Mama, hab keine Angst

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Herr Professor Hüther, was tun wir unseren Kindern an, wenn wir vor lauter Sorge um sie fast jeden ihrer Schritte überwachen und ihre Freizeit mit Kursen verplanen, damit sie fit sind für die Zukunft?
Gerald Hüther: Ich verstehe, dass Mütter das Beste für ihr Kind wollen. Der Wunsch, ihm möge nichts zustoßen ist genauso berechtigt wie der, dass es zukunftsfähig wird. Die Frage ist nur: Woher kommen diese Sorgen und was können Mütter tun, damit sie verschwinden? Angst entsteht immer aus einem Mangel an Vertrauen. Ich glaube, dass viele Frauen heute zu wenig Vertrauen in ihre Fähigkeiten als Mutter haben. Sie stecken sich ein Ziel, an dem sie scheitern müssen: Allein oder mit dem Vater für das Gedeihen des Nachwuchses zu sorgen. Das ist nicht möglich! Ein Elternpaar oder gar eine Alleinerziehende können das reichhaltige Spektrum an Erfahrungen, das ein Kind benötigt, um gut aufzuwachsen, niemals alleine bieten. Ein Sprichwort in Afrika lautet: Man braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. Das ist sehr wahr.

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Was können Mütter also tun?
Sie sollten sich selbst entlasten und ihr Kind stärken, indem sie sich möglichst viele Menschen in der Familie, im Freundeskreis und in der Nachbarschaft suchen, auf die sie sich verlassen können und denen sie das Kind anvertrauen. Denn damit geben sie ihm nicht nur die Chance, Mamas Aufsicht zu entkommen, ohne dass sie sich sorgen müssen, sondern sie machen es gleichzeitig fit für die Zukunft. 

Einfach schon, indem sie das Kind mit den unterschiedlichsten Menschen zusammenbringen? Aber was ist mit all den schönen Förderkursen?
Mein Rat an Frauen, die meinen, ihre Kinder würden ohne solche Programme den Anschluss verpassen, lautet: Überlegen Sie sich, was die Zukunftsqualifikationen sind, auf die es wirklich ankommt. 

Kinder brauchen Herausforderungen. Ein Kind, das nie hingefallen ist, lernt nie aufzustehen.

Und welche sind das? 
Vor allem die Fähigkeit, mit sehr unterschiedlichen Situationen und Menschen umgehen zu können. Die brauchen Kinder in einer Welt, die schon lange nicht mehr so überschaubar ist, wie im vorigen Jahrhundert. Deshalb sollte man sie darin unterstützen, so offen und beziehungs­fähig wie möglich zu sein, und ihre angeborene Neugier und Entdeckerfreude zu behalten. Denn nur dann können sie ­anderen Menschen offen begegnen, und deren Wissen und Erfahrungen für sich nutzen. Dabei helfen Kurse wenig, denn Kinder erschließen sich die Welt nicht so sehr aus Anleitungen von Erwachsenen, sondern vor allem durch die direkte ­Beziehung zu anderen. Auch die reine ­Wissensaneignung, wie sie in der Schule betrieben wird, überschätzen viele Eltern. Es ist erschreckend aber durch Studien belegt, dass Jugendliche sich zwei Jahre nach ihrem Abschluss nur noch an etwa fünf Prozent des Lehrstoffes erinnern. Ein Einser-Abitur macht also noch lange nicht fit für die Zukunft. Vielleicht eher im Gegenteil. Die Zeit, die ein Kind darin investiert hat, fehlte ihm eventuell, um etwas zu erleben.

Lebenserfahrung ist die beste Grundausstattung für eine gute Zukunft?
Genau, und die bekommt man nur, wenn man das Unbekannte selbst erkunden darf. 

Aber ist es nicht auch verständlich, dass Mütter ihre Kinder nicht gern auf eigene Faust losschicken?
Ja, natürlich ist das verständlich. Viele Mütter haben nicht zuletzt aufgrund von Medienberichten Angst. Dabei ist seit den 1950er Jahren die Anzahl pädophiler Übergriffe drastisch zurückgegangen. Und nur sehr wenige Kinder werden durch ­Zeckenbisse krank. Deshalb ist es so wichtig, Mütter zu stärken und ihnen klarzumachen, worauf es ankommt. Und was die wahre Gefahr ist.

