Mein Leben als Trotzdem-Mutter

Mutter Annika mit Ben und Henriette.
Artikel teilen

Immer, wenn über Mutterschaft mit ihren Tücken neu verhandelt wird, fehlt vor allem eines: eine Lösung. Die Ausgangsbasis: Die Kleinfamilie wird sich in nächster Zeit genauso wenig auflösen wie das Kita-Platz-Pro­blem. Eier einfrieren lassen erscheint vielen Frauen ebenso absurd wie die Option, mit 60 noch schwanger zu werden.

Anzeige

Noch immer grätscht ein Kind in den Beruf, und noch immer ist der Großteil aller Väter nur dabei statt mittendrin. Bleibt eigentlich nur ein Fazit: Lasst es lieber! Gibt nur Ärger.

Diese Option aber ist für mich passé, ich habe bereits zwei Kinder. Und ich habe die Entscheidung keine Sekunde bereut.

„Jetzt haltet mal den Rand!“, das möchte ich so manches Mal all denen entgegnen, die meinen, sich mal wieder über Mütter auslassen zu müssen. Hier die versnobten Latte-Macchiato-Mütter, da die verrückten Helikopter-Glucken. Haha.

Dann wären da noch die zutiefst zu bedauernden Alleinerziehenden, die Bugaboo-schiebenden Prenzlauer-Berg-Mamas und die veganen Schnippel-Muttis, die mit Superfoods ihre Familien fit machen. Nicht mehr das Mutterkreuz ist die Krönung der Schöpferinnen, sondern der Windelfrei-Eimer, dessen Nutzung Babys Po vor Chemie und dazu noch unsere Umwelt rettet. Karriere machen darf die Mama zwar immer noch nicht, aber nur zu Hause bleiben ist ja wohl total 50er.

Was bei der Diskussion um Mutterschaft fehlt: Ehrlichkeit!

Wenn Mütter all das ernst nehmen würden, was ihnen da suggeriert wird, dann gäbe es bald keine mehr. Doch die Realität sieht anders aus. Mütter sind immer noch Menschen, und die sind bekanntlich verschieden. Lasst ihnen doch den Kaffee! Vielleicht brauchen sie den nach der durchwachten Nacht. Und nicht jede Mutter helikoptert, nur weil sie mal mit auf dem Spielplatz hockt. Ich mache das manchmal auch. Weil ich zwar meinem Kind, aber nicht allen Mitmenschen vertraue.

Jenseits aller Klischees und Rollenzuschreibung sollte es bei einer ernstzunehmenden Diskussion über Mutterschaft doch wohl vor allem um eines gehen: Ehrlichkeit. Zum Beispiel darüber, was auf Frauen zukommt, wenn sie Mutter werden.

Ja, dein Leben wird sich grundlegend ändern. „Ich hab‘ auch noch ein Leben!“ höre ich oft von Vätern, die glauben, zu kurz zu kommen. Die Wahrheit ist: Nein, hast du nicht. Hat deine Frau ja auch nicht! Zumindest nicht im ersten Baby-Jahr, da müssen Eltern sich zusammenreißen und hintenanstellen. Ihr werdet nicht in Jahreszeiten, sondern in „Phasen“ leben. Phasen, die vorübergehen und die im Nachhinein gar nicht so schlimm waren. Einige werdet ihr sogar genießen.

Jede zweite Ehe wird derzeit in Deutschland geschieden, die meisten, wenn das Kind ein Jahr alt wird. Der am häufigsten genannte Grund ist „mangelndes Verständnis“ der/des anderen. Um sich verstehen zu können, muss man miteinander reden, Pflichten klären, einen verbindlichen Pakt darüber schließen, wie ein Familienleben aussehen soll, mit dem beide zufrieden sein können.

Frauen verhandeln nicht - aus Angst vor Liebesverlust

Aus Angst vor Liebesverlust vergessen Frauen oft, über die Arbeitsteilung zu verhandeln und die Väter in die Pflicht zu nehmen. Und dann haben sie den Salat.

Krankenkassen sollten mal darüber nachdenken, nicht nur Geburtsvorbereitungskurse zu finanzieren, sondern auch in die Nachsorge zu investieren. Dank Hebammennotstand stehen viele frischgebackene Mütter allein auf weiter Flur. Und entgegen der allseitigen Annahme, dass das Wissen über die Baby-Versorgung so etwas wie gottgegeben ist, bräuchten sie viel öfter einen guten Rat, wenn das Baby da ist. Väter müssten ebenfalls besser auf die Zeit mit einem Baby vorbereitet werden, sich Klarheit darüber verschaffen, was sich ändern wird. Und das geht weit über ein mun­teres Sexualleben und ein sauberes Auto hinaus.

