Mein Venedig, mein Boot, mein Ruder
Neulich hätte ich fast fünf Gondeln versenkt. Nicht absichtlich – obwohl mir eine gewisse Aversion gegen Gondelserenaden-Pulks, aus denen Ciao-Venezia-Ciao-Ciao-Ciao dröhnt, nicht fremd ist. Mein Boot hat das vielleicht gespürt: Es steuerte angriffslustig auf die Gondeln zu, während ich hektisch versuchte, den Motor wieder anzuwerfen, der mitten auf dem Canal Grande ausgefallen war. Ein Gefühl, als würden die Bremsen versagen, während man sich auf der Überholspur der Autobahn befindet. Panisch versuchte ich die Havarie zu vermeiden, wobei ich prompt die Grundregel des Bootfahrens (Steuer in die Richtung ziehen, in die man nicht will) vergaß und das Steuer in die falsche Richtung zog.
Ich sah mich schon als Schlagzeile der Bild-Zeitung („Deutsche verübt Anschlag auf Touristengondeln im Canal Grande“), als der Motor – eine Handbreit vor den Gondeln – stotternd wieder ansprang. Die hämischen Kommentare der Gondolieri und der in den Gondeln sitzenden Männer ignorierend („Har, har, Frau am Steuer“), setzte ich zurück und fuhr, einen eleganten Bogen schlagend, Richtung Lagune Süd.
Ja, ich bin Anfängerin. Obwohl ich mein halbes Leben in Venedig verbracht habe, hatte ich noch nie ein Boot. Das Problem sind die Anlegestellen. Die sind hier so selten wie Schneeleoparden. Jedes Mal, wenn die Stadt neue vergibt, wird das Rathaus gestürmt wie beim Sommerschlussverkauf. Außerdem: Anlegestelle ist nicht gleich Anlegestelle. Wir, mein italienischer Mann und ich, hatten eine, die aber liegt in einem schmalen Kanal voller Wassertaxis, Gondeln und Müllbooten (der Panzerkreuzer Potemkin in venezianischen Kanälen) – da bleibt von einer topetta, einem Mäuschen, wie man das typisch venezianische Boot nennt, nicht viel übrig.
Ich hatte die Hoffnung schon längst aufgegeben, als das Wunder geschah: Ich bekam eine Anlegestelle geschenkt. Und eine topetta dazu. Einen Führerschein brauche ich nicht, dafür ist der Motor meiner topetta zu klein. Etwas Praxis reicht, sagte der Venezianer DOC, der mir als Fahrlehrer die Grundregeln des Bootsverkehrs in drei Sätzen erklärte: Dass man mit links steuert, was für Rechtshänder gewöhnungsbedürftig ist, dass man den Steuerhebel in die Richtung zieht, in die man nicht will, und dass Rechtsverkehr gilt. Zumindest theoretisch. Denn wenn man an einer Gondel vorbeifährt, die im Übrigen immer Vorfahrt hat, muss man sie links überholen.
Seitdem ich Boot fahre, habe ich Zugang zu einer Welt, in der ich als Mädchen gelte: Während meiner ersten Durchquerung des Giudecca-Kanals, für mich so etwas wie die Umseglung von Kap Hoorn, hörte ich einen Pfiff von einem vorbeifahrenden Lastkahn, ein Mann grinste und schrie: Una fia che guida a manetta!, was soviel heißt wie: Ein Mädchen am Steuer!
In Venedig herrscht auf dem Wasser ein rüdes Patriarchat, ich würde sagen: nach Saudi-Arabien die letzte Festung. Bootfahren ist Männersache. Frauen sitzen meist daneben und sonnen sich oder drapieren sich auf dem Vorschiff und sonnen sich auch. Bislang habe ich hier nur zwei Frauen gesehen, die ein Boot gefahren sind. Und die hatten ein Steuerrad. Eine Frau am Steuerhebel hingegen fällt doppelt auf. Aber die Bastion bröckelt: Neulich habe ich sogar eine Frau am Steuer eines Vaporettos, eines Wasserbusses, gesehen. Wer weiß, wohin das noch führt.
Auf jeden Fall führt die Männerherrschaft in den Kanälen in Venedig zu einem Wellengang wie auf dem Südpazifik. Das Markusbecken ist ein Bermudadreieck voller Monsterwellen, ausgelöst von unzähligen Lastkähnen, Vaporetti und Ausflugsbooten, von den Kreuzfahrtschiffen und Wassertaxis ganz zu schweigen. Im Boot fühlt sich das an, als würde man versuchen, sich einen Weg durch explodierende Seeminen und Torpedos zu bahnen.
Als sich die topetta aufbäumte, sagte mein Fahrlehrer beruhigend: „Die Welle schräg seitlich anschneiden“, während sieben andere auf mich zurollten.
Zweifel an seinem männlichen Sachverstand bekam ich, als wir in der Lagune unweit des Canal dell’Orfano auf Grund liefen, nachdem er mir „Fahr da mal in der Mitte durch!“ befohlen hatte. Wogegen ich als regelbewusste Anfängerin protestiert hatte, weil wir uns außerhalb der Fahrrinne bewegten, was schon der fränkischen Flotte von Pippin, dem Sohn Karls des Großen, nicht bekommen ist, die im Jahr 810 hier auf Grund lief.
Seither fahre ich allein. Bei meinem ersten Alleingang scheiterte ich allerdings bereits daran, den Motor ins Wasser zu lassen. Der ist so schwer wie ein Christenmensch, wie man hier sagt. Man muss hier ziehen und da was drücken, was mir erst gelang, nachdem sich unter den hämischen Blicken der Gondolieri in mir genügend Wut gesammelt hatte, und der Motor wie von Zauberhand ins Wasser glitt.
Kurz darauf blockierte ich einen Kanal: Alle Männer in den sich hinter mir stauenden Gondeln, Wassertaxis, Lastkähnen und Müllschiffen starrten auf mich, die schwitzend versuchte, in einem Kanal zu wenden, der schmaler war als mein Boot lang. Später landete ich auf dem militärischen Sperrgebiet des Arsenale, wo mich nur die Tatsache, dass ich blond und deutsch bin, davor bewahrt hat, verhaftet zu werden.
Und als ich auf die Idee kam, nach Murano zu fahren, wäre ich fast gekentert, weil der Kanal die Rennstrecke der Wassertaxis ist, die durch das Wasser pflügen, um betuchte Kunden zum Flughafen oder in die klimatisierten Showrooms der Glasbläsereien zu bringen. Gelingt es, dem einen Brecher auszuweichen, schwappt schon der nächste ins Boot.
Inzwischen habe ich zu meinem Boot ein Verhältnis wie zu einem lieb gewordenen Haustier entwickelt: Wenn ich länger nicht mehr gefahren bin, fehlt es mir. Dank ihm muss ich mich nicht mehr durch Touristenschwärme kämpfen, ich fahre an ihnen vorbei, wenn nicht sogar auf sie zu: Einmal bin ich etwas unelegant um die Ecke gebogen, weshalb ich die auf der Ufermauer sitzenden und picknickenden Touristen aufscheuchte; ein anderes Mal steuerte ich direkt auf eine Autofähre zu – die ich erst bemerkte, als sie zwei Mal das Signalhorn betätigte und die Passagiere aufgeregt mit den Armen ruderten.
Im Grunde aber sind wir friedlich, mein Boot und ich. Wir wollen nur spielen.
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