Die Rabenmutter entlarven
Ungeplant schwanger, der Vater weg – und wie geht’s weiter? Über den Hindernis-Parcours einer Mutter, die nicht aus dem Beruf aussteigen will.
Guten Tag. Darf ich mich vorstellen: Ich bin eine Rabenmutter. Ich lebe als Alleinerziehende, in Deutschland, ich habe mein „armes Kind“ schon in die Kita geschickt, als es noch nicht einmal aus der Windelgröße „New Baby“ herausgewachsen war, ich bin berufstätig und das auch noch gern.
Die Bedingungen in unserer kleinen Familie waren am Start nicht ideal. Denn der liebende Kindsvater sah angesichts eines Babys sein kostspieliges automobiles Hobby gefährdet und nahm vor der Verantwortung unmittelbar nach Verkündung der Schwangerschaft Reißaus. Und weg. Einfach so. Ohne eine Dauerüberweisung auf meinem Konto zu hinterlassen.
Ist schon komisch, dass trotzdem nicht der Papa schuld sein wird, sollte meine Tochter später einmal depressiv und adipositös vor dem Fernseher sitzen, wechselweise Chips und Schokolade in sich hineinschaufeln, vielleicht sogar suizid- gefährdet sein. Nein, ich allein werde schuld sein. Versteht sich. Auch das „System“ oder die „Umstände“ werden nicht schuld sein, sondern natürlich – die alleinerziehende, berufstätige Mama. Akademikerin, spätgebärend, das Kind zu früh abgestillt. Eine Rabenmutter.
Meine Nachbarn jedenfalls sind zutiefst dieser Überzeugung, ein Großteil meiner Verwandtschaft, einige Kolleginnen – ja, vor allem die Frauen! – und wildfremde Menschen. Warum sonst sollten sie mit dem Finger auf mich zeigen und unisono rufen: „Das arme Kind“! Inzwischen habe ich beschlossen, zurückzurufen: „Es geht uns gut. Es ist unglaublich anstrengend, aber es geht uns gut.“ Je lauter man ruft, desto besser scheint es zu werden. Und doch bleibt es, dieses schlechte Gewissen. Denn bei aller Liebe zum Kind will ich zusätzlich zu all den anderen Sachen auch noch eines sein: eine Frau.
Juli 2004: Die Für-immer-Entscheidung. Schwanger. Ungeplant. Vom Kindsvater bleibt nur ein Liebesbrief in der Schublade. „Das kann auch passieren, wenn sich verheiratete Paare jahrelang ein Kind wünschen. Dann ist es endlich soweit und – weg ist er“, sagt meine Frauenärztin. Das ist ja wie beim Lottospielen. Entweder hat man sein Kreuzchen an der richtigen Stelle gemacht oder eben nicht.
November 2004: Die Wir-haben-Plätze-aber-frühestens-ab-eins-Problematik. Das Kind ist noch nicht einmal geboren, fünfter Monat. Ich denke, ich bin früh dran und es gibt sicher mehrere Plätze zur Auswahl. Die Liste, die das Internet ausgespuckt hat, ist länger als gedacht: ein paar Dutzend Einrichtungen im mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbaren Umkreis. Großstadtvorteil! Wirklich?
„Nein, tut uns leid. Wir nehmen Kinder frühestens ab einem Jahr“ – „Im Internet steht aber ab 0“ – „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die ganz Kleinen doch zu ihrer Mutter gehören. Sie sollten wirklich noch einmal überlegen, ob Sie das ihrem Kind zumuten wollen.“
Die Stimme sägt im Kopf. Ja, vielleicht sollte ich wirklich. Noch einmal überlegen. Mein armes Kind. Wenn das sogar eine Erzieherin sagt.
„Wir sind voll.“ – „Bis Ende nächsten Jahres?!“ – „ Mindestens.“ – „Nein, wir betreuen nur vier Stunden. Warum nehmen Sie keine Tagesmutter?“ – „Wenn etwas frei werden sollte, suchen wir zwei oder drei Elternpaare aus und besprechen, ob Sie überhaupt zu uns passen.“ Wahrscheinlich wollen die dann noch einen Lebenslauf mit Lichtbild.
