Amina musste ihre Heimat verlassen, weil sie Männern die Hand gegeben hat. Diese Männer waren ihre Kollegen, mit denen die Gynäkologin als Ärztin einer Klinik in Kabul zusammenarbeitete. Oder es waren die Ehemänner ihrer Patientinnen, die sie nach Dienstschluss in ihrer Privatpraxis behandelte. Bei diesem sündigen Akt war die Ärztin heimlich fotografiert worden. Jetzt sitzt sie mit ihren Kindern in 30 qm Deutschland.
Sie dachte, sie zieht jetzt in eine eigene Wohnung - aber sie kam wieder in einen Container
Amina hat an einer russischen Universität Medizin studiert, ihr Mann ist Ingenieur. Die beiden versuchten, irgendwie durchzukommen in einer Gesellschaft, in der die Taliban mit ihrem wahnwitzigen Frauenhass immer mehr an Einfluss gewannen. Sie bedrohten auch die Ärztin Amina. „Sie denken, wenn eine Frau gebildet und intellektuell ist, hat sie kein Recht zu leben“, sagt sie.
Dann, im April 2014, ging alles ganz schnell. Aminas Mann wurde verhaftet. In derselben Woche fand die Ärztin ein Flugblatt in ihrem Briefkasten: „Das ist die letzte Warnung. Sonst töten wir dich!“ Wenige Tage später verließ Amina ihr großes Haus in Kabul und stieg mit ihren Kindern in ein Flugzeug nach Dubai, mit falschen Pässen, die ein Schlepper organisiert hatte. Drei Monate später, im Juli 2014, saß sie in einem Container in Köln – und schrie.
„Ich stand unter Schock“, sagt sie. „Ich hatte geglaubt, ich komme jetzt in eine eigene Wohnung.“ Durch drei Flüchtlingsheime hatte man sie und die Kinder seit ihrer Ankunft in Frankfurt geschleust und die Mutter hatte gehofft, ihre Odyssee sei in Köln nun endlich beendet. Aber hier wurden Amina und ihre Kinder in das Erstaufnahme-Heim in der Herkulesstraße gebracht, Kölns größte Flüchtlings-Unterkunft, die im ehemaligen Straßenverkehrsamt untergebracht ist. Fast 700 Menschen leben hier in 170 Räumen. Weil die schließlich nicht mehr reichten, hat die Stadt Container angebaut.
Container sind hellhörig. Die Türen knallten, es war laut, es gab ständig Prügeleien. Laut einem Bericht des Innenministeriums von NRW musste im Schnitt jeden dritten Tag die Polizei anrücken, auch, weil vagabundierende Taschen- und Ladendiebe im Flüchtlingsheim Unterschlupf bei ihren – meist ahnungslosen – Angehörigen gefunden hatten. „Ich hatte Angst vor den anderen Flüchtlingen“, sagt die Ärztin im Exil. Deshalb ließ sie die Fenster geschlossen. Es war heiß. Der sechsjährige Daylan, der seit einer Hirnhautentzündung als Baby behindert ist, bekam einen epileptischen Anfall. Und seine Mutter einen Nervenzusammenbruch.
Es muss um diese Zeit gewesen sein, als im selben Flüchtlingsheim ein Mann Ferihan in der Dusche an der Schulter packte. Es war natürlich die Frauendusche. Der Mann griff von hinten nach der nackten Frau. Sie schrie und stieß ihn weg.
Nach Ferihan haben schon viele Männer gegriffen. In Mazedonien, wo sie herkommt, hatte ihr Mann sie in ihrem eigenen Haus zur Prostitution gezwungen. Sie war 18, als sie ihn heiratete, erzählt die heute 40-Jährige. „Das ist in einer Roma-Familie relativ spät.“ Drei Kinder bekam sie mit ihm. „Er hat mich jeden Tag gedemütigt“, sagt sie. Er schlug sie, er vergewaltigte sie.
