Nüsslein-Volhard: Meine Großmutter
Meine Großmutter war eine sehr begabte Malerin. Sie war eine Frau, die etwas konnte. Das hat mir imponiert. Meine Großmutter Lies machte mir vor, auch mein Talent ernst zu nehmen. Das war nicht selbstverständlich, als ich ein Kind war.
Schon in frühen Jahren habe ich mich sehr für Pflanzen und Tiere interessiert. Wann immer ich die Möglichkeit dazu hatte, hielt ich mich in der freien Natur auf. Ich liebte unseren Garten, Spaziergänge im Wald. Wenn ich draußen herumstreifte, war mein Blick meistens auf den Boden gerichtet. Ich pulte Knospen auf, sah mir die Pflanzen genau an – ich wollte wissen, wie sie wuchsen und wo, was ihre Unterschiede und besonderen Merkmale waren. Meine Großmutter ermutigte mich, sie war eine passionierte Bergsteigerin und kannte sich gut mit Pflanzen aus.
Sie selbst hatte das Glück, dass ihr Talent als Malerin schon früh unterstützt worden war. Ich hörte ihr gerne zu, wenn sie davon erzählte. Da saß eine Frau, die sich ihrer Fähigkeiten bewusst war. Und die eigene Meinungen hatte.
Wir nannten sie als Kinder "Raketen-Oma" - wegen ihres schnellen Schritts
Meine Großmutter wuchs in einer kleinen Stadt im Elsass auf, nicht weit entfernt von Straßburg. Ihr Vater leitete eine Reparaturwerkstatt der Reichsbahn, und er war, so erzählte sie mir, ein zugewandter Vater, dem die Bildung seiner Kinder wichtig war. Da meine Großmutter schon als Kind auffallend gut zeichnete, ermöglichte er ihr, Unterricht bei einem Maler in Straßburg zu nehmen.
Als junge Frau besuchte meine Großmutter wie viele „höhere Töchter“ eine Malschule, ging für ein Jahr nach München, um dort zu lernen und an der Universität Vorlesungen über Kunstgeschichte zu hören. Nach ihrer Ausbildung wollte sie in Paris weiter Malerei studieren. Aber dann verliebte sie sich und schlug den konventionellen Weg als Ehefrau und Mutter ein. Geheiratet hatte sie für die damalige Zeit relativ spät, mit 28 Jahren. Ein paar Vereinbarungen waren vor der Eheschließung getroffen worden, darunter die, dass sie selbst die Einrichtung gestalten würde.
Meine Großmutter war gebildet und lebensklug. Zum Freundeskreis meiner Großeltern in Straßburg gehörten etwa der Journalist und spätere Bundespräsident Theodor Heuss, seine spätere Frau, die Frauenrechtlerin Elli Heuss-Knapp – die die Patentante meiner Mutter war – und Albert Schweitzer, der als Theologe die beiden getraut hatte und später in Afrika als Arzt wirkte.
Ich besuchte meine Großmutter als Teenager häufig in den Ferien. Nach dem Krieg wohnte sie in einer kleinen Wohnung im Dachgeschoss des Hauses meiner Tante in Heidelberg. Mein Großvater war in einem Sanatorium an Entkräftung gestorben – er hatte seit Kriegsende an Melancholie gelitten, wie man Depressionen damals nannte.
In der Wohnung meiner Großmutter gab es ein Atelier, in dem sie ihre Staffelei und ihre Materialien hatte. An den Wänden hingen frühe Bilder von ihr, darunter einige Selbstporträts. Andere zeigten Verwandte oder Models aus der Malschule, an denen sie gelernt hatte, und Landschaften. Sie wies meine Schwester in Ölmalerei ein, ich hab’s auch versucht, aber nicht weit gebracht.
Geschichten aus der Jugend meiner Großmutter hörte ich gern. Sie erzählte, dass sie als junges Mädchen mit einer Freundin auf den Monte Rosa gestiegen und fast in eine Gletscherspalte gefallen war, dass sie allein eine große Deutschlandreise und eine Reise nach England unternommen hatte. Mit langem Lodenrock über den Kniebundhosen und einem großen Skizzenbuch, in dem sie die Bergpanoramen zeichnete. Das habe ich heute noch! Wir nannten sie als Kinder „Raketen-Oma“, wegen ihres schnellen Schrittes, sie war immer geschäftig, hat uns später Kleider genäht und bei modischen Fragen beraten.
Worüber denkst du nach? Worüber denkt ihr jungen Frauen so nach?
Sie war auch eine herausragende Köchin. Es gab immer üppiges und sehr leckeres Essen – und viele Fragen: Wie läuft es in der Schule? – Worüber denkst du so nach? – Und worüber denkt ihr jungen Frauen gerade so nach?
Damals war schon klar, dass ich in Biologie und ganz allgemein in Naturwissenschaften begabt war. Aber ich war auch handwerklich geschickt, habe viel gebastelt, gezeichnet, genäht und gekocht. Das lag sicher auch an ihrem Einfluss und dem meiner Mutter, ihrer Tochter. In das damals gängige Bild von Mädchen und jungen Frauen passte ich nicht, das spürte ich. Meine Klassenkameradinnen interessierten sich für Petticoats und die neueste Mode aus Paris, für Filmstars und natürlich für Jungs. Meine Eltern bestanden darauf, dass ich an den üblichen Tanzstunden teilnahm, wenngleich ich mich dort gar nicht wohlfühlte. Wenn es darum ging, mit umschwärmten Tanzpartnern zu flirten, war ich sehr schüchtern. Das war nicht meine Welt.