Nämlich?
Das Kind vor lauter Sorge nicht in die Welt hinaus zu lassen. Man muss sich in frühen Jahren als kompetenter Gestalter seines Lebens fühlen, um zu dem Menschen zu werden, der in einem steckt. Dazu braucht jeder Herausforderungen. Ein Kind, das nie hingefallen ist, wird auch nie lernen, aufzustehen. Die Auf­gabe der Eltern besteht darin, aufzupassen, dass es dabei nicht zu schweren Verletzungen kommt. Aber wenn man die Kleinen daran hindert sich zu beweisen, dann führt das zwangsläufig dazu, dass sie zu Menschen heranwachsen, die keine Probleme lösen können. Und das ist das Schlimmste, was man sich vorstellen kann! Auch eine sehr besorgte Mutter möchte ihr Kind doch nicht zu Hause haben, bis es 35 Jahre alt ist, weil es nicht gelernt hat, sich im Leben zurechtzufinden. Auch sie wird nicht riskieren wollen, dass ihre Tochter oder ihr Sohn später etwa eine Essstörung entwickelt, weil Probleme zu unüberwindbaren Hindernissen werden. 

Kinder sollten zu Menschen heranwachsen, die später ihr Leben und ihr Glück selber
gestalten können.

Doch wie können Mütter es schaffen, die Vorteile des Loslassens zu erkennen?
Sie sollten sich fragen, was die wichtigsten Ressourcen sind, aus denen sie ihr Vertrauen schöpfen: Es sind die Erfahrungen, bei denen sie in der Lage waren, schwierige Situationen alleine zu meistern. Oder sich selbstständig Hilfe zu organisieren. Leben lernt man nicht im Kinderzimmer, nicht in Kursen, nicht vorm Fernseher und nicht am Computer, sonder nur draußen in der Welt. 

In den Terminplänen sehr vieler Kinder fehlt aber einfach die Zeit, einen ganzen Nachmittag zum Beispiel mit ein paar Kumpels in den Wald zu gehen und ­Staudämme am Bach zu bauen oder auf Bäume zu klettern.
Lassen Sie mich als Hirnforscher eines klarstellen: Das Spiel ist die allerwichtigste Tätigkeit, die ein Kind ausüben kann! Dafür muss es Zeit haben. Denn nur im freien, nicht von Eltern oder anderen ­Erwachsenen bestimmten und nicht zielgerichteten Spiel entdecken Kinder ihre Möglichkeiten. Darin erkunden sie, was man alles machen kann – zuerst mit dem großen Zeh, dann mit den Händen, später mit den Dingen der Welt und mit Freunden. Wenn man kleine Menschen daran hindert, diese Entdeckungsreise ­anzutreten, dann führt das dazu, dass sie zwar Fähigkeiten erwerben, sich aber nicht in ihren Möglichkeitsraum hineinbewegen. Sie werden dann abgerichtet auf das, was uns Erwachsenen wichtig ist, aber sie haben sich nicht selbst kennen ­gelernt. Die wissen gar nicht, wer sie sind und was sie alles können, weil sie nicht genug Zeit hatten, es auszuprobieren. Ich rate Eltern deshalb, mal zum Schatzsucher zu werden.

Welche Schätze gibt es denn zu bergen?
Das merken die meisten schnell, wenn sie mit einer kleinen Gruppe Kinder in den Wald gehen, sich auf einen Baumstamm setzen und einfach beobachten. Denn im freien Spiel in der Natur, diesem ungeordneten Raum, zeigen Kinder ihre Talente und Begabungen. Da sehen Eltern plötzlich die Geschicklichkeit, Ausdauer und Frustrationstoleranz ihrer Tochter oder ihres Sohnes, wenn der Staudamm das zehnte Mal einstürzt und wieder aufgebaut wird. Und vielleicht wird manchem dabei bewusst, dass wir Erwachsenen in dem Bemühen, den Alltag unserer Kinder so zielorientiert und behütet wie möglich zu organisieren, etwas übersehen haben: Dass sie dabei die Möglichkeit ­verlieren, ihre Begabungen zu entfalten und zu Menschen heranzuwachsen, die ihr Leben und ihr Glück selbst gestalten können. Das sollte unsere größte Sorge sein. 

Mehr zum Thema: Gerald Hüther hat sein neues Buch  „Wie Kinder heute wachsen“, gemeinsam mit dem Kinderarzt Herbert Renz-Polster geschrieben (Beltz-Verlag). Die Abbildungen ist von der Künstlerin Annegret ­Soltau: "Im Gleichgewicht“ (Fotoradierung). Aktuelle Ausstellungen von Soltau: im Bremer Modersohn-Museum und im Stuttgarter Galeriehaus. – Jüngst ­erschien die ­Biografie: „Annegret Soltau: Ich war total suchend“, von Baldur Greiner.

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