Grimm: Märchenhafte Dämonisierung

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ExpertInnen sind sich einig: Einen „urdeutschen Mythos“ konnten die Brüder Grimm, wie ursprünglich intendiert, in ihren „Kinder- und Hausmärchen“ nicht bewahren. Märchen haben oft weltweit verbreitete Wurzeln, alleine von „Aschenputtel“ gibt es hunderte Versionen. Eines allerdings erscheint typisch in den von Jacob und Wilhelm Grimm literarisch aufbereiteten Erzählungen: Beim Thema „Frauen“ begeben die Brüder sich auf „nicht ungefährliches Terrain“, wie der Düsseldorfer Erzählforscher Heinz Rölleke schon 1985 feststellte. Elke Liebs formulierte es Jahre später deutlicher: „Einige Kinder und im übrigen nur Frauen sind die bevorzugten Objekte dieser obskuren Begierde: zu überwachen, zu maßregeln, einzusperren, zu strafen, fortzujagen, zu verstümmeln, zu verschenken, zu verkaufen, der Kinder zu berauben, bis aufs Blut zu schinden, zu töten, zu zerstückeln.“

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Als die Grimmsche Erziehungsliteratur auf den Markt kam, lagen die letzten offiziellen Prozesse gegen so genannte „Hexen“ nur wenige Jahrzehnte zurück. Vor diesem Hintergrund ist die These, die Figur der bösen Hexe aus „Hänsel und Gretel“ sei eine Art alptraumhafte „Fortsetzung“ der hartherzigen (Stief)­Mutter, naheliegend. Auffallend ist, dass in der französischen Originalvorlage („Der kleine Däumling“ von Charles Perrault) der Vater seine Kinder aussetzt. Im Wald begegnen sie dann einem „Oger“, einem Menschenfresser, der ebenfalls von ihnen überlistet wird. 

Ein Lieblingsstichwort in der feministischen Sekundärliteratur zum Thema Märchen lautet: „patriarchale Deformationsprozesse“. Forscherinnen gehen davon aus, dass viele Märchen, etwa „Aschenputtel“ oder „Frau Holle“, Relikte einer frühzeitlichen Göttin enthalten, die sich, so Heide Göttner-Abendroth, in drei Generationen manifestierte. Durch Dämonisierung sei nun eine „Negativform“ entstanden, erklärt Liebs: „Betrachtet man die Märchen in ihrer Gesamtheit, so wird deutlich, wie der Akzent der Dämonisierung durch alle Generationen wandert. Hexen, Stiefmütter und Stiefschwestern werden wechselweise benutzt, um ein Bewusstsein weiblicher Rivalität zu etablieren und das alte Wissen um die Unität der Generationen in jeder Repräsentantin zu untergraben.“ Von einer triadischen Göttin bliebe meist nur ein „mühsam rehabilitiertes Mädchen“ übrig, das in den Besitz des jeweiligen Mannes übergehe.

Um patriarchalen Deformierungen in den Grimm’schen Klassikern auf die Spur zu kommen, genügt mitunter aber auch schon ein Blick in die handschriftlichen Urfassungen von 1810. Die hatten Jacob und Wilhelm dem Dichter Clemens Brentano geschickt – jedoch nicht ohne vorher noch Abschriften zu erstellen, die, so Rölleke, den „Grundstein für ihre eigenen Publikationen“ bildeten. Nach der Auswertung für die Drucklegung wurden die Urschriften von den Brüdern verbrannt. Erhalten blieb nur die besagte Urhandschrift aus dem Nachlass Brentanos. Sie wurde nach dem Ersten Weltkrieg in der Bibliothek eines Trappistenklosters im Elsaß entdeckt.

Hier findet sich auch der Hinweis „cf. Perrault petit Poucet.“, den Jacob Grimm zum Märchen von „Hänsel und Gretel“ notierte, das dort noch unter dem Titel „Das Brüderchen und das Schwesterchen“ verzeichnet war. Doch um zu begreifen, wie es um das Grimm’sche Frauenbild bestellt war, ist der Text von „Schneewittchen“ ungleich lohnender. Zwar wurde sie in der Urfassung auch im Wald ausgesetzt, und das sogar von ihrer leiblichen Mutter. Aber Begriffe wie „Neid“, „Hass“ und „Hochmut“ sucht man an entsprechender Stelle vergeblich. Für die Zwerge musste Schneewittchen ursprünglich nur kochen. Ihre übrige Hausarbeit machten die fleißigen Waldbewohner noch selber. Auch musste der siebte Zwerg nach der Entdeckung der blassen Jungfrau noch nicht allstündlich das Bett wechseln, sondern konnte die ganze Nacht beim sechsten Zwerg verbringen. Und einen nekrophilen Prinzen gab es auch noch nicht.

