Minu Nikpay: Ja, es war Völkermord!
Eigentlich ist es schade, mit Minu Nikpay über Ereignisse zu sprechen, die lange vor ihrer Geburt geschehen sind. Denn es gäbe so viele spannende Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen: von ihrer Kindheit zwischen Istanbul und dem Iran; von ihrer Karriere als Model; von ihrem Modegeschäft in Köln.
Aber die Lebensgeschichte jedes armenischen Menschen ist untrennbar mit dem Genozid am eigenen Volk verbunden. Den beging die Türkei 1915 – und leugnet ihn bis heute. Das sieht auch Minu Nikpay so: „Das ist gerade mal zwei Generationen her.“
Dass ihr eigener Großvater nur knapp überlebte, erfährt Minu erst, als sie schon fast 20 Jahre alt ist. Kurz nach dem Abitur in Deutschland liest sie Franz Werfels Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ über den Widerstand der Armenier in der Südtürkei. Sie verschlingt den 900-Seiten-Wälzer in drei Tagen. „Danach habe ich gedacht: Verdammt noch mal, wieso weiß ich davon nichts?“
Die armenischen Frauen sind
nun mal die,
die den Laden schmeißen.
Zurück in Istanbul stellt sie ihre Familie zur Rede. Der Großvater bricht sein jahrzehntelanges Schweigen. Er erzählt von einer gefährlichen Zeit. Damals lebten hunderttausende armenische Christen in der heutigen Türkei, immer wieder geplagt von Unterdrückung, Rechtlosigkeit und Pogromen. Nachdem 1908 die „Jungtürken“ den Sultan entmachtet hatten, verschärften sich die Verhältnisse noch. Denn die neuen Herrscher setzten auf Einheit durch Nationalismus, durch Abgrenzung des türkischen „Wir“ von allen Nicht-Türken und Nicht-Muslimen.
Im Ersten Weltkrieg wurden die Armenier zum Sündenbock für militärische Niederlagen gegen Russland. Der Vorwurf: Sie würden die türkische Armee sabotieren, um mit russischer Hilfe einen armenischen Nationalstaat zu gründen.
Am 24. April 1915 begann der Genozid mit der Deportation prominenter Armenier aus Istanbul. Ihr Schicksal ist bis heute ungeklärt. Im restlichen Land wurden die Armenier systematisch entwaffnet und oft ermordet; der größere Teil jedoch wurde auf Todesmärsche Richtung Süden geschickt. Um der sicheren Vernichtung zu entgehen, desertierte Minu Nikpays Großvater aus der türkischen Armee – und floh in einem Fischerboot übers Schwarze Meer nach Sofia. Erst Jahre später kehrte er in die Türkei zurück. Von seiner Familie lebte niemand mehr.
„Bis heute fällt es Armeniern aus der Türkei schwer, über den Genozid zu sprechen“, sagt Minu Nikpay. Dort ist das Thema tabu, die Rede ist – behördlich verordnet – allenfalls von den „Ereignissen von 1915“. Doch auch in Deutschland, klagt Minu, wolle keiner über das Unrecht des Völkermords sprechen. „Die Deutschen – insbesondere in der Politik und in den Kirchen – wollen das gar nicht hören. Als erstes heißt es immer: Wir möchten unsere türkischen Mitbürger nicht verärgern.“ Die Armenierin fügt trocken hinzu: „Weil die Türkei das Unrecht leugnet, müssen wir Armenier uns permanent rechtfertigen. Diese Energie könnten wir wirklich woanders gebrauchen.“
Bis heute fällt
es Armeniern schwer, über
den Genozid zu sprechen
Regelmäßig reist sie nach Armenien, oft im Auftrag der größten armenischen Kirchengemeinde Deutschlands in Köln. Dass der Gemeindevorstand fast ausschließlich weiblich besetzt ist, findet die Vorsitzende Minu Nikpay normal: „Die armenischen Frauen sind nun mal die, die den Laden schmeißen. Das war schon immer so.“
Frauen, die den Laden schmeißen – die nennt man dann „streitbar“. So beschrieb der Kölner Stadt-Anzeiger Minu Nikpay, als sie 2010 überraschend als Spitzenkandidatin der CDU für die Wahl zum Kölner Integrationsrat aufgestellt wurde. Ja, sie streitet – vor allem gegen türkischen Nationalismus in Deutschland. Den Zulauf zu radikalen, extremistischen Bewegungen wie „Milli Görüs“ und den „Grauen Wölfen“ dürfe man nicht unterschätzen, sagt sie. Antisemitismus, Terrorismus und die Überhöhung des Heimatlandes: Das sei der Rechtsextremismus unter Migranten, vergleichbar mit der NPD unter Deutschen.
Im Integrationsrat lernte die Armenierin, wie das Spiel geht: Es geht um Stimmen, Koalitionen, Mehrheiten. Die Mehrheit im Integrationsrat haben 2010 Türken. Die CDU stellt Minu Nikpay nicht zur Wahl der Ratsvorsitzenden auf, sondern einen Vertreter der „Mevlana“-Liste. Szenekenner sehen „Mevlana“ in der Nähe der rechtsextremen „Grauen Wölfe“. Den politischen Parteien jeder Couleur sei es in Deutschland egal, aus welcher Ecke jemand komme, kritisiert Minu Nikpay. Hauptsache Migrant, denn das sieht weltoffen und multikulturell aus. Auch wenn es das genaue Gegenteil ist.
Für Minu ist Deutschland Heimat geworden – nun doch. Seit dem Tod ihrer Mutter lebt sie allein in ihrer Altbauwohnung in Köln-Deutz, wo Kunst aus der ganzen Welt an den Wänden hängt: Das ehemalige Laufsteg- und Foto-Model, das acht Sprachen spricht, ist viel herumgekommen. Nebenher hat sie immer in ihrem erlernten Beruf als Übersetzerin gearbeitet. Inzwischen betreibt sie ein Versicherungsbüro.
Ihr Kraftquell in schwierigen Zeiten ist Istanbul. Immer noch ist die Metropole am Bosporus für sie die „Königin“ der Städte. „Jedes Mal, wenn ich dort bin, gehe ich in die Straße, in der wir gewohnt haben, und atme den Geruch ein.“ Doch im Viertel erinnert kein einziger Straßenname mehr an die griechisch-armenische Vergangenheit. Selbst ihre Lieblingsstraße wurde umbenannt: Sie heißt nun „Bozkurt Caddesi“, Straße des Grauen Wolfs.