Good news: Kilos sind gesund!

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Dick sein war noch nie so verpönt. Während die Großvätergeneration noch selbstbewusst ihr Wohlstandsbäuchlein trug und ihre runden Frauen mit Stolz präsentierte, stehen die Dicken von heute in der Freak-Ecke. Trotz aller political correctness, die es ansonsten streng verbietet, Witze über körperliche Mängel zu reißen, sind die Dicken zum verbalen Abschuss freigegeben. Lachen auf Kosten von Dicken ist erlaubt.

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Natürlich geschieht die soziale Ausgrenzung nur zu ihrem Besten, denn Übergewicht, hämmern Gesundheitspolitiker, ErnährungsberaterInnen, Frauenzeitschriften und Diätindustrie auf uns ein, ist gefährlich. Dicksein sei ungesund, führe zu zahlreichen Krankheiten und sei eigentlich selber schon eine Krankheit. Daher müssten die Kilos an Bauch, Hüften und Waden unerbittlich bekämpft werden. Am besten von Kindesbeinen an.

In Deutschland erklärte die „Nationale Verzehrstudie“ soeben zwei Drittel aller Männer und die Hälfte aller Frauen für übergewichtig. Als Kriterium für Übergewicht gilt ein Body-Mass-Index von 25. Den hat eine 1,70 Meter große Frau, wenn sie 72 Kilo wiegt. 2007 tischte die Deutsche Adipositas-Gesellschaft ähnliche Zahlen auf: 70 Prozent der Männer und 50 Prozent der Frauen seien übergewichtig. Die große Koalition führt die Diätkampagnen ihrer rot-grünen Vorgänger mit ungebremstem Eifer weiter. England meldet 16 Prozent dicke Kinder, auch dort Anlass für hektische politische Aktivitäten.

Das Sahnehäubchen der Statistik kommt aus den Vereinigten Staaten, wo angeblich nur noch ein Drittel der Bevölkerung Normalgewicht besitzt. Von dort heißt es, dass die Fettleibigkeit demnächst mehr Menschenleben kosten wird als das Rauchen. Und im Sommer 2006 verkündete der amerikanische Agrar-Ökonom Barry Popkin, dass es nun mehr Übergewichtige als Unterernährte auf der Welt gebe. Eine Milliarde sei zu dick, 800 Millionen Menschen haben nicht genug zu essen.

Doch während das Problembewusstsein weiter genährt wird und die Warnungen immer schriller klingen, schmilzt die wissenschaftliche Faktenbasis wie Fett auf dem Grill. Übergewicht, sagt eine wachsende Zahl von Experten, mag ästhetisch misslich sein, gesundheitsschädlich ist es nicht. Diese überraschende Erkenntnis wird durch immer mehr Studien erhärtet. Im November 2007 erklärten das amerikanische National Cancer Institute und die Centers for Desease Control, dass leichtes Übergewicht die Sterblichkeitsrate senke. Die Gesundheitsdaten von zwei Millionen US-Bürgern wurden dafür ausgewertet.

Zu den zahlreichen Krankheiten, die bei Pummeligen seltener auftreten, gehören Parkinson, Lungenkrebs und Alzheimer. Herz- und Kreislaufprobleme waren allerdings ausgenommen. Doch selbst diese Ausnahme ist heftig umstritten, denn eine große Studie amerikanischer Herz- und Kreislaufspezialisten und Internisten, die 2006 in der Medizinzeitschrift Lancet veröffentlicht wurde, räumt noch radikaler mit dem Mythos vom ungesunden Übergewicht auf. Die Experten hatten 40 Forschungsarbeiten ausgewertet, die Daten von über 250.000 Patienten enthielten. Fazit: Übergewichtige sind nicht nur insgesamt gesünder, sondern sterben sogar seltener an Herz- und Kreislaufkrankheiten.

Für die zweite Lebenshälfte gilt: Je dicker ein Mensch ist, desto höher seine Lebenserwartung. Die Ursache dafür ist vermutlich, dass die Dicken im Krankheitsfall etwas zuzusetzen haben. Riskant ist dagegen Untergewicht. Wer dick und gesund ist, sollte sich besser nicht zu Diäten zwingen. Denn radikales Abnehmen erhöht das statistische Risiko, früher zu sterben, deutlich, so die Forschungsresultate des dänischen Epidemiologen Thorkild Sørensen.

Auch eine deutsch-schweizerische Studie an 1.676 Herzpatienten vom Sommer 2007 bestätigt die verblüffenden Nachrichten aus Amerika und Dänemark: Patienten mit normalem Körpergewicht weisen in den ersten drei Jahren nach einer Behandlung eine doppelt so hohe Sterblichkeitsrate auf wie Fettleibige.

Rund ist gesund – kann das wahr sein? Wenn sich die neuen medizinischen Erkenntnisse weiter erhärten, entfällt die Grundlage für Diätkampagnen, kalorienarme Schulspeisungen und behördliche Ernährungsratgeber. Ein bisschen mehr Skepsis hätte schon früher gut getan, denn die Datenlage ist keinesfalls so klar, wie uns die Schlankheitsprediger weismachen.

Mediziner der Universität München machten darauf aufmerksam, dass ein Teil der Verfettung westeuropäischer Gesellschaften eine Folge der Einwanderung ist. Viele türkische Kinder in den Schulen heben den statistischen BMI, ohne dass sich bei den restlichen Kindern etwas geändert hätte. Ein weiterer Grund für den statistischen Anstieg des Übergewichts ist das steigende Durchschnittsalter. Menschen legen zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr die meisten Kilos zu.

