Männer, jetzt sind wir dran!
Der Fall Harvey Weinstein markiert eine Zeitenwende. Zum ersten Mal können mächtige Männer nicht mehr sicher sein, dass sie mit sexuellen Übergriffen einfach so davon kommen. Die männlichen Reaktionen darauf schwanken zwischen Hysterie und (ein wenig) neuer Nachdenklichkeit.
Eigentlich wissen sie ja immer alles und das besser. Aber sobald es um Sexismus geht, verwandeln sich deutsche Leitartikler in schlecht gelaunte Fragezeichen: „Sind wir Männer plötzlich alles kleine Weinsteins?“, meckert Jochen-Martin Gutsch im Spiegel: „Der Mann eine einzige sexuelle Belästigung?“ Oder „Warum eigentlich debattieren wir seit Wochen erneut darüber, wie viele Frauen offenbar Gewalt von Männern erfahren?“, fragt ein genervter Bastian Brauns vom Cicero. Und überhaupt: „Kann mir bitte jemand sagen, wie man einen Hashtag einrichtet?“ Denn er, Henryk M. Broder, Lohnpöbler bei der Welt am Sonntag, will auch einmal „#MeToo“ schreien. Lange schon hat er „die Nase voll von Frauen, die sich als Opfer inszenieren, nur weil sie versehentlich als ‚jung und schön‘ bezeichnet wurden“.
Man hat ihnen wieder einmal die Aufmacher und Titelseiten reserviert (die AutorINNEN schreiben meist hinten im Vermischten). Feuilletonchef Adam Soboczynski etwa darf auf Seite 1 der Zeit Millionen Opfer sexueller Gewalt anraunzen: „Wer Vergewaltigungsfälle dazu nutzt, kleine Alltagsrechnungen zu begleichen, verharmlost schwere Straftaten“. Spiegel-Kolumnist Jan Fleischhauer seinerseits warnt: „Vorsicht bei Kerlen, die sich besonders verständnisvoll geben. Wenn es eine Lehre aus dem Weinstein-Skandal gibt, dann, dass man niemandem trauen sollte, weil er sich als Feminist geriert.“
Nun war der notorisch ungehobelte Harvey Weinstein nie als „Feminist“ verschrien und schon gar nicht als „besonders verständnisvoll“. Aber Fleischhauer geht es auch weniger um den. „Wenn man es ernst meint mit der Frage nach der Verantwortung des gesellschaftlichen Umfeldes“, fährt er fort: „dann muss man auch über die Rolle der Frauen reden, die Bescheid wussten, aber lieber stumm blieben.“ Wenn sie dann allerdings laut werden, ist es auch wieder nicht recht. Im Freitag erkennt Arno Frank angesichts von knapp zwei Millionen #MeToo-Einträgen bereits die „autoritären Züge einer Massenbewegung“. Er jedenfalls werde „seine Töchter nicht dazu anhalten, nachträglich auf 140 Zeichen irgendwelche Schikanierungen zu teilen“.
Dabei geht es nicht um „irgendwelche Schikanierungen“, sondern um Macht. Männermacht. Schließlich hört man eher selten, dass eine junge Schauspielerin einen Filmproduzenten ins Badezimmer drängt und ihn zwingt, ihr beim Masturbieren zuzusehen, weil sie sonst nicht in seinem Film auftritt. Oder dass zügellose Praktikantinnen ihren Vorgesetzten in die Hose greifen.
Übrigens ist es auch nie der Praktikant, der seine Chefin belästigt, oder der Aushilfskassierer, der seine Filialleiterin ins Warenlager zieht, um sie zu betatschen. Sexuelle Gewalt folgt meist der Hierarchie von oben nach „unten“. Sie wird in einem Klima genährt, in dem Männer am liebsten unter sich bleiben und als grotesk überrepräsentierte Führungskräfte über Karrieren von Frauen, über Gehälter und Unternehmenskulturen entscheiden. Sexismus ist ihre Waffe, die Frauen auf die hinteren Plätze verbannen und zum Schweigen bringen soll.
