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Im Frühjahr 1989 reichte es ihr endgültig. Warum sollte sie sich in dem Kanton, in dem sie lebte und arbeitete, politisch nicht beteiligen dürfen? Sie zahlte Steuern – genau wie die Männer. Theresia Rohner hatte die Ausflüchte satt. Auf Bundesebene durfte sie wählen. Dort gehörten die Schweizer Bürgerinnen seit dem 7. Februar 1971 ganz offiziell zur obersten Gewalt der direkten Demokratie. Auf Bundesebene entschieden die Frauen über alle möglichen Fragen – aber im Kanton Appenzell Innerrhoden sollten die Frauen noch nicht einmal über den Bau einer neuen Straße mitentscheiden dürfen?
Und überhaupt: Wie absurd war es, dass bislang alle Versuche, den Frauen das kantonale Stimmrecht zu geben, in Appenzell gescheitert waren, weil ausschließlich die Männer darüber entscheiden konnten. Bereits zweimal – 1973 und 1982 – hatten die Appenzeller dem Frauenstimmrecht auf kantonaler und kommunaler Ebene eine Absage erteilt und damit verhindert, dass ihre Ehefrauen, Schwestern, Mütter und Töchter eine eigene politische Stimme bekamen.
Theresia Rohner konnte das nicht verstehen. Die 35-Jährige betrieb zu dieser Zeit einen Töpferladen im Zentrum von Appenzell, war verheiratet und hatte zwei kleine Töchter. Am 5. April 1989 wendete sie sich an die Kantonsregierung und stellte ein offizielles Gesuch: An der kommenden Landsgemeinde am 30. April wollte sie genauso teilnehmen dürfen wie die Männer.
Im gesamten Kanton Appenzell Innerrhoden lebten damals knapp 14.000 Menschen, rund ein Drittel davon in Appenzell, dem malerischen Hauptort mit seinem hübschen Zentrum aus dem 16. Jahrhundert, mitten in den Appenzeller Alpen. Hier ist man bis heute stolz auf die Landsgemeinde. Bei dieser ältesten und einfachsten Form der direkten Demokratie versammeln sich die stimmberechtigten Bürger auf dem Landsgemeindeplatz und stimmen durch das Heben der Hand oder eines Säbels über die vorgetragenen Anträge ab.
Die Kantonsregierung von Appenzell Innerrhoden nahm das Gesuch von Theresia Rohner zur Kenntnis und reagierte erstaunlich schnell: Bereits zwei Wochen später lehnte sie es mit Verweis auf die Kantonsverfassung offiziell ab und stellte klar, dass den Frauen das Stimmrecht in kantonalen Angelegenheiten und die Teilnahme an der Landsgemeinde und an Bezirksgemeinden nicht zustehe.
In ihrem Töpferladen sprachen sie Touristen auf das fehlende Frauenstimmrecht an und schüttelten über die Rechtslage den Kopf. In ihrem eigenen Kanton hingegen stieß ihre Wut auf kein Verständnis. Sogar in ihrem Freundeskreis bekam sie immer wieder zu hören, dass das Frauenstimmrecht doch gar nicht so wichtig sei. Die Frauen hätten doch schließlich zu Hause das Sagen. Die Landsgemeinde könne man ruhig den Männern überlassen. Tatsächlich hatte die Verwaltung der Familienfinanzen durch die Frauen in Appenzell eine lange Tradition, ein großer Teil der Ansässigen waren Bauern, die Männer verbrachten viele Monate im Jahr auf der Alp. Die Frauen waren in dieser Zeit für die Betriebe verantwortlich. Doch war das ein Grund, auf das Recht zur politischen Beteiligung kampflos zu verzichten? „Versteh’ doch, mein Mann ist da dabei. Ich kann mich da nicht aussetzen, ich muss meine Familie schonen“, sagten selbst Frauen aus dem engen Umfeld.
Theresia Rohner hatte aber kein Verständnis. Sie beschloss zu handeln – auch ohne Unterstützerinnen und Mitstreiter. Am 22. Mai 1989 wendete sie sich ans Bundesgericht und legte eine Stimmrechtsbeschwerde ein. Noch heute erzählt man sich in Appenzell, Theresia Rohner habe „das halt machen können“, weil sie eine „Zugezogene“ gewesen sei, also gar keine echte Appenzellerin. Sie stammte schließlich aus dem elf Kilometer entfernten Herisau.