Ferihan ist eine schöne Frau. Die Narbe am Kopf wird von ihren langen schwarzen Haaren verdeckt, und um die Wulste am Arm und an der Hand zu zeigen, muss sie ihre Lederjacke ausziehen. Die Nase habe er ihr auch gebrochen. Er nahm Drogen und rutschte in kriminelle Kreise ab. Als ihm die Schulden über den Kopf wuchsen, verkaufte er – seine Frau.
Zwei Jahre lang, sagt Ferihan, dann wanderte er wegen Diebstahl und Drogenhandel ins Gefängnis. Aber jetzt hatte sie seine kriminellen Kumpels am Hals. Die wollten Geld von ihr und drohten, sie umzubringen, falls sie es nicht bekämen, sprich: falls sie sich nicht weiter prostituieren würde. Ferihan erwog, in eine andere Stadt zu ziehen. Aber das hätte nichts genützt. „Diese Männer waren gut vernetzt, eine Art Mafia.“
Eine Frau im Flüchtlings-
heim wurde von einem Bewohner verprügelt
Mazedonien gilt seit September 2014 als „sicheres Herkunftsland“, so hat es der Gesetzgeber beschlossen. Doch Ferihan fühlte sich alles andere als sicher. Sie floh nach Deutschland. Aber in der Kölner Herkulesstraße war es mit der Sicherheit auch so eine Sache. Sie traute sich nachts nicht mehr auf die Toilette. Und sie traute sich auch nicht, ihre Kinder allein im Raum zu lassen. Die Männer, der Lärm, das war alles zu viel für sie. Sie aß nichts mehr, wurde depressiv.
„Jedes Mal, wenn in so einem Container-Heim jemand eine Tür zuschlägt, wackelt das Bett“, bestätigt Denise Klein. Die Pädagogin und Trauma-Expertin arbeitet bei der „Arbeitsgemeinschaft gegen internationale sexuelle und rassistische Ausbeutung“, kurz: agisra. Der 1993 gegründete Verein mit einer Informations- und Beratungsstelle für Migrantinnen in der Kölner Altstadt setzt sich unter anderem für die speziellen Belange weiblicher Flüchtlinge ein. So fordert agisra die „Anerkennung von frauenspezifischen Asylgründen“ und etwas, das in der aktuellen Debatte um die Unterbringung der Flüchtlinge bisher keine Rolle zu spielen scheint: „Die Berücksichtigung der besonderen Schutzbedürftigkeit von alleinreisenden, alleinerziehenden und traumatisierten Frauen bei der Unterbringung“.
Als im September 2014 im westfälischen Burbach Wachleute eines Sicherheitsdienstes einen Flüchtling misshandelten, ging – zu Recht – ein Aufschrei durchs Land. Was treiben die Securitys da eigentlich, wurde gefragt, und: Wer kontrolliert diese Typen überhaupt? „Es gibt kaum Daten über Gewalt in Flüchtlingsunterkünften“, klagte der Sprecher von Pro Asyl. Übergriffe würden „selten zur Anzeige gebracht und erst durch Medienberichte bekannt“.
Gemeint waren Übergriffe auf männliche Flüchtlinge. Von den Frauen redete niemand. Dabei gäbe es dazu viel zu sagen. Nicht nur agisra macht darauf aufmerksam, dass sexuelle Belästigung und Gewalt gegen Frauen in Flüchtlingsheimen leider keine Ausnahme ist.
Auch die Initiative „Women in Exile“ wagt sich an das Tabu. Sie benennt, dass Männer auf der Flucht nicht nur Opfer sind, sondern auch Täter sein können. Die Gründerin von „Women in Exile“, Elizabeth Ngari, hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt, als Frau ohne männlichen „Beschützer“ in einem Flüchtlingsheim zu leben.