Dass bei den Grimm’schen Märchen die Heldinnen besonders viel arbeiten müssen, fand in den 80er Jahren Maria Tatar heraus. Jacob und Wilhelm Grimm hatten „fast jede Gelegenheit“ ergriffen, um die „Tugend der harten Arbeit“ zu betonen. Bei Frauen. Männliche Helden dagegen durften oft auf Zauber oder Helfer vertrauen. Darüber hinaus mussten sich Protagonistinnen häufig einem „Prozess von Erniedrigung und Niederlagen“ unterziehen, der mit einem „schnellen sozialen Aufstieg durch Heirat“ endete, gleichzeitig aber „den Verlust von Stolz und den Verzicht auf Macht“ bedeutete. 

Im Gegensatz zu den (Stief)Müttern, die längst wissenschaftlich erforscht sind, erscheinen die Väter in den Grimm’schen Märchen oft eher positiv. Zu den wenigen Ausnahmen zählt das Märchen „Allerleirauh“. Hier wird das Thema Inzest offen angesprochen. Dabei ist es aber nicht weniger frauenfeindlich, im Gegenteil. Laut Tatar wird das Thema nämlich „an seine Grenze getrieben“, will heißen: Die Möglichkeit, dass die Protagonistin am Ende „vergnügt bis an ihren Tod“ mit ihrem Vater als Ehepaar zusammenlebt, könne nicht vollständig ausgeschlossen werden.

Die Geschichte handelt von einem König, der seiner Frau am Sterbebett verspricht, sich nach ihrem Tod nur mit einer Frau zu vermählen, die ebenso schön ist wie sie. Seine Boten suchen „in der ganzen Welt“, aber vergeblich. Schließlich entdeckt er in seiner Tochter das Ebenbild seiner verstorbenen Frau und will sie zu aller Entsetzen heiraten. Die Königstochter bittet um drei außergewöhnliche Kleider und einen Mantel aus tausenderlei verschiedenen Pelzarten – in der Hoffnung, die Bedingungen seien unerfüllbar. Doch der König lässt alles anfertigen und verlangt danach erneut die Hochzeit. Daraufhin flieht die Tochter in der Nacht und schläft gegen Morgen in einem hohlen Baum ein.

Sie wird gefunden, und zwar von „dem König, dem dieser Wald gehörte“. An dieser Stelle nun scheiden sich die wissenschaftlichen Geister. Es ist nämlich nicht klar, ob es ein anderer König ist, oder der König, von dem bisher die Rede war, also ihr Vater. In der weiteren Handlung kommt die Protagonistin, die nun „Allerleirauh“ genannt wird, „heim in das königliche Schloß“, wo es in einem „Ställchen“ unter der Treppe hausen und in der Küche helfen darf. Nach einiger Zeit nimmt sie unerkannt an drei Festen in den drei Kleidern teil und kocht dem König jeweils danach eine Suppe. Übrigens so gut, dass sie ganz nebenbei von dem Koch als Hexe beschimpft wird. Schließlich erkennt der König den Zusammenhang zwischen der schönen Ballbesucherin und der begabten Küchenhilfe und es wird Hochzeit gefeiert.

Dass die Brüder Grimm das Thema Inzest bewusst eingearbeitet haben, zeigt ein Blick in die Urfassung von 1810. Hier wird die Heldin nämlich von ihrer Stiefmutter vertrieben – ein fremder Herr hatte ihr und nicht der leiblichen Tochter einen Ring zum Liebeszeichen verehrt. Sie flieht an dessen Hof, wo sie unerkannt als Schuhputzerin arbeitet und gibt sich durch den Ring, den sie unter ein Stück Weißbrot zur Suppe legt, zu erkennen.

In ihrer Studienarbeit „Allerleirauh – Ein Märchen in unterschiedlichen Fassungen“ weist Susanne Krebs darauf hin, dass die Grimm’sche Erstfassung von 1812 sogar noch frauenfeindlicher war. Demnach musste Allerleirauh dem König, bevor er zu Bett ging, zusätzlich noch die Stiefel ausziehen – was in Märchen auch als Metapher für Geschlechtsverkehr gedeutet werden könne. Nachdem sie ihm den Stiefel ausgezogen hatte, warf der König ihn ihr auch noch an den Kopf. Noch in der letzten Fassung charakterisiert sie sich selbst: „Ich bin zu nichts gut, als dass mir die Stiefel um den Kopf geworfen werden.“ Copyright Gebrüder Grimm.

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