"Neue Dimension der Gewalt"?
Es dauert 22 Minuten, bis die Straßenbahnlinie 4 vom Appellhofplatz im Herzen der Kölner Fußgängerzone an der Haltestelle ‚Mülheim Berliner Straße‘ ankommt. Von der Kölnarena, in der sich Weltstars von Pavarotti bis Williams tummeln, sind es sogar nur zwölf Minuten. Aber wenn die Bahn dann mit einem Zischgeräusch ihre Türen öffnet, ist die deutsche Welt aus Stars und Shopping zu Ende. Auf der Berliner Straße, die sich durch den Kölner Stadtteil Mülheim schlängelt, shoppt man nicht bei H&M, sondern im ‚Karadag Supermarket‘. Man surft im Internetcafé ‚Digitürk‘, und in der ‚Pizzeria Xanthi‘ isst ein Mann mit Turban gerade Spagetti. Gut die Hälfte der 140 Klingelschilder des Wohnblocks Nummer 128 hat mindestens ein Ü oder Ö im Namen. In Mülheim, so heißt es, kann man dreißig Jahre lang leben, ohne Deutsch zu sprechen.
Hier, wo jedeR fünfte Jugendliche eineR mit ‚Migrationshintergund‘ ist, haben sich vor einigen Monaten Banden namens Stegerwald-Gang, Keupstraßen-Power oder Ghetto-Türken Straßenkämpfe geliefert. Ab und zu fielen auch Schüsse. Passanten ergriffen schleunigst die Flucht.
„Die Mülheimer hatten Angst“, erzählt Angelika Rasquin, seit acht Jahren Erzieherin im Jugendzentrum ‚Don Bosco Club‘. Sie und ihre KollegInnen hatten damals entdeckt, dass sich einige ihrer Besucher als ‚Don Bosco Club Gangsta‘ per Internet zu den Gang-Schlägereien verabredeten. Und zwar vom Computerraum des Jugendzentrums aus. „Jede Gang hatte ihre Website. Und auf denen haben sie sich inszeniert – vor ihren Autos posiert, sich gegenseitig Waffen an den Kopf gehalten und ähnlich martialische Dinge.“ Über die Internetseiten konnte die Polizei die Schläger ermitteln.
Sie nennen sich Stegerwald-Gang oder Ghetto-Türken
Bei einigen der Jungs hatte Angelika Rasquin, „die Geli“, nach der Sache verschissen. Schließlich war sie eine „Verräterin“. „Ich wurde von ein paar Jungen bedroht.“ Aber es gab auch andere. „Viele waren froh, dass sie mit der Polizei zu tun gekriegt hatten, weil sie jetzt sagen konnten: ‚Ey, ich kann jetzt nicht mehr mit euch abhängen!‘ Das haben sie sich vorher wegen des Gruppendrucks nicht getraut.“
Antonino, Radhouan und Ilias waren nicht dabei, als die Gangs im Frühjahr in den Straßen ihres Viertels Angst und Schrecken verbreiteten. „Sowas machen wir nicht mehr“, erklären die 19-Jährigen im Club mit ernsten Mienen. Die Zeiten sind vorbei. „Wir haben hier genug Junkies auf der Straße abkacken sehen, und irgendwann sagst du dir: So willst du nicht enden.“ Aber klar, früher haben sie sich natürlich auch geprügelt und vielleicht, da drücken die drei sich nicht ganz so deutlich aus, auch mal krumme Sachen gemacht.
Es bleibt einem hier schließlich nichts anderes übrig, wenn man bestehen will. „Wenn es so kommt, dann kommt es so“, sagt Radhouan, der Tunesier. „Hier wird man abgehärtet“, sagt Ilias, der Serbe. „Es ist schlimmer geworden“, sagt Antonino, der Italiener. Warum? „Auf den Straßen sind zu viele Heroes unterwegs.“
Heroes. Helden. Harte Männer. Gewalt, die als männlich gilt. Das allzu Offensichtliche wird in all den Analysen über das wieso und warum der Krawalle allzu selten ausgesprochen: Diejenigen, die in Vierteln wie Mülheim, Kreuzberg oder Clichy-sous-Bois prügeln oder Autos und Schulen abfackeln, sind stets – Männer. Männer, die „auffallend von einer Macho-Kultur geprägt sind, in der Gewalt als legitim gilt“.