Ich besuchte ein Mädchengymnasium, hatte sehr gute Lehrerinnen. Wann immer später darüber diskutiert wurde, ob Mädchen und Jungen in Naturwissenschaften getrennt unterrichtet werden sollten, erinnerte ich mich daran, dass ich mich in meiner Mädchenklasse in meiner Entwicklung sehr frei fühlte. Ob Jungen oder Mädchen in Naturwissenschaften besser seien, war dabei nie die Frage.
Ich war übrigens keine durchweg gute Schülerin, auch nicht immer diszipliniert. Die Schulzeit hat eben nur begrenzte Aussagekraft für das spätere Leben. Ich hatte auch mal eine Vier in Latein oder in Englisch. Biologie interessierte mich eben am meisten, dafür ließ ich andere Fächer schleifen. Eine ähnliche Leidenschaft wie für Naturwissenschaft empfinde ich für Musik. Als junges Mädchen hatte ich Flötenunterricht und habe im Chor gesungen, auch hier war ich durchaus begabt. Meine Doktorandinnen und Doktoranden am Max-Planck-Institut erzählten später gerne davon, dass man mich, wenn ich morgens kam, schon im Treppenhaus singen hörte. Aber als mich meine Flötenlehrerin einmal fragte, ob ich später Musik oder Biologie studieren wolle, antwortete ich, ohne lange zu überlegen: Biologie! Das war für mich gar keine Frage.
Meine Mutter war Kindergärtnerin, sie lenkte mein Interesse mit Liebe und fand meine Neugier wunderbar. Meinen Forschergeist, wie meine Großmutter es nannte. Als es auf das Abitur zuging, bestärkte mich die Energie meiner Großmutter. Obwohl ich dazu sagen muss, dass sie mich nie besonders angefeuert hat, „etwas“ zu werden. Damals wurde nicht viel über Beruf geredet. Auch nicht mit den Eltern.
Kaum jemand sagte: Sucht euer eigenes Glück! Verwirklicht euch beruflich!
Wahrscheinlich meinten es die anderen Mädchen gut mit mir, wenn sie mir immer wieder von Alain Delon erzählten. Viele von ihnen träumten davon, nach dem Ende der Schulzeit bald zu heiraten und Kinder zu bekommen. Sie waren genauso intelligent wie die Jungen und Männer, die sich in unserem Umfeld bewegten. Aber kaum jemand sagte diesen jungen Frauen: Sucht euer eigenes Glück! Verwirklicht euch beruflich!
Es gab wenige Frauen, die wie ich als Biologinnen oder Biochemikerinnen ihren Weg suchten. Und für diejenigen, die das taten, gab es wenig Respekt. Sei es von Seiten der männlichen Kollegen oder der Gesellschaft. Das kam erst mit der Zeit. Mich beeinträchtigte das nicht in meinem Selbstverständnis. Ich fand meine Arbeit immer spannend, das stand im Zentrum. Auch nachdem ich geheiratet hatte. Die Ehe hielt leider nicht: Mein Mann und ich trennten uns, als ich 32 Jahre alt war. Ich hatte damals mehr beruflichen Erfolg als mein Mann, und daraus entstand ein Konflikt, für den wir keine Lösung fanden.
Man muss als Frau einen Partner finden, der einem intellektuell ebenbürtig ist und gefestigt in seinem Selbstbewusstsein. Wann immer ich heute einen Mann sehe, der einen Kinderwagen schiebt und offensichtlich Zufriedenheit und Erfüllung daraus gewinnt, sein Kind zum Spielplatz – und durchs Leben – zu begleiten, freue ich mich. Denn wie oft habe ich am Max-Planck-Institut in Tübingen mit Kollegen zusammengearbeitet – und wohlgemerkt waren nicht wenige von ihnen zwanzig Jahre jünger als ich –, deren Frauen sich in Vollzeit um Kinder und Haushalt kümmerten und ihren Männern vor Dienstreisen die Koffer packten.
Ich habe eine Stiftung gegründet, die junge Wissenschaftlerinnen unterstützt, damit sie sich eine Haushaltshilfe leisten und so auf ihre Forschung konzentrieren können. Wichtig ist das in meinen Augen auch, weil Frauen, die Ehrgeiz haben, nicht zögern sollen, Kinder zu bekommen. Wer Karriere machen will, sollte nicht ausschließen müssen, eine Familie zu haben. Und umgekehrt. Und warum sollten Frauen nicht die Möglichkeit haben, ihrem beruflichen Interesse so weit zu folgen wie Männer?
Meine Großmutter setzte ihre Grenzen in der für sie typischen Weise selbst. Sie hat in ihrem Leben nicht ein einziges Bild verkauft. Das gehörte sich nicht für sie. Ich habe viele aus ihrem Nachlass an der Wand hängen und bewundere sie täglich neu.
Der Text ist dem Buch entnommen: „Die Frauen meines Lebens. Frauen erzählen von ihren Heldinnen, Vorbildern und Wegbegleiterinnen“, herausgegeben von Anne Ameri-Siemens (Rowohlt Berlin).