Die Freiheit der anderen
Sie fährt mit den Händen über ihr Kopftuch, prüft, ob es richtig sitzt, und macht ein paar kleine Schritte. Sie stoppt an der Schwelle zum Gerichtssaal, und als sie hinter der Wand aus Glas den Mann sieht, der sie angeblich ermorden lassen wollte, als ihre Blicke sich treffen, als er die Hand hebt und winkt, weint sie - weil er ihr leidtut, weil sie will, dass er in Freiheit lebt.
Er ist ihr Vater.
Der Angeklagte nimmt seine Brille ab, er senkt langsam den Kopf, er versucht, nicht zu weinen. Dann greift er nach dem Revers seines Jacketts und wischt die Tränen aus seinem Gesicht.
Das Landgericht in Limburg an der Lahn ist ein sehr deutscher Ort, ein altes Gebäude in einer alten Stadt voller Geschichte und Tradition. Auf den Fluren hängen vergilbte Bilder von Burgen und Schlössern, Erinnerungen an eine Zeit, in der Familienoberhäupter noch Herrscher waren.
Saal 129 ist an diesem Morgen ein Ort, der von einer anderen Zeit erzählt, von einem anderen Deutschland. Die Zweite Große Strafkammer verhandelt über einen schmächtigen Mann, einen Mann mit zwei Ehefrauen und elf Kindern, der die Ermordung seiner Tochter angeordnet haben soll. Er soll versucht haben, seinen 16-jährigen Sohn zu diesem Mord zu zwingen.
Der Vater hatte die Waffe dazu, und er soll sie auf den Sohn gerichtet und gedroht haben, ihn zu erschießen, wenn er seine Schwester nicht umbringen würde.
Er hatte ein Motiv: Seine Tochter wollte den Cousin nicht heiraten.
Hinter dem schusssicheren Glas, das den Angeklagten von den Zuschauern trennt, wird eine verborgene deutsche Wirklichkeit sichtbar. Zwei Gesellschaften begegnen sich hinter der Scheibe, sie prallen aufeinander, die Werte des deutschen Rechtsstaats und einer kurdischen Familie. Das Glas in Saal 129 ist ein Schaufenster in die Geschichte einer gescheiterten Integration.
Die Geschichte hinter Aktenzeichen 3JS14048/06 beginnt im August 2006. Da schickt der Vater die Tochter nach Batman, in seine kurdische Heimat im Osten der Türkei. Wenige Tage später wird sie dort mit einem Cousin verlobt, den der Vater auswählte. Ein Imam wacht über die Zeremonie. Doch es geschieht etwas Unvorhergesehenes, etwas für den Vater Unvorstellbares: Seine Tochter verliebt sich in einen anderen Cousin und gibt ihrem Verlobten den Ring zurück.
Es ist der Beginn des Dramas von Hadamar, einer Stadt, deren Name klingt, als liege sie irgendwo in der türkischen Provinz. Doch sie liegt mitten in Deutschland, in der Nähe von Limburg.
Zwei Polizisten nehmen hinter der Scheibe in Saal 129 Platz und berichten, was sie nach der Rückkehr der Tochter nach Hadamar erlebten. Eines Nachts werden sie in die Wohnung der Familie gerufen. Der Bruder, der seine Schwester in die Türkei begleitet hatte, erzählt den Polizisten, was geschehen war. Sie bemerken rote Druckstellen an dessen Hals.
Der Vater machte seinen Sohn verantwortlich für das, was die Schwester tat. Er ohrfeigte ihn, würgte ihn, dann schlug er ihn zu Boden und richtete eine Pistole auf ihn. Die Polizisten durchsuchen das Wohnzimmer und finden hinter dem Sofa einen roten Stoffbeutel mit einer Pistole. Im Magazin stecken acht Patronen.
Der Sohn erzählt den Polizisten alles in jener Nacht, doch er will keine Anzeige erstatten. "Ich möchte nicht, dass mein Vater wegen der Sache bestraft wird", sagt er. "Er soll aber auch mal Angst bekommen."
Der Mann auf der Anklagebank sieht nicht aus, als habe er Angst. Er blickt zu den türkischen Männern im Zuschauerraum und lächelt.
Die mächtigste Person im Saal ist eine Frau, und an diesem Morgen soll die Tochter des Angeklagten ihr erzählen, was sie erlebte. Doch wieder geschieht Unvorhergesehenes, etwas für die Richterin Unvorstellbares. Die Tochter sagt nichts, was den Vater belastet.
Sie will nichts gewusst haben von einem Plan, sie mit ihrem Cousin zu verheiraten - obwohl sie wenige Tage nach ihrer Ankunft in der Türkei verlobt wurde und die Einladungen schon gedruckt waren. Sie will nichts gesehen haben von dem, was in der Wohnung mit ihrem Bruder geschah, obwohl sie dort war und nickte, als der Bruder den Polizisten davon erzählte. Sie will nicht versucht haben zu flüchten, obwohl sie ohne Koffer in die Türkei flog und ihrem Vater nichts erzählte.
Sie weiß nur, dass ihr Vater sie liebt.
Die Richterin, eine strenge Frau mit kurzen blonden Haaren, wird mit jedem Widerspruch, in den sich die Tochter verstrickt, ungehaltener. Sie zeigt mit dem Finger auf sie und sagt mit sehr lauter Stimme: "Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie über Ihren Vater nicht aussagen müssen. Aber was Sie sagen, muss wahr sein."
Die Tochter weint.
Es ist der Moment, in dem etwas zerbricht zwischen der Frau hinter dem Richtertisch und der davor. Sie leben in zwei Welten, die nichts verbindet. Die Richterin will die Wahrheit wissen, sie will am Ende dieses Prozesses ein gerechtes Urteil fällen, doch sie sieht nur eine Frau in Angst. Eine Frau, die will, dass ihr Vater in Freiheit lebt, die sie nicht hat.
"Die Freiheit der anderen", Der Spiegel, 12.2.2007