Leere

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Inzwischen hat sie eine Kreditkarte, und sie benutzt sie sogar. Sie lebt in einer Wohnung, besitzt ein Bankkonto, und wer mehr als zwei Millionen Tonträger verkauft hat, gerade sein viertes Album veröffentlicht und gerne in einem Atemzug mit Billie Holiday und Norah Jones genannt wird, dürfte solche Insignien einer zeitgemäßen Existenz eigentlich kaum für erwähnenswert halten.

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Madeleine Peyroux sitzt im sonnendurchfluteten Konferenzraum ihrer Plattenfirma. Auf einem Silbertablett warten belegte Brötchen. Vor der Tür bereitet sich eine asiatische Stylistin auf das Fotoshooting vor, indem sie ein halbes Dutzend Kulturbeutel in Schwarz auf der Kaffeetheke aufreiht. Die Stylistin heißt Jazz. Kein Witz.

Madeleine Peyroux rührt gedankenverloren in ihrem Kaffee und redet beim Rauchen über die existenziellen Dinge des Lebens so, als säße sie mit Freunden in einem französischen Café und es wäre spät geworden. Schon nach wenigen Gesprächsminuten fällt der Satz, der eigentlich eine Frage ist, und ihr ganzes, mitteljunges, wechselvolles Leben bündelt: "Wer bin ich?" Die 34-Jährige spricht das so beiläufig aus, wie nur jemand klingen kann, dem die philosophischen Grundfragen des Seins sehr viel näher sind als Hochglanz-Luxus-Lifestyle-Dinge. Es grenzt an ein Wunder, dass eine wie Peyroux ihren Platz gefunden hat in der gerne glamourösen Welt der Musikindustrie – eine Frau mit zu langen Haaren und einer zu markanten Nase, mit zu engen Jeans über zu breiten Hüften und einer Ethno-Umhängetasche, wie sie zu Tausenden auf Straßenmärkten verkauft wird. Madeleine Peyroux ist eine Anti-Diva.

Das Wunder ist ihre Stimme: eine Mona-Lisa-Stimme, ein Klang mit dem verwitterten Charme einer Flohmarktantiquität, samtig, perlend, lässig, zart und rau, klug und sinnlich, bittersüß – der Musikkritik und ihrem Fundus an Metaphern und Adjektiven verlangt Peyroux einiges ab. Bisher hat sie Klassiker interpretiert und dafür viel Applaus geerntet. Jetzt hat die Sängerin mit "Bare Bones" ein Album mit eigenen Stücken vorgelegt. Und wieder ist da diese Stimme. Glasklar und trotzdem wie wattiert singt sie eine Mischung aus Blues, Folk und Jazz, die zum Sonntagsbrunch passt, zum Lavendelbad bei Kerzenschein oder einem verregneten Abend mit viel Rotwein und der besten Freundin auf dem Sofa. Nachlässig singt sie und trotzdem präzise.

"Alle diese Songs basieren auf meiner Lebensphilosophie, in der es darum geht, einen Sinn darin zu finden, wenn man alles verloren hat. Es geht darum, der Leere einen Sinn abzugewinnen." Da weiß eine, wovon sie spricht. Madeleine Peyroux hat ihre Karriere als Straßenmusikerin begonnen. Da war die Amerikanerin 15 Jahre alt und nach der Trennung ihrer Eltern mit der Mutter nach Paris gezogen, eine Rebellin, die einem englischen Internat nach nur wenigen Monaten den Rücken kehrte. Man schrieb die achtziger Jahre, in denen das Quartier Latin tatsächlich noch Treffpunkt und Spielplatz war für Künstler aus der ganzen Welt. Sie reichte für ihre neuen Freunde den Hut herum. Schließlich sang und spielte sie selbst, alleine oder mit der "Lost Wandering Blues & Jazz Band". Straßencafés und U-Bahnsteige wurden ihre Bühnen, erst Paris, später ganz Europa. Sie lebte von der Hand in den Mund, von den Münzen, die sie wie alle anderen auch an der Bar ihres Lieblingscafés in Scheine wechseln ließ, dort, wo sich die Gitarren der Musiker im Fenster stapelten, weil hier so viele waren wie sie und sich als Familie fühlten. Anfangs schlief sie im Park. Oft übernachtete sie bei Freunden. Wer denkt da schon an ein Bankkonto?

"Es war eigentlich ein ziemlich gutes Leben", sagt Madeleine Peyroux und blickt zwischen den Lamellen des Sonnenschutzes in den Himmel über Berlin hinaus. Sie hat grüne Augen mit einem braunen Strahlenkranz rund um die Pupillen. "Ich habe diese Erfahrung gebraucht. Ich bin darüber erwachsen geworden. Und ich habe gewissermaßen Musik studiert." Wenn sie heute auf der Bühne steht, braucht sie weder Requisiten noch Kulissen: "Meine Performance entsteht, indem ich mit der Vorstellungskraft des Publikums arbeite. Das kommt von der Erfahrung auf der Straße."

Auch darüber hinaus prägt sie dieser Minimalismus ihrer früheren Lebensweise. Sie erzählt von einem kleinen, weißen Porzellangefäß im Haus ihres Vaters, der bis zu seinem Tod vor vier Jahren verarmt in New York City lebte. Er war mal Universitätsprofessor gewesen und hatte sich dann als Schauspieler versucht. Zehn, zwölf Dollar lagen meist in diesem weißen Zuckerschälchen – sein Wochenbudget. Nicht zuletzt an seinem Hang zum Alkohol ist ihr Elternhaus zerbrochen. "Ich hatte selbst eine Menge Schwierigkeiten mit Alkohol." Das Reservoir für jeden Auftritt ist – sie selbst. Schwächen und Fehler inklusive. "Wenn es etwas gibt an dir, dass du in Wirklichkeit nicht leiden kannst, versuch es dir in der Performance zunutze zu machen", sagt Peyroux.

Sie ließ den Auftritt in einer britischen Musiktalkshow platzen, die den Ritterschlag als Jazzmusikerin bedeutet hätte, weil sie sich jedes Hineingerede in ihre Songauswahl verbat. Porträtfotos sperrt sie womöglich im letzten Augenblick, weil sie dank Bildbearbeitung perfekt geworden sind: lieber Pickel als ein Photoshop-Zombie.

"Nein", sagt Madeleine Peyroux und schließt ihre grünen Augen für einen Moment, "ich habe kein besonders hartes Leben gehabt. Ich hatte viel Glück. Aber ich habe eine Menge traurige Dinge gesehen, und ich habe eine enge Beziehung zur Melancholie, wenn ich singe. Und weil ich bin, wer ich bin, halte ich es für meine Aufgabe, mich damit auseinanderzusetzen." Nur zu.

CD: "Bare Bones" (Rounder/Universal)

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