Magdalena & die Vögel

Magdalena Heinroth mit drei Dohlen. - Foto: Klaus Nigge/ Nachlass Oskar Heinroth/Staatsbibliothek zu Berlin
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Edda, die Eiderente, kam 1928 in einem D-Zug von Stockholm nach Berlin zur Welt. Als sie, ausgebrütet unter einem Wärmekissen, im Schlafwagen ihre Eierschale zerpickte, erblickte das wollige, schwarze Küken als erstes ein Menschenweibchen: Magdalena Heinroth. Folge: Noch als erwachsene Ente liebte es Edda, „sich von meiner Frau auf den Schoß nehmen zu lassen und sich mit Kopf und Hals anzukuscheln“, wird Magdalenas Ehemann Oskar Heinroth später schreiben.

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Mit seinen vier Geschwistern lebte das Entenküken, das aus dem schwedischen Oxelö-Sund stammte, von nun an in der Wohnung der Heinroths in Berlin. Genauer gesagt: Die fünf Entenkinder pendelten zwischen Balkon und Badewanne. „Da sie unbegrenzt zahm waren, liefen sie uns durchs Zimmer nach, kamen über einen Flur bis ins Badezimmer mit und ließen sich dort in die gefüllte Wanne setzen, wo sie sich schwimmend und tauchend austobten.“

Es war eine sehr spezielle Wohngemeinschaft, die sich da in der Budapester Straße am Tiergarten zusammengefunden hatte. Außer Eiderente Edda lebten dort viele weitere Vögel, vom Auerhuhn bis zur Zwergrohrdommel. Über 1.000 Vogelkinder aus 250 Vogelarten zogen die Heinroths zwischen 1904 und 1932 in ihrer Wohnung groß, jedes Jahr rund 30, und beobachteten sie von Ei bis Balz. Und das lange vor Konrad Lorenz.

Ein Vierteljahrhundert vor Lorenz’ berühmtem Gänsekind Martina schlüpfte in der Budapester Straße am 27. April 1924 schon Martin, der Ganter. Die Heinroths stellten nicht nur fest, dass es ratsam war, neben der Badewanne stehen zu bleiben, wenn er schwamm, weil er sonst beim Gründeln den Gummistöpsel herauszuziehen pflegte und bald auf dem Trockenen saß. Sie bemerkten auch, dass Gänseküken wie Martin „einen ganz gezielt ansehen, um sich das Bild genau einzuprägen“. Wenn man sich dann „auch nur kurze Zeit mit ihnen beschäftigt, so wird man sie so schnell nicht wieder los: Sie piepen jämmerlich, wenn man sich entfernt, und laufen einem sehr bald getreulich nach.“ Was Konrad Lorenz 1949 als „Prägung“ beschreiben sollte, hatten die Heinroths also Jahrzehnte vor ihm entdeckt.

Doch während Lorenz als „Vater der Verhaltensforschung“ in die Geschichte der Tierpsychologie einging, sind die Heinroths heute vergessen – beziehungsweise waren es, bis ein Biologe und eine Bibliothekswissenschaftlerin das Forscherpaar jetzt aus der Versenkung holten. Karl Schulze-Hagen und Gabriele Kaiser schildern in ihrem Buch „Die Vogel-WG“ nicht nur die Skurrilitäten des human-ornithologischen Zusammenlebens: „Eine Nachtschwalbe brütet auf dem Teppich, ein Kleinspecht hackt Löcher in den Schrank, zwei Baumläufer klettern am Hosenbein des Hausherrn hoch. Ein Mauersegler kreist geschickt durchs Wohnzimmer, der Birkhahn balzt auf dem Balkon, und der Waldkauz versucht zu jeder vollen Stunde, den Kuckuck aus der Schwarzwalduhr zu erwischen.“

Den beiden AutorInnen ist auch zu verdanken, dass wir nun (wieder) wissen: Die Verhaltensforschung hat nicht nur zwei Väter, sondern auch eine Mutter: Magdalena Heinroth.

