Migräne. Schluss mit dem Dulden!
Schaue ich aus dem Innern meines Kopfes nach aussen, liegt die Stelle einen Zentimeter über der rechten Augenbraue. Da setzt der Bohrer an, da schraubt er sich rein. Ein unkontrollierbares Crescendo, mein Kopf scheint zu wachsen. Bald ist der ganze Körper Kopf, nur noch der Magen hat sein Eigenleben, zieht sich zusammen, wirft aus, bis nur noch ein Suppenlöffel Galle kommt. Arme, Beine, Füße hängen an mir dran als sei ich eine Schlackerpuppe aus Stoff. Alles an mir will liegen, will Dunkel, Stille, Alleinsein. Nichts riechen, nichts hören, nichts sehen.
Der Lichtstrahl, der durch die Jalousie fällt, der Suppengeruch aus Nachbars Küche, das Klingeln des Telefons, der Fussball, der gegen den Gartenzaun donnert, das Tackern des Computers im Nebenzimmer: Die Welt da draußen stinkt, lärmt und vibriert, sie prasselt auf mich ein und stösst mich von sich fort. Ich ziehe mich zurück in meinen Zimmerkäfig, wo es nach nichts riecht, nach nichts klingt und wo niemand etwas von mir will. Ich liege im Bett, auf der rechten Seite. Wenn ich mich drehe, überschwemmt mich Übelkeit. Ich greife nach der Schüssel, ein Schluck Wasser danach. Die Arbeit ist abgesagt, die Termine von morgen sind es auch. Die Bahn ist frei, der Schmerz greift Raum. Die Stunden lautlos wie zugeschneit.
Mit der Pubertät hat es begonnen. Die Migräne ist ein Erbstück von Mutter für meine Schwestern und mich. Als ich mit meinen Söhnen schwanger war, machte sie Pause. Nach den Wechseljahren ist sie, anders als bei vielen Frauen, bei mir geblieben, hat sich sogar noch verstärkt. Auch im Alter hat sie weitergemacht, hat mir meinen Alltag mit Schmerz verschmiert. Seit drei Jahren nun bekomme ich, 72, nach kompliziertem Antragsverfahren, ein neues Medikament, das auf Antikörpern gegen einen Botenstoff (CGRP) beruht und die fehlerhafte Schmerzübertragung im Hirn blockiert. Es ist das erste, eigens für die Migräne entwickelte Präventionsmedikament, kassenpflichtig nur für schwere Fälle und nur, wenn alles andere nicht hilft. Solange ich den Antikörper verschrieben bekomme, geht es mir gut, immer dann, wenn ich pausieren muss, setzt der Bohrer rechts über der Stirn von neuem an.
Mein Leben, das sind nahezu sechzig Jahre schwerer Migräne. Zweimal stand ich gesundheitlich am Abgrund, gefangen im Teufelskreis von Schmerz und Verzweiflung. Die traditionellen Medikamente zur Behandlung des Anfalls, die Triptane, begannen mir Kopfschmerz zu machen, statt ihn zu beseitigen – ich habe viel zu viele davon gebraucht. Jedes mögliche Medikament war ausprobiert, nichts hat mehr geholfen, bis ich auf der Kopfwehstation einer neurologischen Reha-Klinik Therapie und Hilfe zur Selbsthilfe fand. Ich saß damals auf dem äußersten Ast.
Dieses ererbte neurologische Leiden hat mein Leben geprägt, aber nicht ruiniert. Nein, am Ende hat es mich doch nicht untergekriegt. Ich habe ein unheilbares, kompliziertes und schmerzhaftes Leiden. Trotzdem habe ich in der Zeit zwischen den Anfällen ein fast normales Leben geführt mit Familie, Beruf, Freundschaften und, auch dies, mit Freude an kreativer Arbeit. Zeitweise ging die Sache auf Biegen und Brechen. Es gab Monate, da hatte ich jeden Tag Migräne, sie war chronisch geworden. Aber jedes Mal habe ich mir meinen geliebten Alltag zurückerobert – mit Hilfe meiner Familie, mit meinem Neurologen und meiner Hausärztin.
Fachleute schätzen, dass rund 10 bis 15 Prozent der Weltbevölkerung an Migräne leiden. Gleiches dürfte für den ganzen deutschen Sprachraum gelten, was bedeutet, dass in Deutschland, Österreich und der Schweiz insgesamt an die zehn Millionen Menschen dem neurologischen Anfallsleiden ausgesetzt sind. Migräne, ein verkanntes Massenleiden? In gewissem Sinne: Ja. Allerdings ist die Diagnose nicht leicht zu stellen, denn es gibt neben der Migräne weitere 200 bis 300 Arten von Kopfschmerz und auch die Migräne unterscheidet sich von Fall zu Fall in Häufigkeit, Intensität und Ausprägung. Außerdem kann das Ausmaß der Beeinträchtigung im Lauf eines Lebens stark variieren. Das „Unwetter im Kopf“: Es kann einmal im Jahr auftreten, jeden Monat oder wöchentlich, es kann Stunden dauern oder Tage. Es kann die Betroffenen ein Leben lang quälen oder nur sporadisch und in großen Abständen.
