MUSIK: Marla Glen

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Die Geschichte ging wirklich zu Herzen: Sie ist in den Slums von Chicago aufgewachsen und keinen Tag im Leben zur Schule gegangen. Ihren Vater kennt sie nicht, und die Mutter scheint eine Prostituierte zu sein. So schreiben alle, vom "Nouvel Observateur" bis zum "stern" ("Sie benimmt sich wie ein Straßenjunge, rülpst und popelt in der Nase"). Die Geschichte hat nur einen Haken: Sie stimmt nicht. Marla Glen ist nicht die, die das Journalisten-Klischee gern hätte. Sie war erleichtert, als ihr endlich zugehört wurde. Das Gespräch führte Barbara Frank.

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Emma: Köln ist die letzte Station auf deiner Deutschland-Tournee, Marla. Was war hier anders als in Frankreich oder Amerika?
Marla Glen: Auffallend viele junge Leute hier engagieren sich für den Frieden. Das gefällt mir. Ich habe gehört, daß in Deutschland sogar Kinder und Jugendliche gegen den Golfkrieg auf die Straße gingen. Ich hasse den Krieg. Ich lebe mit offenen Augen. Ich sehe, was los ist und versuche, meine Verantwortung zu tragen. Zwischen den Menschen herrscht Krieg.
Emma: Welchen Krieg meinst du?
Marla: In den amerikanischen Städten herrscht Krieg: Drogenkrieg, Bandenkrieg. Am meisten davon betroffen sind Kinder und Jugendliche. Als ich ein Kind war und im Fernsehen entdeckte, daß der damalige Präsident Kinder in meinem Alter hatte, war ich entsetzt: Wie kann er dann die Kinder anderer Leute in den Vietnam-Krieg schicken, fragte ich meine Mutter. Sie versuchte mich zu trösten: Das verstehst du, wenn du älter bist. Aber nun bin ich erwachsen und verstehe es immer noch nicht. Ich fühle mich wie ein Kind, das in einem zu großen Körper hockt und dessen Fragen nicht beantwortet werden. Ich bin eben ein großes Kind. Ich schlafe nie ohne meinen Teddy.
Emma: Warst du ein unglückliches Kind?
Marla: Ich? Ich war eher ein hüpfender Gummiball! Wenn die Leute mich kommen sahen, brachten sie sich in Sicherheit, weil sie nie wußten, was ich wieder mal ausgeheckt hatte. Morgens rannte ich zuerst zu meiner Mutter. Ich baute mich vor ihr auf wie ein Aufziehspielzeug, zeigte auf meinen Po und rief: 'Zieh mich auf, Mummy, damit ich losspringen kann!' Da tat meine Mutter so, als hole sie einen Schlüssel aus der Tasche, und zog mich auf.
Emma: Und wer zieht dich heute auf, Maria?
Marla: Die ganze Welt!
Emma: Du lebst seit drei Jahren in Frankreich. Wann warst du das letzte Mal zuhause in Chicago?
Marla: Das ist noch nicht so lange her. Ich flog zur Beerdigung meines Halbbruders nach Hause. Ich war seit zehn Jahren nicht mehr dort gewesen. Ich trug einen riesigen Mantel und eine Sonnenbrille und zog mir den Hut tief ins Gesicht, damit mich niemand erkennt. Aber es nutzte alles nichts: 'Hey Maria', schrieen sie begeistert, 'du hast dich ja gar nicht verändert!' (Lacht) Na ja, da habe ich den Hut eben abgesetzt. Ich war immer schon der Klassenclown. Ich schleppte ständig eine Gitarre mit mir herum und fühlte mich wie Daniel Boone, wenn ich in der Schule einlief. (Anm.: Daniel Boone war ein weißer Trapper. Er machte die fransige Trapperjacke berühmt, die Maria Glen trägt.) Ich rauchte
Marihuana, trank Bier und war Fan von den „Moody Blues" und „Yes". Meine absoluten Lieblingssänger waren Gary Glitter und Neil Young. Ich konnte alle ihre Lieder auf der Gitarre und sang, wo ich ging und stand: „Old man, look at my life!". Ich habe natürlich schon damals gesungen: „Old woman, look at my life!"
Emma: Wie ist dein Verhältnis zu Frauen?
Marla: Ich liebte schon mit fünf die anderen kleinen Mädchen!
Emma: Verrätst du mir, wer deine allererste große Liebe war?
