Melanie F: Will Gerechtigkeit
Als sie die Vorladung bekommt, wird Melanie F. klar: Das war’s mit der Strategie, die schlimmsten Jahre ihres Lebens ganz tief unten in die Schublade zu stecken und nie wieder daran zu rühren. Von Ende der 1970er Jahre bis Mitte der 1980er Jahre ist die heute 58-Jährige von ihrem Pflegevater, dem katholischen Geistlichen Hans Ue., regelmäßig aufs Schwerste missbraucht worden. Zweimal wurde sie von Ue. schwanger, zweimal kam es zu einer Abtreibung. Die erste ließ der Pfarrer von einem Gynäkologen ohne F.s Wissen vornehmen.
Aber das alles weiß kaum jemand, als Melanie F. Ende 2021 als Zeugin im Landgericht Köln auftritt. Im Strafprozess gegen Hans Ue. geht es damals gar nicht um sie, sondern um nicht verjährte Missbrauchstaten des Pfarrers aus den 1990er Jahren und 2010er Jahren an drei seiner Nichten und sechs weiteren Opfern. Von Melanie F. will der Vorsitzende Richter eigentlich nur wissen, was sie über ihren Pflegevater als Mensch berichten kann. „Hätte ich die Möglichkeit gehabt, vor Gericht nicht aussagen zu müssen, hätte ich das genutzt“, sagt sie. „Aber das ging nicht. Also musste die Wahrheit heraus.“
Wenn Melanie F. über ihre Erlebnisse unterm Pfarrhausdach spricht, steht die unbeteiligt wirkende, tonlose Stimme in seltsamem Gegensatz zur Dramatik der Ereignisse. „Ich bin wie abgeschnitten von meinen Gefühlen, bin nicht mehr in der Lage, Freude zu verspüren.“
Ihre Zeuginnenaussage wird zu einem Wendepunkt im Prozess. Nun stellt sich heraus, dass Ue. schon in den 1980er Jahren zum Täter geworden war. Seine Verbrechen, deretwegen das Gericht den damals 71-Jährigen im Februar 2022 zu zwölf Jahren Haft verurteilt, erweisen sich als Teil einer fast vier Jahrzehnte langen Missbrauchsserie. Trotz zahlreicher Hinweise und wiederholter Alarmsignale hatte niemand den Täter im Priesterstand gestoppt: Seine Gemeinden nicht, nicht die Staatsanwaltschaft und auch nicht sein Bischof. Dabei wäre es möglich gewesen, weitere Taten zu verhindern, sagt der Richter bei der Urteilsverkündung.
Der Fall Ue. ist somit auch der Fall eines Systemversagens. Darin ist das Schicksal von Melanie F. von besonderer Abgründigkeit. In einem bundesweit, wenn nicht gesamtkirchlich einmaligen Schritt, erlaubte der damalige Kölner Kardinal Joseph Höffner, dass Ue. die 13-Jährige und einen zwei Jahre älteren Jungen aus einem Bonner Kinderheim zu sich nehmen durfte. Ob der Priester die damit verbundenen Auflagen einhielt und wie die Kinder überhaupt bei ihm lebten – das interessierte danach in Köln nicht mehr.
Melanie F. hat darum 2023 eine Schmerzensgeldklage gegen das Erzbistum angestrengt. Sie sieht die Kirche in Mitverantwortung für die an ihr von einem Priester begangenen Verbrechen. Das Erzbistum hingegen bestreitet eine Amtshaftung und verlangt, die Klage über die Gesamtsumme von 850.000 Euro abzuweisen. Die Begründung: Die Missbrauchstaten, so schrecklich sie seien, habe der Geistliche nicht in Ausübung eines öffentlichen Amts begangen, sondern in seiner Freizeit.
Melanie F. hat für diese erstaunliche Argumentation ein gänzlich unjuristisches Wort parat: „Schwachsinn.“ Der Missbrauch fand „immer samstags statt, zwischen Beichte und Abendmesse“. Anschließend nahm Ue. auch ihr die Beichte ab: Deine Sünden sind dir vergeben … „Für mich war er immer Priester. Wir waren die Kinder des Kaplans.“
Der Täter, sagt der Bonner Kirchenrechtler Norbert Lüdecke, habe seine Amtsautorität als „Mann der Kirche“ für den Zugang zu seinen späteren Opfern ausgenutzt. Nach kirchlicher Lehre sei ein Priester immer Priester. Dieses katholische Amtsverständnis müsse die staatliche Justiz zugrunde legen, erklärt der Kölner Staatsrechtler Stephan Rixen.
In Kürze entscheidet sich, ob das Landgericht Köln dieser Sicht folgt. Für Melanie F. ist klar: „Sollte ich unterliegen, gehen wir in die nächste Instanz.“ Es gehe ihr nicht ums Geld, sondern um Gerechtigkeit, um Verantwortung. Und um den Glauben. „Ich möchte, dass die Kirche den Glauben in Reinheit vermittelt, so wie es Jesus vorgelebt hat. Das kann sie aber nicht, wenn sie sich ihrer Schuld beim sexuellen Missbrauch nicht stellt.“ Das Schlimme an dem laufenden Verfahren sei nur: „Man bekommt den Kopf nicht frei.“
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