Gewalt gilt in dieser Macho-Kultur als legitim
Christian Pfeiffer, Leiter des Kriminologischen Instituts Niedersachsen (KFN) ist einer der wenigen, der wagt auszusprechen, dass diese Macho-Kultur vor allem bei Türken, Ex-Jugoslawen und Russland-Deutschen boomt. Rund 10.000 Jugendliche hat Pfeiffer in westdeutschen Großstädten befragt. Und dabei herausgefunden, was herkömmliche Statistiken nicht herausfinden dürfen: Jeder zehnte türkische Jugendliche – sprich: Junge – ist ein Mehrfachtäter, einer, der mehr als fünf Gewaltdelikte begangen hat. Bei Jungen aus dem ehemaligen Jugoslawien ist es jeder zwölfte, bei Aussiedlern aus den GUS-Staaten jeder 15. – bei den Deutschen ‚nur‘ jeder 33.
Auch in Köln kommt die Kriminalstatistik zu ganz ähnlichen Ergebnissen: Der Anteil der sogenannten Nichtdeutschen an der Gesamtbevölkerung der Einmillionenstadt beträgt 17 Prozent, ‚Nichtdeutsche‘ machen aber 35 Prozent der Tatverdächtigen aus.
Keine Frage, Migranten und ihre Kinder sind auch doppelt sozial benachteiligt. JedeR zweite Kölner HauptschülerIn hat keinen deutschen Pass, aber nur jedeR neunte GymnasiastIn. Wer aus Mülheim kommt, hat die Arschkarte gezogen und findet schon qua Wohnviertel nur schwer eine Lehrstelle. Aber all das gilt auch für die Mädchen – doch die treten bei Straßenschlachten äußerst selten in Erscheinung. Die Erklärung muss also noch woanders liegen. Die von Christian Pfeiffer lautet: „Die Jungen retten ihre angeknackste Identität in eine Macho-Inszenierung. Und das stärker als je zuvor.“
Wer aus Mülheim kommt, hat die Arschkarte gezogen
Das Pfeiffer-Institut befragte Jungen und Mädchen, Deutsche und Nichtdeutsche, nach acht sogenannten „gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen“. Zum Beispiel: „Ein Mann, der nicht bereit ist, sich gegen Beleidigungen mit Gewalt zu wehren, ist ein Schwächling.“ Oder: „Als Vater ist ein Mann das Oberhaupt der Familie und darf sich notfalls auch mit Gewalt durchsetzen.“ Oder: „Männern sollte es erlaubt sein, Schusswaffen zu besitzen, um Familie oder Eigentum zu beschützen.“
Immerhin: Auch jeder 25. deutsche Junge war begeistert von solchen Machosprüchen (doch nur jedes 200. deutsche Mädchen!). Aber: Jeder vierte türkische und jeder fünfte ex-jugoslawische Junge stimmte den Aussagen zu (und nur jedes 20. türkische bzw. ex-jugoslawische Mädchen). Und jeder zehnte GUS-Aussiedler war pro (aber nur jede 100. GUS-Aussiedlerin).
Von denjenigen, die „gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen“ ablehnen, gehört nur jeder 100. zu den Intensivtätern; von denjenigen aber, die ihnen zustimmten, war jeder vierte ein Mehrfach-Gewalttäter. Pfeiffers Fazit: „Diese Männlichkeitsnormen sind der Faktor, der das Verhalten von Gewalttätern stärker prägt als alles andere.“
„Viele dieser Jugendlichen kennen vermutlich weniger Konfliktlösungsstrategien“, erklärt auch Kriminaloberkommissar Wolfgang Wendelmann, Jugendbeauftragter der Kölner Polizei. Natürlich sei der Anteil der Mädchen, die an den „Konflikten“ beteiligt sind, „verschwindend gering“. Dafür spielten sie als Auslöser bei den Gang-Schlägereien eine gewisse Rolle, wie überhaupt die Anlässe typisch männliche sind: „Da geht es um Eifersucht, Imponiergehabe oder es hat die eine Gang über die andere einen verächtlichen Rap-Text gemacht.“ Die ‚Attitude‘ der motherfuckenden Großmäuler aus Harlem und Kreuzberg hat mittlerweile auch Einzug in den Kölner „Stadtteilen mit Erneuerungsbedarf“ gehalten – bei den ‚Ossendorfer Gangstas‘ oder den Chorweiler ‚Cash-Money-Brothers‘.