Dezember 2004: Die Soll-ich-das-Kind-etwa-mit-zur-Arbeit-nehmen-Frage. Deutschland hat zu wenig Kinder, bloß ausgerechnet bei mir um die Ecke, da wimmelt’s nur so vor Zukunft. Alle Tagesmütter sind bereits beschäftigt und auf zwei Anzeigen meldet sich – niemand.
Heiligabend: Guter Ratschlag ist wirklich teuer. „So ein Wurm braucht seine Mutter. Das sag ich dir aus Erfahrung.“ – „Ich hab das damals auch gemacht mit dem Arbeiten. Und jahrelang bereut. Bis heute.“ – „Also mir wäre es das nicht wert. Dann würde ich lieber gar nicht arbeiten.“
Mein „armes“ Kind. Werde ich mich einst auch mit Designer-T-Shirts und Luxus-Urlauben freikaufen müssen von meinem schlechten Gewissen? Aber warte mal. Wieviel Resturlaub habe ich denn noch? Und mit dem Notgroschen könnte ich, und wenn dann noch – also ein Jahr zu Hause bleiben müsste schon gehen.
Nein. Ich will im Job bleiben, unbedingt.
Januar 2005: Kind und Karriere – aber wie? Und zurück zu Mama? „Ach so, ja – ne, Schichtdienst kann ich dann als Alleinerziehende natürlich nicht mehr machen.“ – „Die Wochenenden werden auch schwierig.“ „Und abends – eigentlich gern, aber wer bezahlt dann den Babysitter?“
Und schwupps – ist der Vollzeit-Job zusammengeschrumpft auf zwanzig, maximal dreißig Stunden. Wenn, ja wenn der Arbeitgeber nett ist und es sich leisten kann und will, eine alleinerziehende Mutter weiterzubeschäftigen, die in der Regel viel häufiger ausfällt als andere. Und wenn – ja wenn es ein organisatorisches Netzwerk gibt. Apropos: Wo bleibt eigentlich die Zeit für soziale Kontakte, für Kino, für Sport? Wie soll das alles gehen? Mama fragen!
„Mama, kannst du nicht helfen? Ich schaff das alleine nicht.“ Nein, Mama kann nicht helfen. Mama, also Oma, hat Arzttermine, mindestens zwei Freundinnen, die sie regelmäßig besuchen muss und ist schwer im Rentnerinnen-Freizeit-Stress. Einmal die Woche singen, jeden Donnerstag Bridge, das Theater-Abo und „außerdem hab ich dir ja gleich gesagt, dass der Kerl nichts taugt. Na, nun mal Kopf hoch, du schaffst das auch ohne mich.“ Klick. Klar, schaff ich. Wird alles bestimmt ganz romantisch – Super-Mama, Werbetexterin, Super-Sache!
Februar 2005: Richtig wickeln leicht gemacht. Der Mutterschutz beginnt. Eine ganze Flasche Anti-Schwangerschaftsstreifen-Mittel verbrauche ich jetzt wöchentlich. Der Bauch ist so prall, dass zwei Fußbälle drin liegen müssen – aber Eis mit Sahne passt trotzdem noch rein. Die Hormone tun ihr übriges. In den verbleibenden Wochen wird jeden zweiten Tag die Wohnung umdekoriert, jeden anderen Tag geheult. Und natürlich lese ich fleißig: Vorbereitungsliteratur von ‚Welche Windel ist die richtige?‘ bis zu ‚Ist das Baby glücklich, freut sich die Mama‘. (Ist es nicht eigentlich umgekehrt: Ist die Mutter glücklich, freut sich das Kind?)
April 2005: Schlafwandelnde Zeit. Wer sagt, eine Geburt sei ausschließlich eine wunderbare Erfahrung im Leben einer Frau, der lügt. Die Schmerzen sind unmenschlich, das Glück so übernatürlich, dass es in Worten gar nicht zu beschreiben ist. Aber das Gebrüll zieht unter die Fingernägel und die Windeln sehen voll auch ganz anders aus als in der Fernsehwerbung. Naturgemäß wird trotzdem jedes Häuflein mit großem Juchhee begleitet. Schlafwandelnd vergehen die Tage: die eigene Müdigkeit multipliziert mit Babyschreien hoch Wickelalarm. Kreative Tätigkeiten beschränken sich auf die Zeit zwischen 22 Uhr und 22.30 Uhr.
