Vom Schmetterling zum Tornado

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Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien kann einen Tornado in Texas auslösen. Diese unter dem Namen „Schmetterlings-Effekt“ bekannte (Chaos)Theorie erle­ben wir immer dann, wenn eine „kleine, menschliche Intervention innerhalb eines instabilen politischen Systems früher oder später einen großen und kom­plexen Nachhall hat“, so formuliert es die Juristin Catharine MacKinnon in ihrem neuen Buch „Butterfly Politics“. Das kann für autokratische Regime gelten, wie im so genannten „arabischen Frühling“ – oder eben für das Patriarchat Post-Weinstein.

Der Schmetterlingsflügelschlag hat heutzutage zwischen 140 und 280 Zeichen und einen Hashtag. 2013 gab es in Deutschland den #Aufschrei, in Lateinamerika läuft seit 2015 die Bewegung #NiUnaMenos (Nicht eine weniger!), in der Türkei twitterten die Frauen im selben Jahr #sendenanlat (Erzähl auch du es!) gegen Gewalt gegen Frauen. Und jetzt also #MeToo, als Reaktion auf die Affäre Weinstein.

Ja, es ist richtig, dass jede dieser Aktionen für sich genommen auf den ersten Blick nur für kurze Empörungswellen gesorgt hat. Aber diese Wellen ­werden immer größer. Und sie kommen in immer
kleineren Abständen.

Lange Zeit wurde die öffentliche Debatte über sexualisierte Gewalt von denen geprägt, von denen sie ausgeht: von Männern, die die Verbreitungsmedien (Zeitungen, Fernsehen, Radio, Bücher) über Jahrhunderte fest in der Hand hatten. Jetzt gibt es die sozialen Medien, zu denen auch Frauen Zugang haben. Mit jeder neuen Hashtag-Aktion kann der Frauenhass weniger geleugnet werden; werden die Netzwerke zwischen den Frauen über Kontinente hinweg dichter; wird die Wut der Frauen größer. Hier eine Chronik der Proteste im Netz apropos Weinstein – und was sie ausgelöst haben.

Anne T. Donahue ist die Erste. Als die New York Times am 5. Oktober 2017 ihre Artikel-Serie über die Affäre Weinstein eröffnet, loggt sich die kanadische Journalistin auf Twitter ein. „Wann hast du DEINEN Harvey Weinstein getroffen? Ich fange an: Ich war eine 17-jährige Schülerin an einer Gemeinschaftsschule und er hat darauf bestanden, meine Schultern zu massieren, während ich tippte“, schreibt sie und klickt auf Senden. Kurz darauf hat der Tweet der Kanadierin rund 14.000 Likes, ist 5.500 mal geteilt worden – und etwa 5.500 haben Anne unter #MyHarveyWeinstein geantwortet. „Der übergriffige Fahrlehrer, der den Mädchen sagte, dass sie ihren Führerschein nicht bekommen, solange sie ihn nicht küssen“, schreibt eine. „Der Kollege, der mich in die Toilette gedrängt hat und mich dazu zwingen wollte, seinen Schwanz zu berühren. Seinen Job hat er immer noch“, eine andere.

Aber #MyHarveyWeinstein war nur ein leichtes Kräuseln auf der Oberfläche des Internets im Vergleich zu der Monsterwelle, die sich zehn Tage später auftürmte. Am 15. Oktober twitterte die Schauspielerin Alyssa Milano („Charmed – Zauberhafte Hexen“): „Wenn ihr auch sexuelle Gewalt erfahren habt, antwortet mit ‚me too‘ auf diesen Tweet.“ Binnen Stunden reagierten Frauen auf der ganzen Welt – von den Vereinigten Staaten bis Kairo. #YoTambien twitterten die Spanierinnen. #GamAni die Israelinnen. #AncheIo die Italienerinnen. Und auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz erklärten die Frauen: Me too, ich auch! „Ich war 12, als mein Stiefvater begann, mich zu missbrauchen!“, schreibt eine. „Hätte den Job bekommen, wenn ich mir mit dem Chef der Wiener PR-Agentur ein Hotelzimmer geteilt hätte“, eine andere. „Der Mann, der mir im vollen Bus an den Hintern griff. Und zwar so richtig unten rein“, erinnert eine weitere.