Die Jungen haben überhaupt keinen Respekt vor Frauen
Früh übt sich, was ein Macho werden will. Besonders nach den Ferien in der Türkei „müssen wir die kleinen Jungen erst mal wieder von ihren Pascha-Allüren runterholen. Das bedeutet erneute Kämpfe ums Abräumen des Frühstückstisches“, erzählt eine Kita-Leiterin aus Köln-Porz. „Als ich hier angefangen habe, hatten die Jungen überhaupt keinen Respekt vor Frauen. Die fanden, ‘ne Frau hat zu Hause zu bleiben und die Wäsche zu waschen. Wenn ich wollte, dass die was machen, musste ich immer einen männlichen Kollegen dazu holen“, erzählt Angelika Rasquin. „Das erste halbe Jahr hab ich gedacht: Das halt ich hier nicht durch.“
Aber ‚Geli‘ hat sich „mit denen grün und blau diskutiert“ und sich so den Respekt der Jungs, damals zu 80 Prozent Türken, erkämpft. Die sind heute ab 20 aufwärts und mit „Frauen mit Kopftuch verheiratet, die zu Hause auf die Kinder aufpassen“. Aber: Sie sind immerhin nicht in Drogenhandel und Zuhälterei gelandet, haben Jobs und Familie. Mit Sorge beobachtet die Erzieherin eine „neue Generation“ türkischer Jugendlicher: „Bei den 14- bis 16-Jährigen rutschen viele ab. Die kriegen wir nicht gehalten.“
„Wir nennen sie macho-islamische Männer der zweiten und dritten Generation. Die machen bei uns etwa ein Drittel der türkischen Jugendlichen aus, und deren Verhalten macht uns Kopfzerbrechen“, bestätigt Dirk Cromme, Leiter des Berufskollegs Deutzer Freiheit, das einen Stadtteil neben Mülheim liegt. „Die Gewaltbereitschaft dieser Jugendlichen hat deutlich zugenommen.“
Das Kriminologische Institut Niedersachsen hat einen direkten Zusammenhang zwischen Gewaltbereitschaft und häuslicher Gewalt festgestellt. Und auch die kommt in türkischen Familien häufiger vor: So hat gut jeder vierte türkische Jugendliche gesehen, wie der Vater die Mutter schlägt – aber ‚nur‘ jedeR 15. deutsche. Jeder dritte türkische Jugendliche war selber als Kind Opfer schwerer elterlicher Gewalt.
Jeder 3. türkische Jugendliche wird von den Eltern geschlagen
„Bei ausländischen Jugendlichen sind Kampfspiele und Gewaltfilme sowie die Identifizierung mit deren Helden stark verbreitet“, sagt Pfeiffer. Zwei Drittel der zehnjährigen türkischen Jungen haben eine eigene Spielkonsole im Kinderzimmer. „Gerade in den Familien, in denen geschlagen wird, beobachten wir eine Flucht aus dem Wohnzimmer in die Phantasiewelt der Gewaltfilme und -spiele.“
Und dann kommt noch ein Faktor hinzu. „Seit einiger Zeit ist zu beobachten, dass sich junge Türken re-islamisieren und sich dabei auch islamistischen Organisationen zuwenden“, warnt der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer. Es liegt auf der Hand, dass die Faszination für „gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen“ und die zunehmende Nähe türkischer Jugendlicher zum islamischen Fundamentalismus zusammen hängen. So stimmte jeder vierte der von Heitmeyer befragten Jugendlichen der Ansicht zu, die politische Durchsetzung religiöser Ziele mit Gewalt sei in Ordnung.