Rohners Gang zum Gericht galt als absolute Provokation – auch unter den Anwälten in Appenzell, von denen sie keiner unterstützen wollte. Eine Anwältin aus St. Gallen, Hannelore Fuchs, übernahm schließlich die juristische Vertretung. Theresia Rohner beantragte, dass die Verfügung der Kantonsregierung vom 18. April 1989 aufgehoben werden solle, und begründete dies damit, dass die Verweigerung des Frauenstimmrechts in kantonalen Angelegenheiten eine verfassungswidrige Diskriminierung sei. Das Kantonsrecht stünde hier im Widerspruch zur Bundesverfassung.
Doch das Bundesgericht gab im Oktober 1989 die Beschwerde an die nächste Landsgemeinde zurück. Diese solle am 29. April 1990 zusammentreten und über das Frauenstimmrecht entscheiden.
Damit umging der Bund eine eigene Stellungnahme und gab gleichzeitig seinem zweitkleinsten Kanton die Chance, zumindest einigermaßen das Gesicht zu wahren. Die Appenzeller Männer bekamen die Möglichkeit, selber zur Vernunft zu kommen und dem Frauenstimmrecht zuzustimmen.
Das verärgerte die Gegner des Frauenstimmrechts. Die Gemäßigteren verwiesen auf das kantonale Recht. Darin hieße es, „Landsleute und Schweizer“ dürften abstimmen. Damit seien explizit keine Frauen gemeint. Bei anderen kochten die Emotionen hoch: Die Frauen hätten auf dem Landsgemeindeplatz nichts zu suchen, die sollten zu Hause das Essen vorbereiten und nicht Politik treiben. „Nur faule Weiber, die den ganzen Tag im Café herumsitzen und fünf vor zwölf eine Raviolibüchse öffnen, wollen das Stimmrecht“, gab ein erzürnter Appenzeller der Presse zu Protokoll. Zudem würden auch rein praktische Gründe gegen das Frauenstimmrecht sprechen: Der Landsgemeindeplatz sei viel zu klein, wenn auch Frauen dabei wären. Und zudem: Viele Männer würden mit dem Säbel abstimmen. Womit sollten das die Frauen tun – etwa mit der Scheide? Grölendes Gelächter und erbostes Kopfschütteln in den Wirtshäusern.
Endlich kam der Tag der entscheidenden Landsgemeinde, der Hauptplatz von Appenzell füllte sich mit Menschen: Innerhalb des sogenannten „Rings“ versammelten sich die stimmberechtigten Männer mit ihren Säbeln. Außerhalb standen die Appenzellerinnen, die Presse und viele, die extra für diese Abstimmung nach Appenzell gereist waren. Die Abstimmung über das kantonale Frauenstimmrecht war der achte Tagesordnungspunkt. Der Regierungschef des Kantons, Landammann Beat Graf, ein älterer Mann in schwarzem Talar und mit silbernem Haar, trug den Antrag vor: „Wer dem Landsgemeindebeschluss über die Einführung des Frauen Stimm- und Wahlrechts zustimmen will, der bezeuge es mit der Hand.“ Einige Männer hoben die Hände, eine überschaubare Zahl. „Der dem Landsgemeindebeschluss nicht zustimmen will, der bezeuge es mit der Hand.“ Unzählige Hände und Säbel schnellten empor – eine erdrückende Mehrheit. „Das zweite Mehr ist das größere Mehr. Der Antrag ist abgelehnt.“ Gerade einmal 28 Sekunden dauerte die Abstimmung, sie steht auf YouTube.