Auf der ganzen Welt das gleiche: Es melden sich Schauspielerinnen, Politikerinnen und auch Sportlerinnen zu Wort. Und vor allem: die Frau von nebenan. Auf die Empörung im Netz folgten weitere Outings in Zeitungen und Talkshows. Die Stimmung ermutigte Frauen (und Männer), ihre Peiniger zu nennen: Kevin Spacey, Dustin Hoffman, Brett Ratner – immer mehr sitzen nun auf der Anklagebank. #MeToo rangiert als Schlagwort für die Gegenwehr der Frauen weltweit. Und für ein neues Klima. Niemand fragt mehr: Haben wir etwa ein Problem mit sexualisierter Gewalt? Sondern die Frauen erklären laut: Wir haben ein Problem mit sexualisierter Gewalt! Und sie fragen: Was können wir tun?

Die Antwort der Französinnen auf diese Frage war noch radikaler als die der US-Amerikanerinnen. Sie twitterten schon ab dem 13. Oktober: #BalanceTonPorc, was so viel bedeutet wie: Verpfeif dein Schwein! Angefangen hat die Journalistin Sandra Muller: „Erzähl auch du von deinen Erfahrungen mit sexueller Gewalt, die du in deinem Job erlebt hast. Und nenne Namen.“

Ein Name fiel, der sorgte für internationale Schlagzeilen: der „Reform-Salafist“ und Muslimbruder Tariq Ramadan. Ermutigt von den Französinnen, die auf Twitter ihre Schweine verpfiffen, brach auch die Muslimin Henda Ayari auf Facebook ihr Schweigen: Ramadan habe sie vor fünf Jahren vergewaltigt. Kurz darauf meldeten sich weitere Frauen aus Frankreich und der Schweiz, die ähnliches berichteten.

Am 4. November dann holte die britische Frauenrechtsaktivistin Aisha Ali-Khan aus: Sie veröffentlicht eine Online-Petition, in der sie die Universität Oxford dazu aufforderte, Tariq Ramadan zu suspendieren, bis die „Vorwürfe der Sexualattacken“ aufgeklärt worden seien. 1.800 Menschen unterzeichneten Aishas Petition. Am 7. November beurlaubte die Elite-Universität Tariq Ramadan, der einen von Katar finanzierten Lehrstuhl hat. Nach eigenen Angaben einvernehmlich.

In der Zwischenzeit hatten sich auch Männer formiert. Nein, nicht die ewig gestrigen Machos und Trolle, die sich erwartbar in die Debatte einmischten. Sondern die, die es ernst meinen mit der Solidarität. Sie erklärten: #HowIWillChange, also: Was ich künftig anders machen werde. Am 16. Oktober twitterte der australische Journalist Benjamin Law: „Jungs, wir sind dran. Nach den endlosen #MeToo Geschichten der Frauen über sexuellen Missbrauch von gestern sagen wir heute: #HowIWillChange.“

Als dann im November die Vorwürfe gegen den US-Senator Roy Moore aus Alabama laut wurden, der im Alter von 32 eine 14-Jährige sexuell attackiert haben soll, folgte der Hashtag-Protest #MeAt14, ausgelöst von der Anwältin Catherine Lawson am 10. November. Sie postete ein Kinderfoto von sich: „Kein Einvernehmen mit 14. Nicht in Alabama. Nirgendwo!“

Im feministischsten Land der Welt geht es hoch her: In ­mehreren geschlossenen Facebook-Gruppen sammelten Schwedinnen aus verschiedenen Branchen ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt. 600 Namen standen unter einem Artikel im Svenska Dagbladet über die Gewalt in der Filmbranche, auf ­Twitter brachen Schauspielerinnen unter #TystnadTagning ihr Schweigen (eine Anspielung auf das „Ruhe und Action!“ am Filmset). Im Dagens Nyheter unterzeichneten 2.192 Musikerinnen einen Offenen Brief gegen Sexualgewalt in der schwedischen Musikbranche, Hashtag: #NärMusikenTystnar (wenn die Musik verstummt). Sängerinnen meldeten sich unter #ViSjungerUt zu Wort: Wir singen es heraus! Und 5.000 Anwältinnen und Richterinnen unterzeichneten einen Offenen Brief gegen Gewalt innerhalb des schwedischen Rechtssystems! Stichwort: #MedVilkenRätt (was so viel bedeutet wie: Mit welchem Recht?). Die Juristinnen berichteten von eigenen Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt und darüber, wie sie gezielt dazu aufgefordert wurden, mutmaß­liche Opfer unglaubwürdig zu machen.

„Was würde passieren, wenn eine einzige Frau die Wahrheit über ihr Leben erzählte? Die Erde täte sich auf!“, lautet ein Zitat der US-amerikanischen Schriftstellerin Muriel Rukeyser. Ja, das erleben wir gerade.

Alexandra Eul

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