Der Soziologe: „Gerade jene Jugendliche, denen in der Familie immer noch Maßstäbe einer traditionell patriarchalischen Gesellschaft vermittelt werden, wollen die von der deutschen Umgebung erzeugte Unterlegenheit mit eigenen Überlegenheitsphantasien bekämpfen.“ Die islamistische Überlegenheitsfantasie beginnt in den eigenen vier Wänden. „Die Unterordnung der Frau ist Teil der Botschaft.“
Als einer mal Sercans Schwester beleidigt hat, hat er den gefragt, was das soll. Der andere hat gesagt, er wüsste nichts von einer Beleidigung. „Da hab isch den geschlagen.“ Sercan weiß nicht, ob er jetzt stolz gucken oder verlegen lächeln soll. Die Verlegenheit siegt. Sercan ist gerade 14 geworden, seine Schwester ist ein Jahr jünger als er. Sie ist heute Nachmittag nicht hier in der Jugendbegegnungsstätte Waldbröl, kurz: JUBS. Es sind überhaupt keine türkischen Mädchen hier, heute nicht und auch sonst nie. „Meine Schwester muss nachmittags zu Hause bleiben, meiner Mutter helfen“, erklärt Sercan. Wie er das findet? „Gut.“
Studie: Die Unterordnung der Frau ist Teil der Botschaft
Waldbröl liegt rund fünfzig Kilometer östlich der Metropole Köln. 1977 wurde in der bergischen Kleinstadt eine Außenstelle des Auffanglagers Unna-Maassen eingerichtet. Seither ist der Bevölkerungsanteil der Zugezogenen aus den sogenannten GUS-Staaten und Polen ständig gestiegen. Heute liegt er bei rund 35 Prozent. Nur 2,5 Prozent der Waldbröler BürgerInnen hat einen türkischen Pass.
Deutsche Freunde hat Sercan auch, klar, kein Thema. „Aber keine Weicheier.“ Was genau ist ein Weichei? „Na, so ein Muttersöhnchen, das nisch mit seinen Kumpels abhängt.“ Ganz angekommen ist Sercan aber noch nicht in der Welt der großen starken Brüder. „Die Türken“ sagt er, „die machen oft ‘n Dicken. Aber isch nisch. Isch mach das nisch so gern.“
Mag sein, dass der kleine Pascha die Kurve noch kriegt. Das wäre dann wohl maßgeblich Christel Kirsch zu verdanken. Die 51-jährige Mutter zweier Töchter ist hier eine Art Mutter der Kompanie. Sie mag ihre Jungs, auch wenn sie manchmal verdammte Machos sind, und ihre Mädchen sowieso. Aber bei Christel gelten strenge Regeln: „Bitte und Danke sagen, Deutsch reden, und zwar in ganzen Sätzen, und sich bemühen, andere so zu lassen, wie sie sind.“
Nur manchmal macht die JUBS-Betreuerin eine Ausnahme von Regel Nummer zwei. Wenn die russischen Jungen allein im Zentrum sind, dann dürfen sie auch schon mal über die Anlage Volksmusik aus ihrem Heimatland hören, an das sich die meisten von ihnen schon gar nicht mehr erinnern können. „Das klingt wie der Musikantenstadel, aber dann sitzen diese harten Jungs hier und denen rollen die Tränen über die Wangen. Und dann darf man die auch mal in den Arm nehmen.“
Die Momente, in denen der Panzer Risse zeigt, sind selten. Das Image der russischen Aussiedler-Jungs ist schlecht in Waldbröl. „Wir sind die schlimmste Stadt überhaupt“, meint der rotblonde Jakob. Wieso? „Das steht in der Statistik.“
In der Statistik steht, dass die Kriminalitätsrate im letzten Jahr wieder gestiegen ist, um 17 Prozent. Nicht in der Statistik steht, wie viele der ‚Sachbeschädigungen‘ oder ‚Rohheitsdelikte‘ auf das Konto von Aussiedlerjugendlichen gehen, denn russlanddeutsche Tatverdächtige werden neuerdings in Waldbröl nicht mehr getrennt ausgewiesen. Im Gegensatz zur NRW-Landes-Kriminalstatistik – die führt seit dem 1. Januar 2004 „tatverdächtige Spätaussiedler“ erstmalig separat auf. Christel Kirsch begrüßt das. „Wenn man ein Problem hat, muss man’s auf den Tisch packen. Sonst kann man es nicht lösen.“
Man muss das Problem auf den Tisch packen, um es zu lösen
Gemunkelt wird, dass in Waldbröl drei Viertel der ‚Körperdelikte‘ und der Einbrüche auf das Konto von russlanddeutschen Jungen gehen. Man hört auch, dass es in Waldbröls größter Aussiedler-Siedlung ‚Im Eichen‘ Schutzgelderpressungen geben soll. Was davon Vorurteil und was Wahrheit ist, ist schwer zu sagen.