Juni 2005: Lösungen, sprich Kompromisse. „Hier eröffnet demnächst eine Kindertagesstätte“ – das Schild ist dezent und nach zwei Tagen wieder abgehängt. Wir haben den vorletzten Platz ergattert. „17.30 Uhr geht nicht – um 14 Uhr müssen Sie ihr Kind abgeholt haben. Alle anderen Mütter machen das hier auch so.“ Ach so, die arbeiten alle halbtags? Nein, viele arbeiten gar nicht.
September 2005: Noch mehr Kompromisse. Die Werbetexterin muss warten – erst mal gibt es nur die Halbe. Mit vier Stunden am Tag schafft man … eben. Und ist mit Kind trotzdem doppelt so lange unterwegs. Putzen, Einkaufen, Wäsche waschen und so weiter nicht mitgerechnet.
„Also, ich würde kein Kind kriegen, um es dann gleich wieder wegzugeben“, trompetet eine Kollegin. Die andere, die auch Mutter geworden ist, sagt gar nichts. Die kommt erst in drei Jahren wieder. „Gott wie süß!“ und „Das muss doch alles ganz toll für dich sein“, sagen die, die keine Kinder haben.
Erste Hälfte Oktober 2005: Ehrliche Anteilnahme. „Was? Ihre Kleine muss schon in den Kindergarten?“ – Die Dame im Treppenhaus ist aufrichtig bestürzt. Das arme Kind. Ich werde rot und bleibe stumm. Nach dem ersten Notarzteinsatz in der Nacht – Magen-Darm-Virus und 40 Fieber – höre ich ihr Echo in meinem Kopf: „Also, meine Enkelkinder, die waren ja nie krank. Natürlich waren die auch vier Jahre nur bei der Mutter.“
Überhaupt die Krankheiten. Keine zwei Wochen im Kindergarten, ist nicht nur das Kind, sondern auch die Mama krank. Klar, die ganzen fiesen Kinderkeime. Hat mir das jemand vorher gesagt – und habe ich nicht richtig hingehört?! Ich kann mich nicht erinnern. Dass die Gehirnzellen mit Sand vom Spielplatz vollrieseln, das wird einem vorher gesagt, aber man glaubt es schlicht nicht. Manche erwischt die Schwangerschafts- und Stillalzheimer (das Kuschelhormon Oxythocin) so arg, dass ihnen gelegentlich der Name des eigenen Kindes entfällt. Die positive Nebenwirkung ist: Man vergisst ebenfalls, dass man früher schon einmal ein anderes Leben hatte.
Zweite Hälfte Oktober 2005: Wie die freie Zeit vergeht. Ein halbes Jahr nach der Geburt endlich das erste Treffen mit der Freundin, die nur ein paar Tage später Mutter geworden ist – zum Kaffee trinken in der Stadt: „Wie – du machst keinen Pekip-Kurs? Das ist doch gut für das Kind.“ – „Prager Nacktkrabbeln? Was soll daran gut sein? Und außerdem ist das immer vormittags.“ – „Na, dann komm doch wenigstens zur Baby-Massage.“ – „Auch vormittags.“ – „Und das Tanzen?“ – „Vormittags.“ Das arme Kind. Hat überhaupt keinen Spaß – sagen die Freundinnen, die hauptberuflich Mutter sind.
Also gehen wir jetzt Sonnabends zum Babyschwimmen, ist piewarm, gesungen wird auch, sind meistens glückliche Väter da (ist ja Wochenende), die Mütter sitzen am Rand und machen Fotos – oder die Väter sitzen am Rand und machen Fotos. Wir machen keine, geht ja auch schlecht, gleichzeitig am Rand sitzen und auf den Auslöser drücken. Und nach einer Riesenerkältung ist es wieder vorbei mit dem zusätzlichen Termin-Gehetze am Wochenende.
