Manchester: Das fatale Schweigen
„Wir haben keine Angst!“ stand auf einem der vielen Schilder, die an diesem Sonntag auf dem Benefiz-Konzert „One love Manchester“ im Publikum in die Höhe gehalten wurden. 50.000 Menschen waren gekommen, darunter auch die Mütter und Töchter, die das Attentat auf dem Konzert von Ariana Grande am 22. Mai überlebt haben. Die Sängerin hatte viele weitere Superstars eingeladen, darunter die Band Coldplay, Robbie Williams, Katy Perry und Miley Cyrus. Und auch den Schulchor der Parrs Wood High School in Manchester. Als eine der Schülerinnen auf der Bühne in Tränen ausbrach, nahm Grande sie tröstend in den Arm (Foto). Nur einen Tag vor dem Konzert hatte es einen weiteren Anschlag in London gegeben. Waren Mädchen das erklärte Ziel von Manchester-Attentäter Salman Abedi? Das fragte nicht nur EMMA. Aber über diese so dringende Analyse wird seither geschwiegen. Auf Kosten von Mädchen und Frauen, allen voran in den muslimischen Communities. Emma-Kate Symons über ein fatales Schweigen.
Debatten über die Verschleierung und die Kultur der Reinheit spalten die muslimischen Frauen schon lange. Seit die Opfer des Attentats auf dem Ariana-Grande-Konzert in Manchester als „Huren“ beschimpft worden sind, ist diese Auseinandersetzung einmal mehr in die Öffentlichkeit geschwappt.
Auf der einen Seite stehen die selbsternannten „Homegirls im Hijab“ - wie die in New York lebende Aktivistin Linda Sarsour. Sie spielen den Zusammenhang zwischen dem frauenfeindlichen Weltbild der Islamisten und dem Terror-Attentat in Manchester herunter oder verschweigen ihn ganz. Flankiert werden sie von ihren westlichen Unterstützerinnen, die Angst davor haben, als rassistisch oder als islamfeindlich gebrandmarkt zu werden, wenn sie sich äußern.
Sind die Mädchen etwa selbst schuld gewesen?
Und auf der anderen Seite ihre liberalen muslimischen Schwestern, die sich schon lange fragen, weshalb so erzkonservative Ansichten über Sittsamkeit ausgerechnet von Feministinnen und von bestimmten Medienkreisen als repräsentativ für muslimische Frauen, als vorbildlich und fortschrittlich angesehen werden.
Terrorismus-Experten haben im Zusammenhang mit dem Manchester-Attentat immer wieder betont, dass es sich um einen Angriff auf die individuelle Freiheit und auf die Musik als Ausdrucksform handele. Asra Nomani, Mitgründerin des „American Muslim Reform Movement“, argumentiert hingegen auf der Online-Plattform Women in the World, dass die Konzertbesucherinnen von Dschihadisten als „gefährliche“ unverschleierte Frauen bezeichnet wurden. Und einige extrem konservative muslimische Frauen und Männer ihnen sogar zugestimmt haben.
Zum Beispiel eine Gruppe, die Asra Nomani als die „hijabi honour brigade“ (etwa: die Hijab-Sittenwächter) bezeichnet. Sie agieren als Mini-Troll-Armee in Sozialen Online-Netzwerken. Mit dem Ziel, Islam-Kritiker und -Kritikerinnen zum Schweigen zu bringen. Diese Brigade hat behauptet, dass die kleinen Mädchen auf dem Konzert von Ariana Grande das Attentat provoziert hätten – so wie auch ihre Eltern, die ihnen erlaubt hätten, bis spät in die Nacht auszugehen.