Es ist diese hartnäckige Blindheit gegenüber diesem Machtgefälle, diese dröhnende Selbstgewissheit, mit der die Autoren die Sexismus-Debatte am liebsten abräumen würden, die einen so verstört. Dazu der völlige Mangel am Empathie für die Opfer sexueller Gewalt und Belästigung, von denen es – allen Studien zufolge – auch in Deutschland Millionen gibt. Dass da nicht mal einer der Herren Autoren innehält, um sich zu fragen, was womöglich schiefläuft, wenn so viele Frauen so viele Horrorgeschichten zu erzählen haben …
Folgt man Alexander Grau vom Cicero, sind diese allerdings irgendwie schon auch, jedenfalls ein bisschen, also durchaus mitschuld daran, wenn ein Mann sich mal vergisst: „Es ist Ausdruck eines geradezu autistischen Narzissmus, zu glauben, es sei das Recht eines jeden, sich als sexuell hyperaktives und hedonistisches Individuum zu inszenieren, ohne dabei die Schattenseiten dieser entfesselten Libido einzufahren.“ „Am Ende“, ergänzt sein Kollege Bastian Brauns, „ist das auch eine Charakterfrage. Hier gefällt ein freundschaftlicher Klaps auf die Schulter oder ein Kompliment zum Sitz der Hose. Dort ist das schon längst zu viel des Guten.“ Sexismus als „Charakterfrage“ – der Frauen. Es ist ein Aufschrei ganz anderer Art, der hier ertönt. Denn die Einschläge kommen näher. Die „Welle sexualethischer Korrektheit, die puritanische Züge trägt“ (Alexander Grau) überrollt Filmproduzenten, Moderatoren, Politiker, Topjournalisten, Manager. Auf einmal verlieren selbst hochstehende Grapscher und Vergewaltiger ihre Jobs, solidarisieren sich auch männliche Superstars wie Benedict Cumberbatch, Ryan Gosling, Mark Ruffalo oder Leonardo DiCaprio mit den mutigen Schauspielerinnen.
Regisseure und Produzenten wie Paul Feig („Brautalarm“) oder Judd Apatow („Girls“, „Jungfrau (40), männlich, sucht …“) fordern Frauenquoten bei Sendern und Filmstudios und greifen Anwälte an, die sich an die Seite der Täter stellen. Nicht mal auf Til Schweiger („Ich bewundere den Mut der Frauen“) oder Elyas M’Barek („Ich unterstütze alle Feministen dieser Welt“) kann mann sich noch verlassen.
Da gerät etwas ins Rutschen und bei deutschen Kommentatoren regt sich Besorgnis, ja: Mitleid. Allerdings nicht für die belästigten Frauen. „Die Beschuldigten werden beim Namen genannt, einige haben ihre Jobs sofort verloren. Man kann sie alle googeln …“, beweint Andreas Rosenfelder in der Welt am Sonntag das Schicksal der Angeprangerten und attackiert das „24/7 Standgericht“ als neue „Inquisition“. Im Deutschlandfunk warnt der Prominentenanwalt Christian Schertz deutsche Frauen vorsorglich, die Täter-Namen zu ihren Geschichten zu verraten. Für die Beschuldigten seien solche Vorwürfe schließlich „lebenslaufvernichtend“. Von den zerstörten Leben missbrauchter Frauen redet er nicht.
Dabei steht der große Dammbruch in Deutschland noch bevor. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Artikels kursieren die vielen Geschichten über mächtige deutsche Grapscher und Vergewaltiger noch in anonymisierten Versionen. Doch kurz nachdem Harvey Weinstein als Massenvergewaltiger geoutet wurde, kursierte in Berlin eine Liste mit den Namen deutscher Prominenter, für die es noch einmal richtig ungemütlich werden könnte.