Marla: Meine Babysitterin. Aber sie hat mir das Herz gebrochen. Sie war ungefähr 15, und ich erwischte sie einmal dabei, wie sie mit einem Jungen knutschte. Ich war damals fünf oder sechs Jahre alt. Ich rannte hin und bearbeitete ihn wütend mit den Fäusten: 'Geh runter von ihr, das ist meine Freundin!' - Sag mal, ist es wahr, daß bei eurer Zeitschrift nur Frauen arbeiten? Wow, ich glaube, ich werde Journalistin! Habt ihr keinen Job für mich?
Emma: Gar keine schlechte Idee. Wir sollten auch CDs rausgeben... Aber erzähl' erst mal von dir, Marla. Wie bist du aufgewachsen?
Marla: In einer sehr heilen Welt. Mein Bruder und ich waren ein Herz und eine Seele. Den Halbbruder, der jetzt gestorben ist, kannte ich dagegen kaum. Meine Mutter hatte ihn mit zwölf oder 13 bekommen, er ist nicht bei uns aufgewachsen. Wir bewohnten ein großes, zweistöckiges Haus mit einem riesigen Garten und einem alten Pflaumenbaum. Wir schleppten ständig irgendwelche heimatlosen oder verletzten Tiere nach Hause und versorgten sie. Meine Eltern haben uns ernstgenommen und haben viel mit uns gesprochen. Ich hatte mit 18 gerade die Schule hinter mir, als meine Mutter wieder heiratete. Sie war eigentlich immer schon eine ziemlich coole Frau. Als junge Frau fuhr sie Autorennen, das war in den 60er Jahren Mode. Sie hat sich in Chicago einen Namen als Portraitmalerin gemacht und hat eine eigene Galerie. Ihr solltet sie unbedingt portraitieren!
Emma: Und wann bist du von zuhause weg?
Marla: Ich bin mit 18 von zuhause weg, um Musikerin zu werden. Ich beschloß damals, mich erst wieder zu melden, wenn ich es wirklich geschafft habe. Ich stellte mir vor, wie ich eines Tages zum Hörer greife und rufe: 'Hallo, hier ist Marla. Seht, dies ist mein Leben!'
Emma: Und dein Vater?
Marla: Mein Vater ist mein bester Freund. Ich finde ihn cool. Er leitet ein Ingenieurbüro in Chicago, direkt am Seeufer. Ich und mein Vater und mein Bruder, wir haben immer zusammengehalten gegen meine Mutter. Wir haben uns zugezwinkert und gemurmelt: Was macht die alte Schachtel denn da schon wieder? Das hat sie sich leider viel zu lange gefallen lassen. Seit sie uns los ist, fängt sie an, aufzuwachen. Ich war lange Zeit auf Distanz zu ihr. Ich war immer auf der Seite meines Vaters und war sehr traurig, als er auszog. Ich dachte damals, daß mein Vater als Zahler das Recht hat, zuhause die Füße auf den Tisch zu legen und ein Bier zu verlangen. Meine Eltern waren 25 Jahre verheiratet. Was sie verband, war der Glaube. Sie sind nicht schriftgläubig, aber die Bibel war bei uns ein wichtiges Buch.
Emma: Hat dich das interessiert?
Marla: Oh ja, sehr. Ich habe versucht, alles zu verstehen. Meine Eltern waren über meine Gedanken oft begeistert und riefen: 'Woher weißt du das? Genau so steht es in der Bibel geschrieben!'.
Emma: Und wie kommt da die Musik rein?
Marla: Ich bin als Musikerin geboren. Die kleine Plastik-Mundharmonika, die in allen Artikeln über mich erwähnt wird, hat es tatsächlich gegeben. Daß Muddy Waters sie mir geschenkt hat, weiß ich nur aus den Erzählungen meiner Eltern. Er wohnte nebenan. Aber ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich zum ersten Mal darauf spielte. Es gehörte ein kleines Notenheft dazu mit Kinderliedern. Mein erstes Lied war 'Mary had a little lamb'. Mein Vater sagte: 'Komm' mal her, ich zeig dir, wie das geht.' Er zog eine riesige Mundharmonika aus der Hosentasche. Weißt du, da, wo ich herkomme, hat immer noch jeder Vater oder Großvater, der auf sich hält, so ein riesiges Ding in der Tasche. Das ist eine Tradition aus den 40er Jahren. Das sind Riesenapparate mit 32 Tönen. Da war ich fünf. Normalerweise spielten kleine Mädchen keine Mundharmonika. Das war etwas für Jungs.