Die 1883 in Berlin geborene Tochter eines Ingenieurs hätte beinahe das Schicksal so vieler begabter junger Frauen in jener Zeit ereilt. Obwohl die tierbegeisterte Magdalena schon als Zwölfjährige Kleintierskelette präparierte und naturkundlichen Zeichenunterricht nahm, verbot ihr der Vater, Abitur zu machen und zu studieren. Doch immerhin vermittelte er seiner Tochter den Kontakt zum Direktor des Zoologischen Museums, wo Magdalena das Präparieren von der Pike auf lernen wollte. Dort begegnete die 16-Jährige dem zwölf Jahre älteren Oskar Heinroth. Und sie scheint das Glück gehabt zu haben, dass der studierte Mediziner und Zoologe nicht nur ihre Leidenschaft für die Tierforschung teilte – zur Verlobung schenkte Oskar Magdalena keinen Ring, sondern einen Vogel: eine Mönchsgrasmücke. Er respektierte Magdalena als gleichberechtigte Arbeitsgefährtin, was damals keineswegs selbstverständlich war. Magdalena Heinroth stand nicht als „Gehilfin“ des Dr. Heinroth im Schatten ihres Mannes. Obwohl sie formell keine Ausbildung hatte, hielt sie allein oder mit ihm gemeinsam Vorträge bei den Tagungen der Deutschen Ornithologischen Gesellschaft und firmierte als Co-Autorin einiger seiner Bücher, und das auch bei ihrem gemeinsamen Lebenswerk: „Die Vögel Mitteleuropas“.

Das vierbändige Werk, dessen erster Band 1924 erschien, war nicht nur wegen seiner 3.000 Vogel-Porträts eine Sensation, sondern auch, weil es auf seinen 938 Seiten die Vögel auf eine bisher nie dagewesene Weise als Persönlichkeiten beschrieb. Zum Beispiel Spatz, den Haussperling, der stets am Esstisch mitaß und bei den Mahlzeiten Pralinen und Marzipan bevorzugte. Oder das Braunkehlchen, das jedes Mal in helle Aufregung geriet, sobald es Pantoffeln erblickte. Pummel, das Uhu-Weibchen, unternahm Nestbau-Versuche in Magdalenas Rock, sobald diese sich hinhockte. Esau, die Wasserralle, kuschelte sich gern auf Oskars Brust, wenn dieser auf dem Sofa lag. Allerdings kam es ab Ende März regelmäßig zu peinlichen Situationen, denn dann gab Esau im Balzmodus ein „tiefes Grunzen“ von sich, das „deutlich nach Flatulenz klang.“ Mancher Besucher der Heinroths errötete irritiert.

Die Heinroths hielten nichts von einer „Vermenschlichung“ ihrer Mitbewohner. Aber sie wollten sich „einen Begriff davon machen, wie es im Kopf eines Vogels aussieht“, erklärten die beiden ForscherInnen im Vorwort ihres Hauptwerkes. Mehr noch: Sie wollten die Vögel „in ihrem Seelenleben“ beobachten. In Anbetracht der Tatsache, dass Tiere in Deutschland vor dem Gesetz erst seit 1990 nicht mehr als „Sache“, sondern als „Mitgeschöpfe“ gelten, war der Blick der Heinroths auf ihre MitbewohnerInnen also höchst avantgardistisch.

Die Heinroths 1925 beim gemeinsamen Spaziergang mit ihren Kranichen. Foto: Oskar Heinroth/Knesebeck Verlag
Die Heinroths 1925 beim gemeinsamen Spaziergang mit ihren Kranichen. Foto: Oskar Heinroth/Knesebeck Verlag

Das Werk „Die Vögel Mitteleuropas“ gilt heute als Meilenstein der frühen Verhaltensforschung. „Hier werden uns die Vögel in einem Licht gezeigt, wie wir sie bisher noch nie gesehen hatten“, jubelte der Ornithologe Erwin Stresemann in den Ornithologischen Monatsberichten. „Der unschätzbare Wert dieses Werkes liegt in der Anregung, die die Beobachtung der Vögel in neue Bahnen leiten wird.“ Und der damals 21-jährige Konrad Lorenz, der mit Oskar Heinroth korrespondierte, schrieb bewundernd an seinen Mentor: „Sind Sie sich im Klaren, Herr Doktor, dass Sie eigentlich der Begründer einer Wissenschaft sind, nämlich der Tierpsychologie als einem Zweig der Psychologie?“

Dabei war gar nicht der „Herr Doktor“ die treibende Kraft hinter dem bahnbrechenden Projekt gewesen. Während sich Oskar Heinroth als Angestellter des Berliner Zoos vor allem um den Zoologischen Garten kümmern musste, darunter den Aufbau des Aquariums, widmete sich Magdalena Heinroth ganz der Vogelaufzucht und Vogelforschung. Der kühne Plan, alle mitteleuropäischen Vogelarten selber aufzuziehen und die Ergebnisse in einem monumentalen Band zusammenzustellen, stammte von ihr. „Man kann wohl mit Recht sagen, dass wir in erster Linie ihr das Zustandekommen des herrlichen Werkes ‚Die Vögel Mitteleuropas‘ zu verdanken haben“, schrieb 1932 das Journal für Ornithologie.

