Trotz Rückgang: Kein Grund zur Entwarnung

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Die gute Nachricht: Der Missbrauch an Mädchen und Jungen geht zurück. 11.500 Menschen zwischen 16 und 40 Jahren hatte das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) im Auftrag von Bundesbildungsministerin Schavan befragt. Das Ergebnis: 6,4 Prozent der weiblichen und 1,3 Prozent der männlichen Befragten gaben an, vor ihrem 16. Lebensjahr mindestens einen sexuellen Übergriff erlebt zu haben. Vor knapp 20 Jahren hatten noch 8,6 Prozent der Frauen und 2,8 Prozent der Männer erklärt, als Kind oder JugendlicheR sexuell missbraucht worden zu sein. Ob man den Rückgang wie KFN-Leiter Christian Pfeiffer „dramatisch“ findet, kommt allerdings darauf an, wie man die neuen Zahlen interpretiert.

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Zweifellos ist es erfreulich, dass 20 Prozent weniger Mädchen und 50 Prozent weniger Jungen Opfer werden. Aber: Immer noch ist jedes 15. Mädchen betroffen, das heißt: In jeder Schulklasse sitzen zwei Mädchen, deren Vater, Onkel, Trainer (oder Lehrer) zum Täter geworden ist. Und das sind nur die offiziellen Angaben, denn wie auch Opferverbände beklagten, dürften viele Betroffene aus Scham oder Verdrängung über den Missbrauch geschwiegen haben. Dass es so ist, dafür spricht auch die äußerst geringe Zahl an türkischen Mädchen und Frauen, die einen Missbrauch angaben: Nur 1,7 Prozent erklärten, einen sexuellen Übergriff erlebt zu haben – und das, obwohl laut einer anderen KFN-Studie die körperliche Gewalt in Migrantenfamilien über dem Durchschnitt liegt.
Ein echter Erfolg ist das massiv gestiegene Anzeigeverhalten der Opfer: Während 1992 jedes zwölfte Opfer den Täter anzeigte, ist es im Jahr 2011 jedes dritte! Die jahrzehntelange Aufklärungsarbeit von Feministinnen und Organisationen wie „Wildwasser“ oder „Zartbitter“, die ab den 70ern das große Schweigen über das Tabuthema brachen und es in die Gesellschaft trugen, hat offenbar Früchte getragen. Christian Pfeiffer hält die gestiegene Wehrhaftigkeit der Opfer für die entscheidende Ursache für die sinkenden Missbrauchs-Zahlen. „Die Gefahr einer Anzeige dämpft den Tatendrang potenzieller Missbrauchtäter“, erklärte er.

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Auch in diesem Fall kann man die Zahlen allerdings anders lesen: Zwei Drittel der Täter bleiben unbehelligt. Mindestens. Denn auch, wenn das Opfer anzeigt, ist keinesfalls sicher, dass der Täter auch verurteilt wird. ExpertInnen beklagen, dass die Täter und ihre Anwälte immer massiver versuchen, die Opfer mit fragwürdigen Glaubwürdigkeitgutachten unglaubwürdig zu machen. Was nicht selten gelingt. Wie häufig und mit welchen Begründungen die Beschuldigten in Missbrauchs-Prozessen freigesprochen werden - das wäre ein aufschlussreiches Thema für eine weitere Studie.
EMMAonline, 20.10.2011
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