Emma: Aber du hast gespielt...
Marla: Damit hatte ich keine Probleme. Obwohl ich auch einige harte Lehren durchmachen mußte, bis ich begriff, worauf es ankommt. Als ich jedoch begann, öffentlich darüber nachzudenken, wurde ich von den Journalisten in Frankreich gleich auf diese schwierigen Jahre mit Drogen festgenagelt. Die Journalisten haben Sachen über mich geschrieben - ich möchte wissen, wie die darauf kommen. Die haben ganze Legenden über mich erfunden. So, als hätte es in meinem Leben nur Dunkles gegeben. Deshalb möchte ich mit dir lieber über die hellen Seiten meines Lebens sprechen.
Emma: Im „stern" habe ich gelesen, daß du eine unglückliche Kindheit hattest, schon als Kind hart arbeiten mußtest, und nie zur Schule gingst.
Marla: Jesus Christus, was glauben die denn, wie ich meine Texte schreibe? Die erwähnen auch nie, daß ich alles selber schreibe. Meine Eltern haben sehr viel wert darauf gelegt, daß ich die Schule zu Ende bringe, auch wenn mein Abschlußzeugnis nicht gerade berauschend war.
Emma: Woher kennst du dann das Elend, das du in deinen Liedern besingst?
Marla: Auf der anderen Straßenseite begann das Armenviertel. Natürlich habe ich das als Kind gesehen. Armut kann man sehen, hören und riechen. Da habe ich öfter mein Taschengeld genommen und bin zum Laden an der Ecke: statt Eis oder Bonbons habe ich Lebensmittel in Dosen gekauft. Die habe ich einer bestimmten Familie heimlich vor die Haustür gestellt und bin davongerannt.
Emma: Auf dem Cover deiner CD bedankst du dich sehr liebevoll bei „Onkel Billy"...
Marla: Er war ein sehr bekannter Blues-Musiker in Chicago. Er hat mich einfach zu seinen Auftritten in die Jazzclubs mitgenommen. Damals war ich 15. Ich versteckte mich unter einem großen Hut, damit sie mein Gesicht nicht sehen, und schlenderte unauffällig hinter Onkel Billy rein. Er kündigte mich als Überraschungsgast an, und ich wurde auf die Bühne geklatscht und mußte spielen. Mit 16, 17 war ich in den Klubs als Harmonikaspielerin voll akzeptiert von den Kollegen. Sugar Blue und andere Blues-Berühmtheiten baten mich bei ihren Konzerten mit auf die Bühne und gaben mir eine Chance. Gleich bei meinen ersten Auftritten waren alte, ergraute Blues-Eminenzen begeistert von dem „Jungen mit der Harmonika". Onkel Billy hatte dann jedesmal seinen großen Auftritt: 'Leute, dies ist kein Junge, es ist ein Mädchen.' Dann bekam ich Standing ovations. In meinem langen Holzfällerhemd, der Trapperjacke, einer unförmigen Hose und dem großen Hut war ich kaum zu erkennen. Ich hielt den Blick gesenkt, damit mir niemand ins Gesicht sah. Wenn die Typen mir dann auf die Schulter schlugen und ein Bier anboten, waren sie ziemlich überrascht, wenn ich hochschaute. 'Du willst sicher lieber eine Cola', stotterten sie. Aber ich bestand natürlich auf dem Bier.
Emma: Es heißt, du warst drogensüchtig. Oder ist das auch ein Märchen?
Marla: Nein, das ist leider kein Märchen. Ich bin auf Crack reingefallen. Damals war das noch eine ganz neue Droge, deren furchtbare Wirkung sich noch nicht herumgesprochen hatte. Ich lebte in Kalifornien und saß in der Falle. Ich hatte die Kontrolle verloren.
Emma: Wie hast du es geschafft, da wieder rauszukommen?
Marla: Ich habe mich herausgebetet. Walter, ein Saxophonist, half mir dabei. Er schleppte mich in Musikgeschäfte und kaufte mir neue Instrumente, er zwang mich, mit ihm in Klubs zu gehen und aufzutreten. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen, aber er blieb hart. Er war mein Rettungsengel.
Emma: Wie lange hat der Umweg gedauert?