So schreibt Carolin Würfel in der Zeit (ein Auszug): „Ihr seid der Verleger, der kein Nein versteht und Frauen ungefragt zur Begrüßung in den Schritt greift. Der Künstler, der Frauen zum Sex zwingt. Der Galerist, der seine Hände nicht bei sich lassen kann. Ihr seid der Journalist, der seine Lippen ungefragt auf Frauenmünder presst. Der Herausgeber, der Mitarbeiterinnen schikaniert, weil sie nicht mit ihm schlafen wollen. Die Architekten, die Frauen mit Alkohol und Drogen abfüllen, um sie dann, wenn sie schon fast bewusstlos sind, gemeinsam durchzuvögeln.“
Wer weiß, ob diese und auch die vielen anderen Geschichten wirklich unerzählt bleiben werden: Die über einen ehemaligen deutschen Außenminister zum Beispiel, der Journalistinnen anbot, „ihr Innenminister“ zu sein. Oder über die im Sande verlaufenen Ermittlungen gegen den mächtigen Medienmann, dessen allerbeste Kontakte von Mann zu Mann deutsche Redaktionen offenbar von der Veröffentlichung ihrer aufschlussreichen Recherchen abhielten.
„Die wenigsten Männer sind Täter“, heißt es in einem Videoclip zum Twitter-Hashtag #HowIWillChange, aber „die meisten Männer schweigen“. Dass sich die Täter darauf nicht mehr verlassen sollten, deutet sich bereits an. In der Süddeutschen schreibt Christian Mayer: „So wie die, sagen immer mehr Männer, wollen wir nicht mehr sein. Und mit Angebern, die ständig ihre Potenz beweisen müssen, mit Möchtegern-Alphamännchen, die Macht brauchen, damit sie sich überlegen fühlen können, wollen wir nichts zu tun haben.“ Die Me-Too-Debatte sei auch eine Chance für die Männer – „Not-Me“ zu sagen. „Auch ich“, schreibt Sebastian Hofer in dem Wiener Magazin Profil „habe mitbekommen, wie Frauen von Männern in ihrem Beruf nicht für voll genommen wurden, und habe nichts dagegen gesagt. Auch ich habe Kolleginnen in Sitzungen unterbrochen, weil ich meine eigene Meinung in dem Moment für sehr viel wichtiger hielt. Das war in erster Linie egoistisch, in zweiter Linie aber eben leider auch sexistisch.“ Für das eigene Verhalten, braucht es keine Seminare oder Nachhilfekurse. „Es ist übrigens für Männer gar nicht so schwierig zu verstehen, dass es eine sehr klare Grenze gibt zwischen Flirt und Übergriff“, schreibt er. „Wem Paragrafen zu weltfremd sind, der kann es aber auch gern mit einer ziemlich deppensicheren Regel versuchen: Nein heißt nein, und nicht: Probier’s nochmal.“
Unter dem Twitter-Hashtag #HowIWillChange, den der australische Journalist Benjamin Law ins Leben gerufen hat, diskutieren Männer, was sie gegen Missbrauch und Frauenverachtung tun können und hinterfragen dabei auch ihr eigenes Verhalten. Vielleicht ist 2017 noch nicht das Jahr, „in dem das alte Männerideal endgültig ausgedient hat“ (Clemens Mayer), aber ein zarter Anfang für einen wirklichen „Change“. Wie der aussehen kann, ist klar:
Alle Männer, die Frauen wirklich achten oder sogar lieben, sollten den Kampf aufnehmen und anfangen, Sexisten öffentlich bloßzustellen. Sie sollten mithelfen, an ihren Arbeitsplätzen endlich die Institutionen und Regelwerke zu schaffen, in denen belästigte und missbrauchte Frauen echte, konkrete Hilfe finden. Und sie sollten anfangen, die 70, 80, 90-prozentige Männerquote aufzulösen, die an der Spitze von Wirtschaft, Politik, Medien und Kultur noch immer das gleichberechtigte Miteinander zwischen den Geschlechtern blockiert. Die Frauen haben sich vorgewagt, gegen alle inneren Ängste und Traumata. Jetzt sind wir dran.
Fred Grimm
arbeitet frei für diverse Magazine, er hat eine Tochter. In der letzten EMMA schrieb er: "Unter Männern" (6/17)