Werden aus Erfurt wirklich Lehren gezogen?
Christian Pfeiffer (SPD), Kriminologe und zum Zeitpunkt des Amoklaufs in Erfurt Justizminister in Niedersachsen, ist der Einzige in Christiansens Sonntagabend-Show, der – statt verschleiernd zu verallgemeinern – eindeutig "Jungen" und "Männer" sagt, wenn er über den 19-jährigen Robert Steinhäuser und seine 16 Opfer spricht. "Wie kommt es eigentlich, dass diese Krise bei Männern so aktuell ist und bei Frauen gar nicht ausbricht?", fragt Pfeiffer. Die Antworten sind nicht schwer zu finden – aber niemand will sie hören.
Ein internationales ForscherInnen-Team unter Leitung von Armin Schmidtke, Professor für Psychiatrie an der Universität Würzburg, hat 143 so genannte "Amokläufe" zwischen 1993 und 2001 untersucht. Ergebnis der Studie: "Bei der Mehrzahl der Täter handelte es sich um jüngere Männer." Viele seien "Waffennarren" oder hätten beruflich mit Waffen zu tun: "28 Prozent waren Soldaten und sieben Prozent Polizisten." Und: "Die Taten wiesen häufig Zeichen von Nachahmung auf."
Im März 2002, kurz vor dem "unfassbaren Erfurter Blutbad", lieferten US-WirkungsforscherInnen die wissenschaftlichen Beweise für etwas, was EMMA in Bezug auf Pornografie & Sexualgewalt seit 25 Jahren schreibt: nämlich für den kausalen Zusammenhang zwischen Gewaltverherrlichung in Bildern und Gewaltanwendung in der Wirklichkeit. Judith Brook vom "Mount Sinai Medical Center" in New York und Jeffrey Johnson vom "New York State Psychiatric Institute" haben seit 1975 über 700 US-Familien beobachtet, um herauszufinden, ob "Kinder und Jugendliche", die Gewalt auf dem Bildschirm konsumieren, als Erwachsene auch real gewalttätig werden. Ergebnis: Ja, sie werden! Vorausgesetzt, sie sind Männer.
Bei weniger als einer Stunde täglichen TV- und Internet-Konsum greift einer von 18 Männern (zwischen 16 und 22 Jahren) andere Menschen tätlich an. Bei einer Stunde bis drei Stunden pro Tag wird schon jeder vierte junge Mann gewalttätig. Bei über drei Stunden ist es bereits fast jeder zweite. Die Mädchen hingegen scheinen "unempfindlich gegen die Einflüsse des Fernsehens" zu sein: "Auch wenn sie als 14-Jährige mehr als drei Stunden täglich vor dem TV-Bildschirm hocken."
Der deutsche Psychoanalytiker Lothar Adler wertete bereits 1999 knapp 200 Amok-Taten aus. Mit dem Resultat, dass die Täter fast ausschließlich junge Männer sind: "eher gut ausgebildet". So wie Robert Steinhäuser in Erfurt, kein "Schulversager" an einer Hauptschule in einem sozialen Brennpunkt, sondern an einem Elite-Gymnasium in einem Nobel-Viertel. Oder wie Dylan Klebold und Eric Harris, die zwei weißen Mittelklasse-Schüler, die im Frühjahr 1999 das Massaker an der "Colombine High School" in Littleton anrichteten. Eine Widerlegung für die häufig von deutschen WissenschaftlerInnen verbreitete Behauptung, männliche Jugendgewalt habe ihre Ursachen in "gesellschaftlicher Randständigkeit".
Doch einerlei, ob randständig oder nicht, männlich sind sie quasi immer. "Der seit Mitte der 80er Jahre zu beobachtende Anstieg der Gewaltkriminalität sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen Ländern ist zu 80 bis 90 Prozent den Männern zuzurechnen." Das schrieb Kriminologe Pfeiffer bereits im Januar 2000 – mehr als zwei Jahre vor der "Erfurter Bluttat" – in einem Beitrag für EMMA: Bei den 18- bis 21-Jährigen liegt der Männer-Anteil an Gewalttätern um das 13fache über den Frauen. Fazit: "18- bis 21-jährige Männer sind die gefährlichste Gruppe, die wir in unserer Bevölkerung überhaupt haben." 96 Prozent aller Gefängnisinsassen unter 25 sind männlich.