Marla: Einschließlich Gefängnis dreieinhalb Jahre. Wenn man wirklich etwas will, kann man es schaffen. Ich zog nach New Orleans um, um ein neues Leben anzufangen. Wenn ich auf der Straße jemanden sah, der nach Crack aussah, wechselte ich vorsichtshalber die Straßenseite.
Emma: Du hast das Drogenproblem vorhin Krieg gegen schwarze Menschen genannt.
Marla: Crack ist eine industriell hergestellte Droge, die billig produziert und billig unter die Leute gebracht wird. Sie bringt vor allem schwarzen Kindern den Tod. Ich mache dafür die Regierung verantwortlich, die so etwas zuläßt. Cracksüchtige rutschen schnell in die Kriminalität ab, landen im Gefängnis und werden dort verprügelt. Dabei gehören die ins Gefängnis, die so etwas zulassen.
Emma: Wie war das eigentlich mit Nina Simone?
Marla: Ich habe sie kennengelernt, als ich in New Orleans als Bodyguard gearbeitet habe. Ich hatte einen Job als Wache in einem Hotel, in dem zufällig Nina Simone übernachtete. Eines Nachmittags gab es eine Schießerei im Foyer. Nina Simone war Augenzeugin und fragte mich angstvoll, wo die Toilette ist. Am nächsten Tag fragte sie mich, ob ich nicht als Bodyguard und Fahrerin privat für sie arbeiten wolle. Ich nahm an, ohne zu wissen, wer die reiche Dame eigentlich ist. Ich habe mich damals noch nicht für Blues-Sängerinnen interessiert. Es hat Miss Simone imponiert, daß ich im Hotel eine Uniform trug. Die sah ein bißchebn aus wie eine Polizeiuniform. Sie fand, das sehe aus, als habe sie eine Polizistin ganz für sich allein engagiert.
Emma: Wann hast du gemerkt, bei wem du gelandet warst?

Marla:
Damals sang ich nur zuhause. Ich war Instrumentalistin. Miss Simone hörte mich auf meinem Zimmer singen und prophezeite mir eine große Zukunft. Trotzdem hat sie mich oft grob behandelt. Einmal kam ich nach Hause, und mein ganzes Zimmer war leer. Nicht einmal die Matratze war noch da. Ich rannte zu ihr: Miss Simone, wo sind meine ganzen Sachen? Na ja, sie hatte alles in den Müll geworfen, weil sie mein Zimmer zu schmuddelig fand. Sie sagte mir, ich solle mir öfter meine Füße waschen. Aber ich war doch ein Hippie, und die waschen sich keine Füße.

Emma:
Hast du eigentlich als kleines Mädchen schon diese tiefe Stimme gehabt?
Marla: Ja, ich wurde damit geboren. Ich habe dieselbe tiefe Stimme wie mein Vater und mein Bruder. Wir klingen uns zum Verwechseln ähnlich. Das fand ich erst mal nicht so gut. Ich wurde ausgelacht und gehänselt. Die Leute konnten sich gar nicht beruhigen. Ich hatte es satt, immer wieder zu betonen, daß ich ein Mädchen bin. Schließlich habe ich einfach behauptet, ich sei ein Junge.
Emma: Lebst du in Paris?
Marla: Ja, ich habe dort eine kleine Wohnung. Ich lebe sehr gern alleine. In der Liebe habe ich zur Zeit kein Glück - außer bei meiner Katze Tassy. Ich habe einen sehr fairen Vertrag bei der französischen Plattenfirma bekommen. Ich habe mich für acht Jahre und vier CDs verpflichtet.
Emma: Schreibst du alle Texte selber?
Marla: Alle Texte auf der CD sind von mir, bis auf „Feet on the Ground". Das ist ein ganz altes Lied. Die Musik habe ich mit 15 komponiert, zu einem Gedicht, das meine Freundin mir gemacht hatte.
Emma: Und was hältst du von Männern, Marla?
Marla: Ich habe nichts gegen Männer, sie sind Menschen wie du und ich. Das, was die können, kann ich auch, und sie haben mich noch nie daran gehindert. Ich war auch immer schon offen lesbisch.
Emma: Zu deiner Band gehören außer den Musikern, die alle Männer sind, und dir noch zwei Frauen. Sie hüpfen und singen reichlich weiblich im Hintergrund...
Marla: Na ja, sie üben noch...

Das Interview führte Barbara Frank, EMMA 4/1994

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