Und FrauenärztInnen müssten aufhören, werdende Mütter verrückt zu machen. Wie viele Sorgen in Bezug auf die Gesundheit des werdenden Kindes lösen sich später in Luft auf? Oft würden schon bessere Ultraschallgeräte die ständige ­Orakelei hinfällig machen.

Vor allem: Frauen mit und ohne Kinder sollten sich nicht voneinander abgrenzen, sondern zusammenhalten, schon aus Solidarität zur eigenen Mutter. Und Mütter sollten aufhören, kinderlose Frauen zu bemitleiden.

Auch die Mütter müssen nicht alles mitmachen, nur weil es „alle“ machen. Nicht alle Frauen wollen sich „Hänschen klein“ singend in der Krabbelgruppe über den Boden wälzen. Und wenn doch, dann ist das doch auch okay. Wer sonst ein todernstes Leben hat, der genießt es vielleicht, für ein paar wenige Monate in der wohligen Babyblase zu kullern. Die Zeit vergeht so schnell.

Okay, wenn das Stillen klappt; wenn nicht, geht die Welt auch nicht davon unter. Psychischer Stress der Mutter ist viel blöder für das Kind als Fertig-Milch.

Es muss für beide Eltern normal werden, Elternzeit zu nehmen

Und Alleinerziehende brau­chen keine Beileidsbekundungen, sondern gerechte Steuern und flexible ArbeitgeberInnen. Fehlende Kita-Plätze sind nicht der einzige Grund für den Geburtenrückgang, sondern auch Arbeitszeiten, die Müttern und Vätern weder Sicherheit noch Flexibilität bieten. Es sollte für beide Elternteile normal sein, gleichermaßen Elternzeit zu nehmen. Noch immer wird kein Mann, der drei Kinder hat, gefragt, wie er das denn wohl schaffe.

Grundsätzlich sollte es einfach normaler sein, ein Kind zu bekommen und zu haben, finde ich. Das funktioniert in anderen Ländern ja auch. Mein Leben mit Kindern ist das Beste, was ich mir vorstellen kann. Mein Sohn und meine Tochter bringen mich zwar manchmal an meine Grenzen, nicht aber an den Rand der Verzweiflung. Und ich habe selten so viel gelacht.

Die zwei erleben eine 50/50 geteilte Elternschaft. Was zu machen ist, wird gemacht, von beiden Eltern. Wir wickeln beide, kochen Essen, kaufen ein, putzen das Klo, gehen zur Kinder­ärztin, auf den Spielplatz oder zum Elternabend in den Kindergarten. Aber eines muss ich zugeben: Meine Kinder haben nicht eine Mutter und einen Vater, sondern zwei Mütter. Doch warum sollte nicht einer Frau und einem Mann dasselbe gelingen, was auch zwei Frauen ­schaffen?

Annika Ross

Artikel teilen

Mein Leben in der Krabbelgruppe

„Ich möchte hier raus!“ 1976, Estate Birgit Jürgenssen, Courtesy Galerie Hubert Winter, Vienna, Bildrecht Vienna, 2018
Artikel teilen

Wir saßen ohne Schuhe im Kreis und erzählten, „wie es uns mit der letzten Woche und dem Baby gegangen“ sei. Wir sangen Sachen wie „Zwei kleine Schlangen sagen sich ganz lässig ‚Hi‘“ oder „Uuhlalalala, Kssksskss“ und intonierten gemeinsam den Satz „Und was gibt es zum Schluss? Einen dicken fetten Kuss“. Wir krabbelten über den Boden und stapelten Bauklötze übereinander.

Anwesend waren etwa sechs Frauen, ihre Babys und kein Vater. Die Teilnehmerinnen wirkten anders als jene, die zu einem vergleichbaren Kurs in einer reicheren Gegend gegangen wären. Weniger schick, weniger sendungsbewusst. Die Babyausstattung kreischte nicht so unüberhörbar, von welchen Labels und wie teuer sie war, das heißt: Das How-to-be-a-perfect-mom-Thema war zwar da, aber nicht so laut.