November 2005: Die vorübergehende Ich-bin-nicht-an-allem-schuld-Erkenntnis. „Adieu-Rabenmutter“ – ein Dutzend Frauen sind zum Seminar gekommen, die Kinder spielen betreut (!) im Nebenzimmer. Trotzdem haben alle genau wie ich ein schlechtes Gewissen. Dass es noch andere Frauen betrifft, allein davon wird es schon weniger mit dem Schuldgefühl. Die Frauen, die hier sind, haben gute Jobs. Die wollen sie nicht verlieren. Keine einzige hat einen Mann, der für das Kind zu Hause bleibt. Noch ein paar Stückchen trockenes Keksgebäck und dann die zentrale Botschaft: Ist die Mutter-Kind-Beziehung eine gute, dann wirkt sich auch eine frühe Fremdbetreuung nicht negativ aus. Wie bezeichnend, dass die entsprechenden wissenschaftlichen Studien kaum einer kennt. Das ganze Schlechte-Gewissen-Gedöns hätte ich mir sparen können.
Und noch etwas, was in den Erfahrungsberichten der anderen Frauen auffällt: Männer finden arbeitende Frauen mit kleinen Kindern ganz toll! Sie bekunden Anerkennung, zollen Respekt. Sollten sie etwa kollektiv der Selbstverwirklichung der modernen Frau applaudieren? Ja – solange sie selbst weitestmöglich verschont bleiben. Einer der wenigen Väter, die neulich bei einer anderen Veranstaltung zum Thema Elternzeit referierte, sagte ganz offen: „Also, ich bin dann doch lieber wieder zur Arbeit gegangen, weil das war viel weniger anstrengend als zu Hause.“ Kollektives Gelächter.
Februar 2006: Ich schäme mich. Wochenlang nur kurze Anflüge von Unbehagen. Die Kita ist gewechselt. Die Arbeit macht so viel Spaß, dass ich eines Nachmittags auf die Uhr gucke und denke: Irgendetwas musste ich noch erledigen. An diesem Tag habe ich zum ersten Mal vergessen, die Kleine aus dem Kindergarten abzuholen. Ich spreche offen darüber, ernte naturgemäß wenig Verständnis – und schäme mich.
September 2006: Superwoman-Mythos schlägt Supermutter-Mythos. Wir machen eine Mutter-Kind-Kur. Geschätzte acht, gefühlte zwanzig Magen-Darm-Infekte, Erkältungen mit 40 plus Fieber, zwei Mandelentzündungen und ein mal Windpocken in einem Jahr sind der Preis für ein betreutes Jahr im Kindergarten. Hätte ich sie erst mit drei abgegeben, hätte ich das alles erst noch vor mir. 50 Frauen sind hier und ein (!) alleinerziehender Vater. Viele nicht arbeitende Mamas schreien ihre Kinder an. Der Frustpegel bei denen mit zwei, drei Kindern ist besonders hoch – manche haben einen Fernseher eingeschmuggelt, weil sie nicht wissen, wie sie die Zeit rumkriegen sollen. „Toll, so eine Mutter-Kind-Kur“, grinst einer der Besuchsväter am Wochenende. „Ich bin so entspannt wie lange nicht“. Zum ersten Mal Anerkennung von den Super-Mamas. „Einer musste sich ja um das Kind kümmern und für meinen Mann kam es eben nicht in Frage. Wie toll, dass du arbeitest und alles allein schaffst!“
November 2006: Vater sein dagegen sehr. Er ist wieder da. Der liebende Kindsvater. Genauso unangemeldet wie er verschwand, ist er jetzt wieder aufgetaucht. Kann sich an das Geburtsdatum seiner Tochter kaum erinnern, stellt aber gleich Ansprüche. Fordert das Sorgerecht. Die Dame aus dem Treppenhaus findet das sehr in Ordnung, seine Verwandtschaft sowieso. „Ein Kind braucht eben seinen Vater“. Na klar.
Cordula Rasmussen, EMMA 1/2007
Zum Weiterlesen:
National Institute of Child Health and Human Development, USA – www.nichd.nih.gov
Liselotte Ahnert: Bindungsbeziehungen in kombinierter familiärer und außerfamiliärer Kleinkindbetreuung (Habil.-Schr., Universität Jena)