Eine verschleierte Französin formulierte es auf Twitter so: Die gerade mal acht Jahre alten Mädchen wären von Ariana Grande dazu angestiftet worden, sich wie „Huren“ anzuziehen. Und sie hätten es gewagt, im Dunkeln vor die Tür zu gehen. Das alles sei ein Anzeichen für „Dekadenz und Werteverfall.“
Die profilierten Verfechterinnen von Schleier und Scharia haben solche Diffamationen bisher nicht mit einem Satz angeprangert. Genau so wenig, wie sie eine Ideologie anprangern, die sich „direkt gegen Frauen richtet“, sagt die Terrorismus-Expertin Jenny Raflik. Die Autorin von „Terrorismus und Globalisierung“ argumentiert, dass das Manchester-Attentat nur eine Fortsetzung eines Weltbildes ist, das auch schon die Grundlage für die Versklavung und Hinrichtung der Jesidinnen geliefert habe.
https://www.youtube.com/watch?v=9LiI6poe3QE
Nun sollen also auch die Frauen in der westlichen Welt mit Gewalt in eine Rolle gezwängt werden, die mit den Regeln des Islamischen Staates konform geht. „Es ging nicht nur darum, die Mädchen und Frauen auf dem Konzert umzubringen. Es ging darum, ein ganzes Frauenbild zu vernichten“, schreibt Jenny Raflik in Le Monde. „Diese jungen Frauen stehen einerseits für Unschuld und andererseits für das erwachende Bewusstsein ihrer weiblichen Identität. Indem sie zum Ziel erklärt werden, wird das gesamte Bild der westlichen, emanzipierten Frau anvisiert.“
Und Linda Sarsour in New York? Die Social-Media-Reaktionen der „palästinensisch-amerikanischen Muslimin“, wie sie sich selbst bezeichnet, hielten sich in Grenzen. Scharia-Befürworterin Sarsour nannte das Attentat eine „böse“ terroristische Attacke auf „Kinder, die eine gute Zeit hatten“. Mädchen und Frauen erwähnte sie nicht.
Dabei ist Linda Sarsour eine der Mitorganisatorinnen des Washingtoner Women’s March. Ein feministischer Protest - der ausgerechnet das Bild einer voll verschleierten Frau zu seinem Symbol erklärt hatte. Ungeachtet der Millionen Frauen weltweit, die dazu gezwungen werden, sich zu verschleiern.
So wie Sarsour und die anderen Fans der Identitäts-Politik sich nie der Kampagne „My Stealthy Freedom“ von der Exil-Iranerin Masih Alinejad gegen die Zwangsverschleierung der Iranerinnen angeschlossen haben; und so wie sie sich niemals hinter die saudische Frauenrechtlerin Moudi Aljohani gestellt haben, die aus dem Exil versucht, Riads Versklavung der Frauen zu beenden; so stellen sich diese Frauen auch nicht gegen den tödlichen Islamismus, dessen Ideologie von „Reinheit“ und „Ehre“ den Kontext und die Motive für Selbstmord-Attentäter wie den in Manchester liefert.
Und auf der anderen Seite des Atlantiks? In Großbritannien schreibt die Kopftuchträgerin Remona Aly einen Guardian-Kommentar, in dem sie das Mitgefühl der MuslimInnen für die trauernden Menschen in Manchester lobt. Aber auch sie erwähnt das radikal-islamistische Weltbild nicht, das Mädchen zu „Prostituierten“ erklärt, die es „verdienen zu sterben“. Nur, weil sie das Konzert einer Sängerin in aufreizender Kleidung besuchen.
Warum haben die westlichen Feministinnen so versagt?
Und Kolumnist Walled Aly, dessen verschleierte Frau die Kritik am religiösen Fundamentalismus „unfair“ findet, fragt sich im Sidney Morning Herald sogar, ob der Attentäter Salman Abedi vielleicht gar nicht wusste, „dass es vor allem heranwachsende Mädchen treffen wird“.
Währenddessen klagt die afghanische Frauenrechts-Aktivistin Nushin Arbabzadah, dass die westlichen Feministinnen so versagen, wenn es um die Mädchen in Manchester geht. Sie fordert: „Wir müssen den Zusammenhang zwischen diesen Mädchen und dem Frauenhass als Bestandteil von Islamismus endlich benennen!“
Emma-Kate Symons
Übersetzte und gekürzte Fassung aus dem Englischen.