In dem Stadtteil, in dem viele Menschen mit Migrationshintergrund lebten, waren nur Frauen dabei, die superdeutsch aussahen. Kleider von Esprit und H&M, wenig Schminke, ein bisschen alternativ. Durchschnittlich wirkende Frauen, eher mit Studium als ohne. Sie waren die Ankündigung dafür, dass sich in der Gegend irgendwann mal etwas ändern würde, langsam zwar, aber die Mieten wurden schon teurer.

Bereits vorher hatte ich gewusst, dass ich Schwierigkeiten damit haben könnte, mich in der Krabbelgruppe zu integrieren. Ich hatte mir deswegen vorgenommen, als offener, sympathischer Mensch ohne Vorbehalte in Erscheinung zu ­treten. Ich wollte keine schlechten Vibes ausstrahlen, denn vielleicht lernte ich ja jemanden kennen. Jemand aus unserer Gegend.

Aber dann war ich schlicht schockiert von der Art der Ansprache, von der Beklopptheit der Liedtexte und dem Gefühl, dass man mit mir sprach, als sei ich ein Baby (Was doch sichtbar falsch war. Ich war kein Baby, ich hatte eines). Dennoch gab ich mir Mühe. Ich machte mit, musste aber immer wieder lachen, weil ich mir vorstellte, dass statt der sechs Frauen ihre Männer dort säßen und diesen Blödsinn reden müssten. Oder jene Männer aus den Führungsetagen, von denen man immer wieder las. Ich stellte mir vor, wie sie im Kreis säßen und „Heute wollen wir spielen, heute wollen wir spielen, groß und klein, oh, wie fein“ sängen.

Diese Vorstellung war vollkommen grotesk und sie zeigte, wie selbstverständlich es ist, dass Frauen tun, was sie tun. Sie sind dafür zuständig, an Vormittagen idiotische Sachen zu singen und zu sagen. Sie tun es und haben damit entweder kein Problem. Oder sie denken sich, so ist das nun mal, wenn man ein Kind hat, mit einem Kind macht man Dinge, die man mit Kindern macht, mit einem Kind muss kindgerecht gesprochen werden. Das ist absolut richtig, aber daraus muss nicht folgen, dass man auch mit Frauen kind­gerecht spricht.

Es geht hier nicht um eine Kritik der Krabbelgruppe, Krabbelgruppen sind ohne Frage eine sinnvolle Institution. Es geht um die Feststellung, dass Frauen in der Logik der männlichen Führungsetagen allgemein langweiligere, weniger wichtige, spannende und anspruchsvolle Dinge tun, und dafür ist der Krabbelgruppen-Flavour und wie wenige Männer dort sitzen nur ein weiteres Beispiel.

Denn diese selbstverständlich infantilisierende Art der Mami-Ansprache (nicht nur in Krabbelgruppen, sondern auch im Fernsehen, Internet, Supermarkt und in Büchern) macht etwas mit Frauen, insbesondere wenn sie in einer Zeit wohnen (der Elternzeit, irgendwann back in den 50ern), in der es kein Draußen und also auch keine Bestätigung von dort gibt. Und so glauben vermutlich nicht nur die Männer aus den so genannten Führungsetagen, dass Frauen für weniger anspruchsvolle Tätigkeiten zuständig sind, die Frauen glauben es auch selber. Das ist es, was es mit ihnen macht.

Mein Freund und ich nahmen den Termin im Wechsel wahr. Ich musste lachen, wenn ich daran dachte, wo er war und was er machte, aber er tat mir auch sehr leid. Kam er nach Hause, sagte er jedes Mal, dass er dort nie wieder hingehen würde, und dafür liebte ich ihn. Ich liebte ihn auch, weil er dort hinging. Die Zumutung, der er sich aussetzte, wenn er auf dem Boden saß und sang, erschien mir dabei ungleich schlimmer als meine eigene Krabbelgruppen­zumutung. Der Termin war für sich genommen eine Zumutung, aber ich fand ihn noch unzumutbarer, wenn ich wusste, dass ein Mann, mein Freund, ihn wahrnahm.