Sicher ist jedenfalls, dass die „Beschreibung der Ausgangslage“ in der Bewerbung der Eichener Grundschule Isengarten um den „Landespreis für Innere Sicherheit 2005“ folgendermaßen klingt: „Die Familiensituation im Stadtteil ist geprägt von Sozialhilfe, Arbeitslosigkeit und Migrationshintergrund. Insbesondere die Mütter verfügen oft über keine oder lediglich rudimentäre Deutschkenntnisse. In den Familien erleben die Kinder Väter mit hohem Alkoholkonsum und Fälle häuslicher Gewalt. Die Erziehung der Kinder ist oft von Brutalität gekennzeichnet.“ Beispiele aus dem Schulalltag: „Kinder aus Aussiedlerfamilien reagieren nicht auf verbale Anweisungen, wenn in der Familie nur mit Körperstrafen sanktioniert wird.“ – „Türkische Jungen haben aufgrund ihrer Erziehung häufiger Probleme, die Anweisungen von Lehrerinnen zu befolgen.“ – „Kinder dürfen aus religiösen Gründen nicht an Klassenfahrten teilnehmen.“
Das gilt in Waldbröl nicht nur für türkische Kinder, genauer: Mädchen, sondern manchmal auch für russlanddeutsche. Zum Beispiel für Elisabeth. Bankkauffrau will die Realschülerin werden, die schon seit einer Stunde den Internet-Platz im Erdgeschoss der JUBS besetzt hält. Sie chattet. Wenn gleich um 13 Uhr der Bus kommt, muss sie sofort nach Hause, der Chat ist ihr Tor zur Welt. Elisabeth muss ihre langen blonden Haare immer zusammenbinden, Hosen darf sie nicht tragen. Auf Christel Kirschs Drängen hin durfte die 16-Jährige schließlich doch noch mit in die Jugendherberge, aber ihre Eltern bestanden darauf, sie jeden Abend abzuholen und morgens wieder hinzubringen.
Das sind Vorstellungen aus dem letzten Jahrhundert
Damit haben die muslimischen Fundamentalisten nichts zu tun – aber die christlichen. Das 20.000-Einwohner-Städtchen Waldbröl hat neben den gewohnten katholischen und evangelischen Kirchen nicht nur zwei Moscheen, sondern auch eine Baptisten- und eine Mennoniten-Gemeinde. Im Kinderraum der Baptistenkirche sind der einzige Wandschmuck ein Engel und ein Teufel. „Jakob hat heute seine Hausaufgaben nicht gemacht und bekommt deshalb einen Teufel“, steht dort. Der Jugendraum dagegen hängt voller Hochzeitsfotos mit Brautpaaren, von denen ein nicht unbedeutender Teil sehr jung, wenn nicht minderjährig aussieht.