Jubel brandete auf: „Den Weibern haben wir’s heute gezeigt“, riefen einige. Aber auch Buhrufe waren zu hören, die Empörung war spürbar. Beat Graf musste zur Ordnung rufen: „Alle Ruhe bitte! Wir haben noch andere wichtige Geschäfte. Geschäft neun, das Gesetz über die Versorgung mit Radio- und Fernsehprogramm.“
Die Heftigkeit der Ablehnung des Frauenstimmrechts und die Häme, mit der die Gegner nun in Appenzell auftrumpften, rüttelte endlich auch andere auf, die sich Theresia Rohners Kampf anschlossen. Einen Monat später wendeten sich gleich zwei Interessengruppen an das Bundesgericht und erhoben staatsrechtliche Beschwerde gegen den Landsgemeindebeschluss. Der Beschluss sollte aufgehoben werden. Die eine Beschwerde stammte von Ursula Baumann und weiteren 52 im Kanton Appenzell Innerrhoden wohnhaften Frauen. Die zweite, gleich lautende Beschwerde stammte von Mario Sonderegger und 48 Männern. Endlich solidarisierten sich auch Einheimische mit der „Zugezogenen“ aus Herisau. Der Fall kam nun doch noch vor das Bundesgericht. Der Ton in Appenzell jedoch wurde rauer. Als Initiatorin allen Übels wurde Theresia Rohner mit anonymen Anrufen belästigt und bedroht. Sie zog für mehrere Monate den Stecker.
Der Tag der Entscheidung kam. Am 27. November 1990 verkündete das Bundesgericht in Lausanne einstimmig und unmissverständlich: „Wer den Frauen das Stimmrecht verweigert, verstößt gegen die Bundesverfassung.“ Der Wahlrechtsartikel der Innerrhoder Verfassung wurde neu interpretiert. Mit den im Gesetzestext genannten stimmberechtigten Landsleuten seien künftig auch Frauen gemeint. Der Entscheid galt ab sofort, eine erneute Abstimmung vor der Landsgemeinde war nicht nötig. Theresia Rohner stand auf den Stufen des Bundesgerichts und war am Ziel. Sie hatte es geschafft.
Doch der Kampf zu Hause war noch nicht vorbei. Die Verlierer zeigten sich von ihrer hässlichsten Seite. Die Gegner des Frauenstimmrechts reagierten mit unverhohlenem Frauenhass: „Die Frauen sollen lieber in den Spitälern die Nachttöpfe leeren und Hintern putzen.“ „Die Schönsten sind es nicht, die jetzt ein offenes Maul haben.“ Ein Stein flog durch das Fenster ihres Töpferladens. Theresia Rohner erhielt Polizeischutz.
Die Polizei schützte sie auch, als die Frauen in Appenzell einige Monate später, am 28. April 1991, das erste Mal als stimmberechtigte Bürgerinnen an der Landsgemeinde teilnehmen durften. Doch zum Glück blieb eine offene Konfrontation aus. Wider Erwarten verlief die Wahl friedlich.
Und heute? Haben sich die Appenzeller an die „von oben“ verordnete Gleichberechtigung von Männern und Frauen gewöhnt? Zum 25. Jubiläum des Frauenstimmrechts in Appenzell 2015 kam die Presse wieder ins Dorf und fragte nach. „Vorher war es besser als jetzt“, sagt ein Mann um die 60 in die Kamera. „Da konnte man das Zeug zu Hause mit der Frau diskutieren und man hat eine Einheit hingekriegt. Dann hat man gemeinsam Ja oder Nein gestimmt, aber der Mann hat abgestimmt. Und die Frau hat sich um die Familie gekümmert.“ Ein alter Mann rechtfertigt sein Wahlverhalten von damals: „Es ging gar nicht so sehr gegen die Frauen. Uns ging es darum, die Tradition zu bewahren.“ Und ein Dritter stellt resigniert fest: „Einige Leute würden das Frauenstimmrecht heute noch ablehnen – wenn man sie denn fragen würde.“ Von 50 Jahren Frauenstimmrecht ist man in Appenzell im wahrsten Sinn des Wortes noch weit entfernt.
Und die Frauen? „Ich habe damals nicht dafür gekämpft“, erklärt eine Frau mit kurzen weißen Haaren in die Kamera. „Mir war klar: Das ist eine Frage der Zeit. Und man muss immer die Zeit walten lassen.“ Wie gut für die Frauen von Appenzell, dass in diesem Fall die Zeit einen Namen hatte: Theresia Rohner.
ISABEL ROHNER
WEITERLESEN: Der Text ist ein Nachdruck aus „50 Jahre Frauenstimmrecht“, Hrsg. Isabel Rohner/Irène Schäppi (limmat Verlag).
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