Merkwürdig, dass die Angst vor zu vielen Dicken ausgerechnet in einer Zeit aufkommt, wo der Trend zur gesunden Ernährung unübersehbar ist. Der Fett- und Fleischkonsum im alten Europa sinkt, der Verbrauch von Obst und Gemüse steigt seit Jahren an. Auch das will nicht recht zur Verfettungsthese passen.

Dabei ist noch nicht einmal gesichert, ob viel Essen und Bewegungsmangel tatsächlich dick machen. Natürlich klingt das sehr plausibel: Wer viel isst und keinen Sport treibt, wird dick. Diese Meinung hat sich unter Laien und Experten gleichermaßen durchgesetzt – bewiesen ist sie allerdings nicht. Im Gegenteil: Die Hinweise mehren sich, dass beim Fettansetzen ganz andere biologische Prozesse die Hauptrolle spielen.

Nach dem Stand der Forschung ist das Körpergewicht eines Menschen zu 50 bis 80 Prozent genetisch bedingt. Eine große Rolle scheint auch Stress zu spielen, und zwar in beide Richtungen: Dicke werden dicker, wenn sie unglücklich oder psychisch überlastet sind, Dünne dagegen dünner. Experimente mit Ratten haben gezeigt, dass zu wenig Schlaf dick macht. Das Gleiche ergab eine Studie mit menschlichen Probanden. Die Ursache ist vermutlich hormonell, denn Schlafmangel stört den Cortisolrhythmus.

„Die Rolle von Ernährung und Bewegung wird überschätzt“, sagt der Lebensmittelchemiker Prof. Udo Pollmer, „die Rolle der Hormone unterschätzt. Stresshormone und Sexualhormone steuern unser Gewicht.“ Aus der Tiermast ist bekannt, dass der Bauer die Gewichtszunahme durch Hormongaben steigern kann. Die Tiere setzen dann mehr an, obwohl sie weniger fressen. Für den menschlichen Organismus ist es ein Leichtes, die Fetteinlagerung zu steuern, denn der Kalorienfresser Nummer eins ist unsere Körpertemperatur. Der menschliche Körper steuert seinen Wärmehaushalt sehr stark über die Durchblutung der Arme und Beine. Damit kann er jede Diät wirkungsvoll sabotieren. Kalorienfresser Nummer zwei nach der inneren Heizung ist das Gehirn. Denken und Fühlen kostet mehr Energie als die Betätigung der Muskulatur.

Die medizinische Debatte um das Phänomen Übergewicht ist längst noch nicht abgeschlossen, sie fängt erst an. Ästhetisch jedoch scheint die Sache eindeutig zu sein: Wer das andere Geschlecht beeindrucken will, sollte als Mann keinen runden Bauch und als Frau zusätzlich keinen dicken Po und schlanke Oberschenkel haben. Lediglich in Form von Busen gilt weibliches Körperfett als sexy. Und weil das angeblich so ist, sind fast alle erfolgreichen Filmschauspielerinnen superschlank, die Models in der Werbung dünn und die Mannequins auf den Laufstegen klapperdürr.

Der Wunsch abzunehmen ernährt milliardenschwere Industrien. „Wenn wir in einer Ausgabe keine neue Diät auf dem Titel bringen», sagt eine leitende Redakteurin eines großen Frauenmagazins, „sinkt der Kioskverkauf sofort.“

Schaut man sich die Schönheitsideale von Naturvölkern an oder die unserer steinzeitlichen Vorfahren, wie etwa die Venus von Willendorf, stößt man auf Frauenbilder, die nach heutiger Bewertung als extrem fett gelten würden. Der Wunsch nach Schlankheit kann also keine anthropologische Konstante sein.

Die ästhetische Körpernorm scheint hauptsächlich sozial konstruiert zu sein. Gesundheitspolitische Kampagnen stützen sich auf zeitgeistige Schönheitsideale und soziale Vorbehalte. Wer dick ist, gilt als arm und dumm. Angenehmerweise kann die Verachtung der disziplinlosen Dicken durch sozialpädagogischen Paternalismus bemäntelt werden: Man möchte ja nur den armen dicken Kindern helfen. „Die Anti-Dicken-Kampagne hat nur oberflächlich mit Medizin zu tun“, schreibt der Wissenschaftsautor Thilo Spahl. „Sie ist in erster Linie ein Mittel der sozialen Abgrenzung, ein Mittel zur Selbstbestätigung der gehobenen Mittelschicht.“

Dieser pädagogische Feldzug gegen die Dicken bleibt nicht ohne Opfer. Unverkrampft essen wird zur Sünde, die sich mit der Angst vor Sexualität vermischt. Das Ergebnis sind Essstörungen aller Art, die seit einiger Zeit auch bei männlichen Jugendlichen zunehmen. Neuste Variante: Orthorexia nervosa – das krankhaft übertriebene Verlangen, sich gesund zu ernähren. Das Regiment der Diätgurus und Ernährungspädagoginnen ist nicht so wohltuend, wie uns bunte Broschüren einreden. Etwas läuft schief, wenn schon Fünfjährige Kalorien zählen, wenn schon im Kindergarten Appetit nicht mehr als spontaner Impuls zugelassen wird und Essen nur noch als kontrollierte Handlung stattfindet.

Der, hier leicht gekürzte, Text erschien zuerst in der Schweizer Weltwoche.

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