Alle gingen zu irgendwelchen Krabbelterminen, also hatte ich mir ebenfalls einen Krabbeltermin gesucht. Diese Logik wirkt nicht besonders erwachsen. Erwachsen fand ich mich allerdings auch nicht, wenn ich mir in den Momenten zusah, in denen ich versuchte, alles so richtig wie möglich zu machen, und mich dabei ängstlich umsah und die anderen beobachtete. Ich sah dann zu meinem Baby und dachte: Wenn du wüsstest, wie wenig ich weiß, wo es langgeht. Verstehst du, ich tue hier die ganze Zeit nur so. Wenn du wüsstest, wie viel Angst ich habe. Hatten die anderen auch Angst?

Hätten wir nicht zur gleichen Zeit Kinder bekommen, wären wir uns nie begegnet. Denn wir kamen aus zu unterschiedlichen Milieus, wir hatten Berufe, die nichts miteinander zu tun hatten, unsere Codes sortierten sich gegenseitig aus. Nun aber saßen wir hier, und es verband uns doch eine ganze Menge. Was wir während der Tage und Nächte machten, verband uns, und was wir googelten, wenn unsere Kinder schliefen.

Außerdem verband uns, dass wir einander ganz genau abcheckten. Wir beobachteten uns gegenseitig, abwartend und aufmerksam. Die Gespräche waren vorsichtig, so, als befürchte man, zu viel zu verraten. Und dann schmeckte dieser Raum mitunter sehr streng.

Ich wusste, wer welche Feuchttücher benutzte und dass es Frauen gab, die es einen Skandal ­finden würden, dass hier teilweise mit Feucht­tüchern gearbeitet wurde, die irgendwelche Zusätze enthalten. Ich wusste, dass außer einer Mutter alle die Windeln kauften, die am teuersten waren. Du hast offenkundig nicht mehr alle Tassen im Schrank, sagte ich mir dann, was gehen dich die Feuchttücher anderer Leute an? Aber ich guckte weiter.

Ich wusste, wer schon abgestillt hatte. Ich wusste, dass eines der Babys nachts so häufig aufwachte, dass seine Mutter überlegte, nicht mehr zu stillen, und dass sie deswegen schon jetzt ein schlechtes Gewissen hatte. Ich sagte in die Schneidersitzrunde, natürlich, hör auf zu stillen, und dann schwiegen kurz alle, und irgendwer wies mit gesenktem Blick darauf hin, dass Stillen schon sehr wichtig sei. Und dann sagte eine andere Frau mutig, dass das natürlich jeder selber wissen müsse, auch wenn Stillen, ja, sehr, sehr wichtig sei, keine Frage. Und so hatte vermutlich nicht nur die Frau mit dem wachen Baby, sondern auch ich das Gefühl, wir gehörten ins Gefängnis.

Ich wusste, dass die meisten den Brei für ihre Babys selber kochten, und dass ich es nicht tat. Ich studierte, welche der Mütter besonders gestresst wirkte, und wenn eine die Frechheit besaß, entspannt zu sein, unterstellte ich ihr, dass sie nur so tue, und fragte mich, warum ich so angestrengt war und was mit mir nicht stimmte.

Und so sitzen vermutlich viele Frauen in diesen Gruppen (oder auf Spielplätzen, in Kinder­cafés, in Wartezimmern) zusammen und beobachten sich gegenseitig, weil sie glauben, man beobachte sie. Sie sitzen mit anderen Müttern zusammen und tauschen sich über ihre Beobachtungen anderer Mütter aus und wie unmöglich sie sind. Zu berufstätig, zu wenig berufstätig, over-protective, nicht protective genug und so weiter. Und das schreiben sie dann über die Kommentarfunktion unter die Artikel irgendwelcher Mütter-Blogs, die unmöglich mit ihnen reden.

Es war also nicht nur meine Krabbelgruppe, die Augen hatte, auch das Internet konnte mich sehen. Meine Timeline wusste, was ich brauchte, und so bekam ich ständig irgendwelche Blogs und Mütter und Babys und Baby­wippen vorgeschlagen, mit denen ich mich vergleichen konnte.

Aber man bewertet ja nicht, weil man denkt, das sei notwendig oder richtig. Man tut es, weil man Angst hat, falsch zu sein. Man tut es, weil man unsicher ist und sich, indem man andere abwertet, darüber versichern kann, dass man richtig ist.