Leben im Heim: Keine Privat-
sphäre und sexuelle Belästigungen
1996 kam die heute 56-Jährige mit ihren zwei Töchtern aus Kenia nach Deutschland. Dort kamen sie in eine Flüchtlingsunterkunft in Brandenburg. Ngari erinnert sich: „Es gab keine Privatsphäre, Küche und Bad mussten mit vielen geteilt werden, sexuelle Belästigung war an der Tagesordnung.“ Bald kamen ihr ähnliche Vorfälle auch aus anderen Unterkünften zu Ohren. „Es gab auch Vergewaltigungen in einigen Heimen. Aber diese Dinge wurden in den Flüchtlingsgruppen einfach nicht angesprochen“, sagt Ngari. Flüchtlingsfrauen leiden unter einer doppelten Diskriminierung: Rassismus und Sexismus. Ein Fall hat die Kenianerin besonders empört: „Eine Frau in einem Brandenburger Flüchtlingsheim wurde von einem Bewohner verprügelt und wandte sich an die Mitarbeiter im Heim. Die haben zu ihr gesagt: ‚Dann schließ dich doch in deinem Zimmer ein!‘“ Ngari fuhr die verletzte Frau zunächst ins Krankenhaus, dann zur Polizei und schließlich ins Frauenhaus. Das sei eigentlich Aufgabe des Heimpersonals gewesen, sagt Ngari.
2002 hatte Ngari gemeinsam mit anderen Betroffenen „Women in Exile“ gegründet. Untertitel: „Flüchtlingsfrauen werden laut!“ Im Sommer 2014, als die Flüchtlingsströme nach Deutschland immer größer und die Lage in den Unterkünften immer dramatischer wurde, meldete sich „Women in Exile“ mit einer spektakulären Aktion zu Wort: Sieben Wochen lang, von Mitte Juli bis Ende August, schipperten sie mit zwei Flößen von Nürnberg, dem Sitz des „Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge“ (BAMF), über Flüsse und Kanäle bis nach Berlin. Auf ihrer „Refugee Women Action Tour“ durch sieben Bundesländer besuchten sie Dutzende Flüchtlingsheime und sprachen dort mit den Frauen. Am 28. August 2014 übergab „Women in Exile“ dem Bundesinnenministerium ein Memorandum mit Forderungen.
Es gibt viel zu tun. Einiges davon betrifft speziell Frauen. Zum Beispiel die Anerkennung der „geschlechtsspezifischen Asylgründe“, die zwar seit 2005 im deutschen Zuwanderungsgesetz festgeschrieben ist, in der Praxis aber oft daran scheitert, dass Zwangsverheiratung oder Genitalverstümmelung eben keine Verfolgung von Staats wegen sind, sondern sich in der Familie abspielen – und daher angeblich schwer beweisbar sind.
„Die frauenspezifischen Asylgründe werden immer noch nicht wirklich ernst genommen. Sie gelten als Privatsache“, bedauert Shewa Sium von agisra. Hinzu kommt: Gerade weil sich die Menschenrechtsverletzungen gegen Frauen oft im privaten oder intimsten Bereich abspielen, „ist es für die Frauen sehr schwer, von ihren traumatischen Erfahrungen zu erzählen“, sagt die Pädagogin. Die Anhörung vor dem BAMF sei „wie ein Verhör. Deshalb wagen viele nicht, sofort über den wahren Asylgrund zu sprechen.“ Eine zweite Chance aber gebe es nicht.
80 Prozent aller Flüchtlinge weltweit sind Frauen und Kinder. Aber von denen, die in Europa ankommen, sind nur 20 Prozent weiblich. Auf den Fotos der Flüchtlingsboote in Lampedusa sind vor allem junge Männer zu sehen. „Frauen sind meist Binnenflüchtlinge oder schaffen es höchstens bis ins Nachbarland“, erklärt Denise Klein von agisra. „Bis Europa zu kommen, ist für viele undenkbar.“
Wenn sie überhaupt wegkommen. Bezeichnenderweise ist der Anteil der Asylbewerberinnen in Deutschland aus jenen Ländern besonders niedrig, in denen Frauen am härtesten unterdrückt werden. So war 2013 nur jeder dritte Asylbewerber aus Afghanistan eine Frau, aus Somalia jeder fünfte, aus Pakistan sogar nur jeder zehnte. „Ist ja klar!“ sagt Shewa Sium, die vor 35 Jahren dem Bürgerkrieg in Eritrea entkam. Frauen aus solchen Ländern hätten „kaum Chancen, aus ihren Verhältnissen zu fliehen“. Schon allein deshalb, weil sie oft nicht berufstätig sein dürfen, kein eigenes Geld und keine Kontakte besitzen.