Explosiv scheinen die im Kopf gespeicherten Gewaltakte immer dann zu werden, wenn die Kluft zwischen Erwartungen und Realität bei diesen Jungmännern zu groß wird. Und wenn sie und wir dann auch noch das Pech haben, dass niemand etwas merkt – ja, dann kann es im schlimmsten Falle tödlich werden für die anderen.
Auch bei Rechten – die dreimal so häufig von Männern gewählt werden wie von Frauen – ist Gewaltbereitschaft ausschließlich männlich, wie der Sozialpädagogik-Professor Benno Hafeneger und sein Team für "Rechte Jugendcliquen in Hessen" jetzt wieder nachgewiesen haben: "Auffällig ist, dass immer nach rechten Mädchen und Frauen gesucht wird und sie bei genauer Analyse nicht bzw. kaum zu finden sind. Diese Differenzen könnten wichtige Hinweise für eine andere 'Jungenpädagogik' geben."
Für eine Jungenpädagogik, die sich bewusst macht, dass sich der Hass von amoklaufenden Mittelschichtjungen vor allem gegen Frauen richtet, "weil sie inzwischen auch Berufsfelder erobern, die früher Männerbastionen waren", so Christian Pfeiffer. Einen ganz gezielten Frauenmassenmord verübte Marc Lepine, der eine kanadische Mutter und einen marokkanischen Vater hatte. 1989 erschoss er 14 Studentinnen der "École Polytechnique" aus "erklärtem Frauenhass". Grund: Man hatte ihm einen Studienplatz an der Hochschule verweigert. Gewaltforscher Gerhard Hafner bringt das im Fall Steinhäuser so auf den Punkt: "Dass der Erfurter Mörder acht Lehrerinnen ermordet hat, dürfte nicht nur der Tatsache geschuldet sein, dass sich die Lehrerschaft mehrheitlich aus Frauen rekrutiert."
Mindestens drei der acht ermordeten Erfurter Lehrerinnen haben ihre Schutzbefohlenen so tapfer verteidigt wie Lehrer Rainer Heise. Seine Zivil-Courage wird zu Recht gelobt. Anscheinend agierte er eher nach den männlichen Vorbildern aus dem Computer-Spiel "Counter-Strike", in dem es laut der Zeitschrift "PC-Action" um "Strategie, Geschicklichkeit und Reaktionsschnelligkeit" geht – während die Lehrerinnen laut "Bild" strategisch völlig ungeschickt "mit ihren Körpern die Kugeln des Killers abfingen".
In ihrer Juni-Ausgabe versichert "PC-Action", dass die allein in Deutschland "500.000 aktiven Counter-Strike-Spieler" keineswegs ein "Heer von potentiellen Massenmördern" seien wie Robert Steinhäuser, der das virtuelle Baller-Spiel in der Wirklichkeit nachgestellt hat. Gleichzeitig wird im Monatstest ein neuer "Ego-Shooter" namens "Soldier of Fortune 2" empfohlen: "Als Exekutive der Untergrund-Organisation 'Der Shop' reisen Sie um die ganze Welt!", bestückt mit: "einem Messer, 13 Schusswaffen und acht Granaten". Na, dann kann’s ja wieder losgehen.
In EMMA u.a. zum Thema:
Amoklauf in Winnenden (3/2009)
Der Stoff, aus dem die Täter sind, Prof. Pfeiffer (4/2002)
Einsame Cowboys (5/2000)
Schule & Gewalt (5/2000)
Was ist ein richtiger Junge? (5/2000)
Gewaltzone Schule (2/2000)
Jagd auf Lehrerinnen (1/2000)
Wie Jungen zu Killern gemacht werden, Dave Grossman (1/2000)
Gewalt hat ein Geschlecht, Prof. Pfeiffer (1/2000)
Massaker in Montreal: Kein Zufall (2/1990)
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