Ich weiß nicht genau, woher diese fundamentale Unsicherheit kommt. Ein wichtiger Aspekt ist sicher, dass eine traditionell stark aufgeladene und überhöhte Rolle, die Mutterrolle, mit dem Anspruch zusammenknallt, dass diese Mutter auch beruflich erfolgreich sein sollte. Weil dieses Modell erst seit relativ kurzer Zeit ausprobiert wird, gibt es dafür natürlich noch nicht so viele Beispiele, und darüber hinaus spielen in dieser modernen Mutterversuchs­anordnung eben auch Kinder eine zentrale Rolle. Kinder, deren Wohlergehen einen speziell sensi­blen Nerv im Mutterkopf anspricht, der folglich leicht zu irritieren ist.

Und vielleicht bedingt dieser komplexe und lange währende Umbruch eine Art mütterliche Identitätskrise, die sich vor allem in ängstlichen Seitenblicken äußert. Der Bewertungssport könnte zudem dadurch beschleunigt werden, dass erstens pausenlos irgendwelche Experten erklären, wie es richtig geht, und dass sich zweitens nahezu jeder von dem Mutterthema angesprochen fühlen und sich dazu äußern kann (Alle haben Mütter, haben gute oder schlechte Erfahrungen gemacht, haben eine Idee davon, wie es wäre, wenn es perfekt wäre). Und dadurch kann dann das Gefühl entstehen, man werde als Mutter permanent beobachtet.

Dass man so unsicher ist, wird jedenfalls dadurch verstärkt, dass man täglich verschiedenen Müttermodellen (Arbeitsmodelle, Erziehungsmodelle, tatsächlich: Lebensmodelle) dabei zusehen kann, wie sie perfekt zu funktionieren scheinen. Man geht mit dieser Situation um, wie man seit jeher mit Situationen umgeht, die man im Internet sieht. Man liked sie oder nicht, man liked nicht nur im Internet, man tut es auch in der Krabbelgruppe. Das heißt, man bewertet auch, weil das eben ist, was man als moderner Mensch tut.

Wirklich crazy war jedoch, dass ich nicht nur das Gefühl hatte, dass wir einander observierten, sondern dass auch die Babys überwacht wurden. Ich meine, es wurde sich zu Beginn der Stunde präzise und ausgedehnt darüber ausgetauscht, welches Baby was konnte. Manche Mütter waren besorgt, wenn ihr Baby noch nicht krabbelte. Sie waren vollkommen verrückt danach, ihren Kindern dieses Krabbeln beizubringen. Auch ich wurde einmal nachdenklich, weil mein Kind irgendetwas nicht tat, was aber alle anderen taten.

Was sich damit in meinem und dem Kopf der anderen Mütter vollzog, ist naheliegend: Das Kind funktionierte als eine Art Erweiterung des angeschlagenen Selbst, das in jener Zeit einzig auf dem Babyfeld reüssieren konnte und somit an sich zu zweifeln begann, wenn das Baby noch nicht konnte, was es laut Tabelle ­können sollte.

Einmal traf ich eine alte Freundin nach vielen Jahren auf einem Spielplatz. Beide hatten wir inzwischen Kinder. Wir sprachen darüber, wie wir uns die Aufgaben mit unseren Männern teilten und welcher Bezirk der beste zum Wohnen sei. Ich sagte ihr, dass ich bald wieder voll arbeiten würde, sie erzählte, dass das bei ihr noch nicht gehen würde, dass sie es aber ohnehin besser fände, so lange wie möglich bei dem Kind zu Hause zu sein. Schließlich sagte sie mir, dass ich nicht besonders glücklich aussehe.

Auf dem Nachhauseweg hatte ich ein schlechtes Gefühl. Ich verstand erst später, dass ich ihre Aussage über mein Glück wie ein Urteil über meine bisherige Lebensleistung aufgefasst hatte. Dagegen hatte sie sich vielleicht falsch gefühlt, weil sie nicht arbeitete, und musste mich aus diesem Grund irgendwie zurückverletzen.

Das Schreckliche an diesem Kapitalismus ist nun mal, dass man die Wahl hat. Das ist beängstigend, und aus diesem Grund wollen die Menschen ihre Sicht an den Umständen festnageln. Sie wollen ihr Selbstbild und wie es sich in der Welt spiegelt, fixieren, weil sie befürchten, sonst zu straucheln. Sie befürchten, die falschen Entscheidungen getroffen zu haben.

Antonia Baum hat ihre Erfahrungen in dem Buch "Stillleben" aufgeschrieben (Piper, 20 €). Dieser Text ist ein Auszug.

Weiterlesen
 
Zur Startseite