Sie ist Mathe-
matik-Lehrerin und arbeitet als Küchenhilfe - sinnvoll?
Weitere Forderungen von „Women in Exile“ betreffen Frauen wie Männer: Zum Beispiel die Abschaffung der so genannten Residenzpflicht, die Flüchtlingen und AsylbewerberInnen verbietet, den ihnen zugewiesenen Ort oder ihr Bundesland zu verlassen. Einen Teilerfolg ist schon erzielt. Seit dem 1. Januar 2015 gilt die Residenzpflicht nur noch für drei Monate. Auch das Recht auf Wohnungssuche steht im Forderungskatalog – auch wenn nur eine „Duldung“ erteilt wurde, damit die Geduldeten nicht jahrelang in den Flüchtlingsheimen vegetieren müssen; oder die Anerkennung von Berufsabschlüssen, die in Deutschland trotz einiger Verbesserungen meist kompliziert und teuer ist. Gerade für hochqualifizierte Frauen bedeutet das, dass sie oft in typischen Frauenjobs landen: Küchenhilfe, Putzfrau, Pflegekraft.
Darüber herrscht auch im Flüchtlingsprojekt „Fliehkraft“, das im Bürgerzentrum Köln-Nippes beheimatet ist, Unmut, um nicht zu sagen: Zorn. Jeden Dienstag um 11.30 Uhr ist hier „Offenes Frauencafé“. Rund zwanzig Frauen sind heute gekommen, haben rund um den großen Tisch Platz genommen und reichen Teller mit geschnittenen Gurken, Tomaten und Fladenbrot herum.
Auf diesen Tisch haut nun Zoreh mit der Faust, weil sie eine Sache in diesem Deutschland wirklich nicht verstehen kann. „Ich bin Mathematik-Lehrerin“, sagt die elegante Frau mit dem stahlblauen Pullover. „Und seit 19 Jahren arbeite ich als Küchenhilfe, werde von einem Ein-Euro-Job zum anderen gereicht und von einer dreimonatigen Fortbildung zur nächsten. Das macht doch keinen Sinn!“
Zoreh ist 61 Jahre alt. 1987 ist sie aus dem Iran nach Afghanistan geflohen, nur mit dem, was in die Schulranzen der Kinder passte. Als es dort auch nicht mehr auszuhalten war, flüchteten sie 1995 weiter nach Deutschland. Von ihrem Mann, einem gelernten Agraringenieur, ist sie inzwischen getrennt. „Er hat sich so verändert“, sagt sie. „Viele unserer Männer verändern sich.“
Aber es ist nicht nur für die Männer schmerzhaft, wenn sie vom Ingenieur plötzlich zum Hilfsarbeiter degradiert werden.
„Frauen sind, gerade wenn Kinder da sind, noch schneller im Abseits“, weiß Nahid Fallahi, die seit sieben Jahren Frauen berät und betreut, die zu „Fliehkraft“ kommen.
Von denen, die dienstags den Weg ins Frauencafé finden, sind die meisten schon seit Jahrzehnten in Deutschland. Viele sind Iranerinnen, geflohen vor Khomeini und seinen Revolutionsgarden. Sie feiern zusammen Nowruz, das iranische Neujahrsfest, oder den rheinischen Karneval. Sie machen gemeinsam Ausflüge und bilden sich weiter. In diesen Wochen lautet ihr Schwerpunktthema: Gesundheit. Beim nächsten Treffen wird ihnen eine Trainerin etwas über Stress- und Konfliktbewältigung erzählen. In der Woche darauf kommt eine Heilpraktikerin zu ihnen.