Schon 1910 hatte Magdalena Heinroth auf dem 5. Internationalen Ornithologenkongress in ihrem Vortrag „Zimmerbeobachtungen an selten gehaltenen europäischen Vögeln“ ihr Konzept erläutert:

„Bekanntlich macht es große Schwierigkeiten, die Lebensgewohnheiten kleiner Vögel im Freien genauer zu erforschen, zum Beispiel das Verhalten, die Gewichtszunahme oder das tägliche Federwachstum junger Vögel. Deshalb tun wir gut daran, die Tiere im Zimmer zu pflegen, mit ihnen zusammen und für sie zu leben und sie dauernd zu beobachten.“

Es war Magdalena Heinroth, die wusste, wann welcher ihrer Mitbewohner mit Weiß- oder Mehlwürmern, mit Körnern oder – teils von ihr vorgekauten – Fischen gefüttert werden musste. „Fische müssen dreimal am Tag auf fünf verschiedene Arten angerichtet werden“, schrieb sie lakonisch. Sie brachte die frisch geschlüpften Küken mit Engelsgeduld dazu, ihre Schnäbel aufzusperren, fertigte Zeichnungen an und schrieb über die besonders delikate Aufzucht der Insektenfresser in der Fachzeitschrift Gefiederte Welt. In Stoßzeiten kam sie mit drei Stunden Schlaf aus. „Vor allem Magdalenas Arbeitspensum in all den Jahren ist kaum zu ermessen“, schreiben die „Vogel-WG“-AutorInnen.

Umso bedauerlicher, dass Magdalena Heinroth das Erscheinen des vierten und letzten Bandes der „Vögel Mitteleuropas“ nicht mehr erlebte. „Gott sei Dank ist unsere Arbeit endlich abgeschlossen. Ich freue mich, in diesem Jahr wieder im Sommer eine Ferienreise machen zu können“, schrieb sie im Frühjahr 1932 an einen Bekannten. Im August reiste sie zu Freunden ins Donaudelta. Dort wurde sie mit einem Darmverschluss ins Krankenhaus eingeliefert. Auch eine Notoperation konnte sie nicht retten. Magdalena Heinroth starb am 15. August 1932.

Seine Frau, schreibt Oskar Heinroth, im Nachwort der „Vögel Mitteleuropas“, sei „die Seele der Aufzuchten“ gewesen. Und Deutschlands erste Tier-Verhaltensforscherin.

CHANTAL LOUIS

PS Am 23. November 1943 wurde das Aquarium des Zoos und damit auch die Wohnung der Heinroths, die über dem Aquarium lag, bei einem Bombenangriff zerstört. Der Keller, in dem die Heinroths ihre Aufzeichnungen und Fotoplatten lagerten, wurde mehrfach geplündert. Dass wenigstens ein Teil davon heute in der Berliner Staatsbibliothek lagert, ist einer Frau zu verdanken: Katharina Heinroth, Oskars zweiter Ehefrau. Die 1897 geborene promovierte Zoologin rettete die Unterlagen. Auch Katharina widmete sich der Tierpsychologie und war davon überzeugt, dass Tiere „Persönlichkeiten“ sind. Sie führte in der Fachwelt harte Auseinandersetzungen um diese Auffassung. 1945 wurde Katharina Heinroth die Leiterin des Berliner Zoos und damit die erste Zoodirektorin der Welt.

WEITERLESEN: Karl Schulze-Hagen/ Gabriele Kaiser: Die Vogel-WG. Die Heinroths, ihre 1000 Vögel und die Anfänge der Verhaltensvorschung (Knesebeck) + Katharina Heinroth: Mit Faltern begann’s. Mein Leben mit Tieren in Breslau, München und Berlin (antiquarisch)

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