Die Mehrheit der Waldbröler Aussiedlerjugendlichen sind „religiös geprägt“, schätzt Jürgen Hennlein, Lehrer an der Waldbröler Gesamtschule. Er erzählt von „viel zu braven, überangepassten Mädchen“. Auch die Jungen verhielten sich oft angepasst. „Aber wenn die ausflippen, dann richtig. Da wird dann nochmal nachgetreten.“ Schwer aufzubrechen seien diese Rollenmuster. „Das sind Vorstellungen aus dem letzten Jahrhundert“, sagt Hennlein resigniert. „Und deshalb werden wir auch mehr als eine Generation brauchen, um die zu knacken.“
Das ‚Bundesamt für ausländische Flüchtlinge und Migranten‘ (BAFL) hat das ‚Sprachzentrum‘ in Eichen vor vier Jahren geschlossen, wo die AussiedlerInnen – im Gegensatz zu ihren türkischen MitbürgerInnen – nicht nur Deutsch lernen konnten, sondern auch vom Arbeitsamt und bei der Wohnungssuche betreut wurden. Die Bürgergemeinschaft ‚Wir in Eichen‘ versucht, mit Stadtteilfesten und Hausaufgabenbetreuung die verhärteten Fronten zwischen Deutschen, Türken und Russlanddeutschen aufzuweichen, damit letztere den Türken nicht länger „Ausländer raus!“ auf ihre Hauswände sprühen. An der Grundschule Isengarten gibt es seit Mai dieses Jahres eine „Ordnungspartnerschaft“ aus Schule, Bürgergemeinschaft und Polizei. Regelmäßige Elternabende, strenge Pausenaufsichten und Anti-Gewalt-Unterrichtseinheiten mit Polizisten sollen den Gewaltpegel senken. Und auch im ‚Waldbröler Netzwerk‘, in dem sich mehrere soziale Verbände unter der Trägerschaft der Stadt zusammengefunden haben, ist am 1. Dezember ein Projekt mit dem etwas sperrigen Titel ‚Innovative Sozialbetreuung bei straffälligen und gefährdeten Jugendlichen mit Migrationshintergrund‘ gestartet. Ob man die zehn Prozent „Intensivtäter“, die Christian Pfeiffer in seiner Befragung ausgemacht hat, damit von ihren Taten abhält? Einen Versuch ist es wohl wert.
Der Achtjährige in der Bahn spielt mit einem Messer
In Köln versucht die Polizei, mit einem speziellen Konzept zumindest die „Mitläufer“ von der schiefen Bahn wieder auf den rechten Weg zu bringen. Seit Mai 2003 verabredeten sich in einschlägigen Vierteln immer öfter Jungengangs zu Schlägereien. Als dafür sogar Molotow-Cocktails gebastelt wurden, gründete die Polizei die ‚Ermittlungsgruppe Molli‘. Die ‚EG Molli‘ nahm die Personalien aller Beteiligten auf, auch die der nicht straffälligen, die normalerweise unerkannt durchs Netz geflutscht wären. Diese rund 300 Jungen besuchten die BeamtInnen nun zu Hause. „Den Eltern wurde da oft zum ersten Mal klar, was ihr Sohn eigentlich treibt“, erzählt Wolfgang Wendelmann. Das Konzept: Die Isolation des harten Kerns.
Denn diese Minderheit der Machos, das wissen auch MännerforscherInnen, machen in Jungencliquen das Gesetz. „Wir müssen die Jungen aus diesen problematischen Gruppen rausholen. Dann werden die wenigsten straffällig.“
Tatsächlich ist kaum ein Junge auf Wendelmanns Liste innerhalb eines Jahres wieder einschlägig aufgefallen.
Auch bei den Mülheimer Bandenkriegen wandte die Polizei das Prinzip Präventivgespräch an. Interessanterweise funktioniert es bei türkischen Jungen am besten. „In diesem Fall kann man sich die zum Teil stark patriarchalische Struktur der Familie zunutze machen“, erklärt Wendelmann. „Da nimmt der Vater sich den Sohnemann zu Brust, und das nützt in der Regel. Aber es gibt natürlich auch Familien, in denen das nicht mehr funktioniert“, klagt Wendelmann. Dann muss das Kommissariat für Intensivtäter ran.
Radhouan, der Tunesier, Antonino, der Italiener, und Ilias, der Serbe, gehören zu denen, die es geschafft haben. Ihre Freundinnen hätten einen guten Einfluss auf sie, sagen sie, und ihre Eltern haben ihnen die Hölle heiß gemacht. Radhouan geht jetzt auf die Höhere Handelsschule, Antonino macht seinen Realschulabschluss nach, Ilias sogar Abitur.
Auf dem Rückweg von der ‚Mülheim Berliner Straße‘ über die Kölnarena zum Appellhofplatz steigt eine türkische Mutter mit Kopftuch mit ihrem Sohn in die Straßenbahn. Der Kleine ist nicht älter als acht. Er spielt mit einem Plastikmesser. Das Logo auf seiner Jogginghose: ‚Airbase Hero‘.