Heute aber ist Anabel da. Die junge Ärztin hat gerade ihren Abschluss gemacht und möchte die Zeit der Jobsuche sinnvoll verbringen: Sie will helfen. Anabel hat in Tel Aviv in einer Klinik mit Flüchtlingen aus Eritrea, Somalia und dem Sudan gearbeitet. Sie war in der Gynäkologie und sie weiß: „Die Frauen fliehen über Land und da passieren schlimme Dinge.“
Heute will sie einfach zuhören, welche Fragen die Frauen haben und wissen, wo sie gebraucht wird. Ein Finger hebt sich: Sie wüsste gern etwas über Vitamine und ob man diese Vitamintabletten aus der Drogerie nehmen solle, sagt eine Frau um die 30, in dieser Runde eine der jüngeren. Wenn man sich gesund ernähre, bräuchte man eigentlich keine dieser Vitaminpillen, antwortet die Ärztin. Aber die Frau insistiert: Sie habe gehört, Vitamin D helfe gegen Depressionen. Schnell entspinnt sich ein Gespräch. Mit Depressionen kennen sich einige in der Runde offenbar aus.
Zoreh möchte noch etwas zu Deutschland sagen. „Es ist nicht gut“, findet sie, „dass in so vielen Häusern nur Ausländer wohnen. Mir schadet das, denn ich vergesse mein Deutsch.“ In ihrem Haus reiche es ihr jetzt. „Wenn noch ein Türke oder noch ein Perser kommt, zahle ich keine Miete mehr!“ Gelächter. Zoreh lacht auch, aber sie meint es ernst.
Auch Sozialarbeiterin Fallahi, die ebenfalls aus dem Iran kommt und seit 22 Jahren mit Flüchtlingen arbeitet, hat einen Wunsch an die deutsche Flüchtlingspolitik: „Die Frauen bekommen zu wenig Informationen über die Rechte, die Frauen in Deutschland haben“, weiß sie. „Man müsste ihnen zum Beispiel sagen, dass sie sich gegen die Gewalt durch ihre eigenen Männer wehren können.“ Und noch etwas: „Viele Frauen sind traumatisiert. Sie müssten einen Raum haben, in dem sie über die Gewalt reden können, die sie in ihren Heimatländern und auf der Flucht erlebt haben.“
Ein solcher Raum sind die Flüchtlingsheime ganz offensichtlich nicht. Im Gegenteil. Auch das erfahrene „Behandlungszentrum für Folteropfer“ in Berlin fordert: „Frauen, die schwere, teils sexualisierte Gewalt erlebt und überlebt haben, brauchen einen besonders geschützten Raum.“ Eine Stabilisierung der Frauen sei sonst „unmöglich“.
Wie bei Ferihan. Einmal riss ein Polizist ihre Zimmertür auf und stand mit einem Schlagstock vor ihr. Er meinte es nicht böse, die Polizei suchte einen Straftäter. Ferihans Hände zitterten, ihr Kopf hämmerte. Manchmal stand sie auf der Straße und wusste nicht mehr, wo sie war.
Die Frauen bekommen zu wenig Infor-
mationen über ihre Rechte in Deutschland
Im April 2014 hatten sich die Kölner agisra-Frauen an die Stadt gewandt. „Die Berichte der Frauen, zu denen wir Kontakt haben, bewegen uns dazu, für alleinreisende Frauen (mit Kindern) eine separate Unterbringungsmöglichkeit zu fordern“, schrieben sie – und stießen auf offene Ohren. Schon einen Monat später wurde in der Herkulesstraße ein Bereich zum „Frauentrakt“ erklärt. 30 Frauen und ihre Kinder sollten dort geschützt wohnen können. Außerdem sagte das Wohnungsamt zu, zu „prüfen“, ob eine Flüchtlings-Unterkunft in Köln nur mit weiblichen Flüchtlingen und ihren Kindern belegt werden könne.