Was also ist es, was die Betroffenen niederwirft und vom Leben abschneidet, das sie durchschüttelt und festnagelt im Schmerz, manchmal bis zur schieren Verzweiflung?
Neurologen erklären es so: Migräne ist eine wiederkehrende, zentrale Schmerz- und Reizwahrnehmungsstörung, eine Fehlfunktion der zentralen Nervenstrukturen im Hirn mit einer Beteiligung verschiedener Botenstoffe, die auch bei Entzündungsprozessen ausgeschüttet werden. Die Migräne ist also eine neurologische Erkrankung des Hirns, die oft familiär vererbt wird und etwa dreimal häufiger Frauen als Männer trifft.
Man riecht den Braten: Dieses Krankheitsbild bietet beste Voraussetzungen für Missverständnisse, Fehldeutungen und, vor allem, für Unterstellungen aller Art. Die Betroffenen verschwinden in der Versenkung, sagen Termine ab, bleiben der Arbeit fern, sind gezwungenermaßen unzuverlässig im Einhalten von Verabredungen. Es kommt zu Leistungsabfall, die Kranken leiden massiv und wiederkehrend, nach einem großen Anfall brauchen sie einen bis zwei Tage Erholung. All dies macht Migränemenschen sozial schwierig für eine Gesellschaft, die keine Schwäche verzeiht und sich nicht interessiert für den Horror, der da abgeht im Kopf.
Darum sei hier das wissenschaftlich gesicherte Faktum festgehalten: Nein, Migräne ist keine psychische Krankheit, kein Frauenleiden, keine Hysterie und erst recht keine Drückebergerei. Auch wenn Frauen wegen hormoneller Einflüsse häufiger betroffen sind: Sie können nichts dafür, sie bilden sich nichts ein und sie schützen nichts vor. Sie sind nicht selber schuld und sie haben nichts falsch gemacht. Es ist an der Zeit, dass jeder und jede im Umfeld von Migränekranken das begreift und sich danach verhält. Wer diesem neurologischen Leiden ausgesetzt ist, braucht Unterstützung, Verständnis und Solidarität, keine Besserwisser-Sprüche und erst recht keine unerbetenen Ratschläge.
Frauen, Männer und Kinder, die an Migräne leiden, in welcher Ausprägung auch immer, brauchen vor allem eines: eine korrekte Diagnose, angepasste Medikamente und eine medizinische Fachperson, die ausreichend Kenntnis, Geduld und Interesse hat, um Menschen mit dieser kräftezehrenden und oft genug niederschmetternden Krankheit ernst zu nehmen, zu begleiten und zu unterstützen. Aber auch die Betroffenen selbst, die oft zur Resignation neigen – sie müssen einfordern, was ihnen guttut und weiterhilft. Es gibt genug
schmerzfreie Tage zwischen den Anfällen, an denen man sich informieren und mit der eigenen Situation auseinandersetzen kann. Wer Bescheid weiß, kann sich wehren, hat weniger Angst vor dummen Sprüchen und fehlendem Verständnis, sei es im Privatleben oder am Arbeitsplatz.
Das Ziel kann nicht die Heilung sein, denn die gibt es nicht. Wenn es aber gelingt, die Pausen zwischen den Anfällen zu verlängern und die Auswirkungen der Medikamente möglichst unschädlich zu halten, wenn verständnisvolle und solidarische Menschen den Betroffenen beistehen und wenn interessierte und gutinformierte Hausärzte und Spezialistinnen sie unterstützen, dann können Migränikerinnen und Migräniker ganz ordentlich leben mit ihrer Krankheit und eine Menge tun für die Verbesserung ihrer Lebensqualität. Kommt dazu, dass Diagnostik, Therapie und die Entwicklung von Medikamenten derzeit grosse Fortschritte machen.
Und ich? Wie habe ich meine fast 60 Jahre Migräne überlebt? Was hat mir geholfen, mich ermutigt und gestützt? Es ist mir mehr oder weniger gelungen, mich von der Krankheit nicht völlig beherrschen zu lassen, ich habe so getan, als sei ich im Grunde gesund. Meine Migräne, dachte ich mir, sei eher ein Konstruktionsfehler als eine Krankheit. Zum besseren Umgang mit der Belastung haben mit der Zeit eine gewisse Altersgelassenheit, größeres Wissen und eine verlässliche medizinische Begleitung beigetragen. Ich habe meine Lebensführung den Erfordernissen der Krankheit angepasst und sie damit akzeptiert. Ich habe erkannt, was mir guttut und was mir schadet.
Der Status quo: Ich lebe wie eine zufriedene Klosterfrau mit Familie, schlicht und regelmässig – mein „Stundengebet“ ist die Begegnung mit Menschen, das Schreiben, das Lesen, der Tanz. Ich nehme meine Grenzen wahr und wehre mich, wenn sie überschritten werden. Ich habe Neinsagen gelernt und ich sage oft und mit Freuden ja.
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