Mäuse haben Charakter

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Sie sehen sich ähnlich, als seien sie Klone: Das Fell stets schneeweiß, die Ohren papierzart, rote Albinoaugen, gleiche Körpergröße. Wer einen Blick in ein Gehege mit Labormäusen wirft, dürfte kaum Unterschiede zwischen den einzelnen Individuen bemerken. Die starke Ähnlichkeit ist Absicht; die Züchter, die Versuchslabore mit Tieren beliefern, erreichen die Gleichförmigkeit durch massive Inzucht über viele Generationen hinweg.

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Dass die Tiere sich äußerlich ähneln wie eineiige Mehrlinge, ist dabei nur ein Nebeneffekt, in erster Linie sollen ihre Körper- und Gehirnfunktionen sich so stark gleichen, dass man mit ihnen Tests durchführen kann, ohne das Risiko, dass ihre Reaktionen individuell ausfallen und zu stark von einem Mittelwert abweichen. Dafür wird auch die Umgebung, in der sie aufwachsen und leben, standardisiert. Im Ergebnis sollen sich die Forscher darauf verlassen können, mit „uniformen“ Tieren zu arbeiten.

Soweit zumindest die Theorie. In der Praxis wissen Forscher seit langem, dass Versuchstiere trotz aller Bemühungen um engste Verwandtschaft und größtmögliche Ähnlichkeit noch immer ein oft verblüffend individuelles Verhalten zeigen. „Man kann einen wunderbar durchdachten Versuchsaufbau mit bestmöglich kontrollierten Einflussfaktoren haben, und das Tier wird trotzdem tun, was ihm verdammt noch mal gefällt“, schrieb der amerikanische Neurobiologe Paul Grobstein schon vor mehr als zwanzig Jahren in einem Aufsatz für ein Fachbuch.

„Wer in einer Tiergruppe heute der Ängstlichste oder Mutigste ist, der ist es auch in ein paar Wochen noch“, erklärt der Verhaltensbiologe Norbert Sachser von der Uni Münster. Tiere stellen ihre individuelle Persönlichkeit nicht nur über längere Zeiträume, sondern auch über verschiedene Kontexte hinweg unter Beweis. Die Tiere beispielsweise, die sich besonders schnell trauen, neues Terrain zu erkunden, sind auch besonders aufgeschlossen und aktiv, wenn sie fremden Artgenossen begegnen. Das gilt für die stark standardisierten Tiergruppen in Labors – aber selbstverständlich erst recht für Wildtiere.

„Das Spannende ist, dass man diese Individualität nicht nur beim hochentwickelten Schimpansen findet, sondern auch bei Meisen, Stichlingen, sogar beim Blattkäfer“, sagt Sachser. „Wir haben einen uniformen Typ erwartet – aber jetzt finden wir Persönlichkeiten.“ Sachser selbst konnte unter anderem bei Meerschweinchen, deren Verhalten er seit Jahrzehnten an seinem Institut in Münster erforscht, individuelle Persönlichkeitsprofile finden. Wer sexuell besonders aktiv war, sich beim ersten Versuch den Weibchen aufdringlich genähert hatte, tat dies auch acht Wochen später wieder – während die Schüchternen sich in ihrer Schüchternheit selbst treu blieben und weiter Abstand hielten.

Die Publikationen, die sich mit der Individualität von Tieren befassen, stammen in der überwiegenden Mehrzahl aus dem vergangenen Jahrzehnt; das Thema ist neu in der Forschung. Diese neuen Studien nennen ihren Forschungsgegenstand oft „Temperamente“ oder auch „Verhaltenssyndrome“. Ob man bei Tieren von „Persönlichkeit“ sprechen sollte im Sinne der Persönlichkeit von Menschen, ist noch umstritten. Denn ob die „Big Five“, mit denen man die Persönlichkeit von Menschen auf fünf Skalen erfasst – Extraversion, emotionale Stabilität, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Offenheit für Erfahrungen –, sich auch bei Tieren finden lassen, ist noch offen.

Eine zentrale Frage, mit der die Forschung beginnt, sich auseinanderzusetzen, ist, wie die „Tier-Persönlichkeiten“ überhaupt zustande kommen. Heute geht man von einer Interaktion zwischen Veranlagung und Lebensgeschichte aus, die das Verhalten gemeinsam beeinflussen – ganz wie beim Menschen. „In meinen Vorlesungen hieß es noch: Entscheidend sind die ersten drei Lebensjahre eines Menschen, danach ändert sich nichts mehr“, erinnert sich Sachser, der in den siebziger Jahren Biologie studiert hat. „Und heute fragt man: Was passierte in der Schwangerschaft? Was war in der Adoleszenz?“

Mit Untersuchungen an Meerschweinchen konnten er und Sylvia Kaiser beispielsweise zeigen, dass Mütter, die während der Schwangerschaft Stress ausgesetzt wurden, besonders aktive, männlich wirkende Töchter bekamen – schon die vorgeburtliche Phase kann also prägend für das Leben eines Tieres sein.

Und auch bei Tieren steht fest, dass nach der frühen Kindheit nicht alles beschlossene Sache ist. „Auch die ‚Tierpersönlichkeit‘ kann man nur verstehen, wenn man Lebensgeschichten und Lebenserfahrungen mitberücksichtigt“, erklärt Sachser. Die neuen Erkenntnisse über die Individualität von Tieren berühren auch Fragen der Humanmedizin und Psychologie.

Schließlich gibt es auch Studien mit Menschen, die belegen, dass schwere Schicksale, etwa eine traumatische Kindheit, sich ganz unterschiedlich auswirken können: Dass manche Menschen offenbar „resilienter“ sind als andere und sich trotz belastender Erfahrungen später unerwartet positiv entwickeln.

Auch für den praktischen Umgang mit Tieren wird das, was gerade erst seinen Platz in der Wissenschaft findet, wahrscheinlich schon bald entscheidend werden. Zum Beispiel für Auswilderungsprogramme bedrohter Tierarten, die in Menschenhand aufgezogen werden. „Bisher hat man für die Auswilderung Individuen ausgewählt, die besonders kräftig und gesund waren – und relativ große Verluste in Kauf genommen“, sagt Verhaltensbiologe Sachser. „Jetzt gibt es erste Forschungsarbeiten, die beschreiben, dass man sich vor dem Auswildern die Tierpersönlichkeit angesehen hat.“

Auch im privaten Umgang mit Tieren wird ein Umdenken stattfinden. „Zukünftige Verhaltensforschung wird das Individuum, die Individualität immer im Blick haben“, ist sich Norbert Sachser sicher. „Das wird auch unseren Blick auf Tiere verändern.“
CHRISTINA HUCKLENBROICH

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