Doch die Freude über den Erfolg währte nicht allzu lang. Denn als Mitarbeiterinnen von agisra sich den Frauentrakt ansahen, mussten sie feststellen: Es gab dort kein Wasser und keine eigenen Toiletten. Wieder schrieben sie an die Stadt: „Die Situation ist also weitestgehend gleichgeblieben. Die Frauen suchen abends und nachts die Toiletten nicht mehr auf, sie gehen, wenn überhaupt, nur zu mehreren in die Duschen und kommen aus Angst vor Übergriffen häufig ungeduscht wieder zurück.“
Das sei „technisch einfach nicht anders machbar gewesen“, erklärt das Kölner Wohnungsamt. In dem Gebäudetrakt lägen nunmal keine Wasserleitungen und man habe schnell handeln wollen. Die Stadt ächzt gerade unter dem Handlungsbedarf: 4500 Flüchtlinge hat das Land ihr zugewiesen, und Sozialdezernentin Henriette Reker vertritt den Standpunkt, dass „eine Millionenstadt es auch schaffen muss, diese 4500 Menschen aufzunehmen“. Also hat Köln eine „Task Force“ eingerichtet und kämpft um jedes Bett: Die Stadt mietet Hotels an und stellt Container auf grüne Wiesen am Stadtrand; sie stellt Feldbetten in Turnhallen auf und baute den pleitegegangenen Praktiker-Baumarkt zu einem Lager für 200 Menschen um.
Die Leitlinien für die Unterbringung von Flüchtlingen, die der Stadtrat 2004 beschlossen hatte – maximal 80 Personen pro Unterkunft, maximale Verweildauer in der Erstaufnahmeeinrichtung drei Monate etc. – können schon längst nicht mehr eingehalten werden. Die Lage der Frauen? Ein Problem unter vielen.
Ferihan lebt jetzt, gemeinsam mit rund 200 anderen Flüchtlingen, davon viele Familien, im ehemaligen Versorgungsamt in Köln-Riehl. Der stattliche, weiße Altbau stand seit 2012 leer, jetzt werden die einstigen Amtszimmer von Flüchtlingen bewohnt. Sie fühlt sich dort einigermaßen wohl, sagt Ferihan. Wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes hat sie eine Duldung bekommen. Die gilt für ein halbes Jahr. Wie es dann weitergeht, weiß Ferihan nicht.
Amina, die seit August 2014 ebenfalls in dem alten Amtsgebäude lebt, weiß es auch nicht. Aber sie weiß, was sie will. An ihren Fingern zählt sie es auf: 1. Sie möchte eine eigene Wohnung. 2. Sie will, dass ihre Kinder zur Schule gehen und Deutsch lernen. 3. Sie will selbst Deutsch lernen. 4. Sie will wieder als Ärztin arbeiten.
Eigentlich darf Amina gar keine Wohnung suchen, weil über ihren Asylantrag noch nicht entschieden ist. Es kann ein Jahr dauern, bis ein Asylbewerber eine Ladung zur Anhörung bekommt. Bis das ganze Verfahren abgeschlossen ist, kann ein weiteres Jahr ins Land gehen. Dass Amina trotzdem auf Wohnungssuche gehen darf, beruht auf einer Sonderregelung: Weil ihr Sohn Daylan schwerstbehindert ist, wurde bei ihrer Familie eine Ausnahme gemacht.
Aber es liegen eine Menge Steine im Weg. Vor ein paar Tagen dachte Amina: Ich habe eine Wohnung! Aber als der Hausverwalter ihren Pass sehen wollte, musste sie passen. So lange ihr Asylantrag nicht positiv beschieden ist, liegt der Ausweis bei der Behörde.
Bis hierher hatte Amina sehr gefasst erzählt. Wie in ihrem Haus in Kabul die Scheiben zersplittert sind, weil sich in der Nähe wieder mal jemand bei einem Selbstmordattentat in die Luft gesprengt hat. Wie groß und schön ihr Haus war, aber dass sie dort „einfach nicht wie ein Mensch leben konnte“. Und dass sie seit Monaten nichts von ihrem Mann gehört hat. Die Tränen rollen ihr aber erst über die Wangen, als sie von den sanitären Anlagen im Flüchtlingsheim erzählt. Die Toiletten seien, im wahrsten Sinne des Wortes, ständig beschissen. Natürlich kommt jeden Tag ein Putztrupp ins Heim, aber der Zustand vor der Reinigung sei schnell wieder hergestellt. Es ist eine Frage der Würde.
Auch das Zimmer, in dem sie mit ihren drei Kindern lebt, möchte sie lieber nicht zeigen. Sie lächelt verlegen. „Es ist überhaupt nicht aufgeräumt.“ Der Raum, der eine Tür weiter liegt, sehe genauso aus wie das Sozialarbeiterinnen-Büro, in dem wir gerade sitzen. Es ist groß, es hat sicher 30 Quadratmeter, Linoleumfußboden und hohe Decken. An den Rändern in Aminas Raum ist alles verteilt, sagt sie, was die Familie besitzt, beziehungsweise: was man ihr zur Verfügung gestellt hat. Drei Betten, eins davon ein Etagenbett; ein Tisch mit einem Zwei-Platten-Kocher; ein Fernseher, vor dem der vierjährige Aamun gerade sitzt; noch mehr Tische, auf denen sich Spielzeug und Kleidung stapelt.
Viele gehen aus Angst nur zu mehreren auf die Toilette und in die Dusche
In einem der Betten liegt Daylan. Er ist sechs und für sein Alter riesengroß. Das macht es nicht einfacher, denn Daylan kann sich nicht bewegen und ihn aus dem Bett in seinen Rollstuhl zu wuchten, ist Schwerstarbeit. Die kleine Ayla ist gerade erkältet und sitzt nebenan mit einer Rotznase in ihrem Holzgitterbettchen.
Amina weiß, dass es schlimmere Unterkünfte gibt als diese. Aber es geht nun schon so lange und sie möchte endlich ankommen. „Damit ich das Gefühl habe, ich gehöre zu diesem Land.“
Andere Schritte auf dem Weg dorthin sind aber schon getan. Amina hat den Deutschkurs besucht, der im Flüchtlingsheim dreimal die Woche angeboten wird. Künftig wird sie jeden Tag zum Deutschlernen in die Volkshochschule gehen. Aamun geht in den Kindergarten und die zweijährige Ayla zu einer Tagesmutter, beide lernen die neue Sprache kinderleicht. Sogar für Daylan ist jetzt ein Platz in einem integrativen Kindergarten gefunden. Für all das ist Amina „sehr dankbar“. Vor allem ihrer Sozialarbeiterin. Die sei „wie ein Schutzengel“. Anita, die im Auftrag des Deutschen Roten Kreuzes gemeinsam mit vier anderen Sozialarbeiterinnen die Flüchtlinge in diesem Heim betreut, hat ihr bei allem geholfen, vor allem bei den unzähligen Anträgen, die bei den Ämtern gestellt werden mussten. „Manchmal verzweifelt man an der Bürokratie“, sagt sie. „Aber manchmal klappt auch was richtig gut. Zum Beispiel hat sich das Jugendamt wirklich ins Zeug gelegt wegen der Kindergartenplätze.“
Anita ist begeistert von Aminas Kampfgeist. „Sie ist sehr selbstständig und hartnäckig“, sagt sie. „Wo andere verzweifeln, packt sie der Ehrgeiz.“
Fehlt noch ein letzter Schritt. Kann die erfahrene Gynäkologin Amina auch in Deutschland als Ärztin arbeiten? Das wird sich herausstellen, wenn sie bei der Bezirksregierung Düsseldorf einen Antrag auf Approbation stellt. Dass es klappt, wäre nicht nur der Afghanin zu wünschen, sondern auch uns Deutschen. Denn hierzulande herrscht Ärztemangel. Und eine Gynäkologin wie Amina wäre eine echte Bereicherung.
Chantal Louis