Vergewaltigung – Macht & Ohnmacht
Es passierte an dem Tag, als im hessischen Willingen ein großes Skispringen ausgetragen wurde. Den ganzen Tag war Jasmin dabeigewesen. Nachts um eins setzt sie sich in den Bus, um nach Hause in ihr Nachbardorf zu fahren. Als sie aussteigt, folgt ihr ein Mann. 200 Meter vor ihrer Haustür zerrt er sie auf einen Spielplatz und vergewaltigt sie. „Wenn du schreist, bring ich dich um!“ sagt er. Jasmin schreit nicht. Sie zeigt den Täter an. Aber die Polizei findet ihn nicht.
Zunächst denkt die junge Frau, sie könnte weitermachen wie bisher. Sie pflegt ihre schwerkranke Mutter, versorgt den kleinen Bruder, macht eine Ausbildung. Der Zusammenbruch kommt anderthalb Jahre nach der Tat. Als Jasmin in eine eigene Wohnung zieht, fangen die Panikattacken an. Sie dauern bis heute an.
Auch Julia ist nach der Vergewaltigung durch ihren Ex-Freund vor vier Jahren schwer angeschlagen. Nachdem der krankhaft eifersüchtige Mann in Julias Handy eine SMS von einem Freund entdeckt hatte, war er ausgerastet. Der Täter wird verurteilt, aber Julia ist auch heute noch ständig krank, leidet unter Allergien, Erbrechen und Fieber.
160.000 Frauen werden din Deutschland jedes Jahr vergewaltigt
Zwei von geschätzten 160.000 Frauen, die in Deutschland jedes Jahr vergewaltigt werden – alle drei Minuten eine. N24-Reporterin Nadine Mierdorf hat mit Opfern, TherapeutInnen, und Richtern gesprochen. Und mit (Wiederholungs)Tätern. Was sie zu ihren Motiven zu sagen haben, gehört zum Aufschlussreichsten der Reportage mit dem treffenden Titel „Vergewaltigung – Macht und Ohnmacht“. Wer immer noch glaubt, dass es bei Vergewaltigungen um Sexualität und „Triebabfuhr“ geht, wird von Erik und Klaus eines Besseren belehrt.
Er habe „Frust abbauen“ wollen, sagt Erik, zum Zeitpunkt der Tat arbeits- und mittellos. „Ich wollte auch einfach mal die Macht über eine andere Person haben.“ Klaus, der nach einem Volksfestbesuch eine Frau in ein Gebüsch zerrt und eine Stunden lang vergewaltigt, tut das „aus Rache an seiner damaligen Frau". Und: Er, der als Kind von seinem Alkoholiker-Vater misshandelt wurde, habe auch einmal „Ohnmacht in Macht“ verwandeln wollen.
Auch der Kriminologe Prof. Christian Pfeiffer kommt zu Wort. Der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachen (KNA) machte jüngst Schlagzeilen, als er ein skandalöses Forschungsergebnis veröffentlichte: Die Zahl der Verurteilungen nach angezeigten Vergewaltigungen sinkt. Endete 1985 noch jede dritte Anzeige mit einem Verfahren und einer Verurteilung des Täters, ist es heute nur noch jede zehnte. In einigen Bundesländern ist es sogar nur jede fünfundzwanzigste.
In manchen Bundesländern funktioniert offenbar der Rechtsstaat nicht
„In manchen Bundesländern funktioniert offenbar der Rechtsstaat nicht“, klagt Pfeiffer im Gespräch mit EMMA (siehe unten). Der ehemalige niedersächsische Justizminister will nun am KNA erforschen, wie es sein kann, dass 90 Prozent der mutmaßlichen Täter straffrei ausgeht. Und hier sprechen wir ja nur von den angezeigten Vergewaltigungen. Wie eine Studie des Bundesfrauenministeriums 2004 mit 10.000 Frauen zeigte, hatte nur jede zwölfte eine Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung überhaupt zur Anzeige gebracht. „Ist Vergewaltigung in Deutschland ein strafloses Verbrechen?“ fragt Autorin Mierdorf.
Nur einen Schwachpunkt hat der Film: Auf der Suche nach den Gründen für die vielen Freisprüche und Einstellungen der Verfahren nennt Mierdorf die Schwierigkeit, die Vergewaltigung zu beweisen. Denn in den allermeisten Fällen sind ja nur zwei Personen anwesend. Was sie nicht sagt: Auch in vielen Fällen, in denen zweifelsfrei feststeht, dass „nicht einvernehmlicher“ Geschlechtsverkehr stattgefunden hat, gibt es Freisprüche. Begründung: Der Täter habe nicht erkennen können, dass die Frau den Geschlechtsverkehr nicht wollte.
In einem Urteil des Bundesgerichtshof aus dem Jahr 2006 liest sich das so: Dass „der Angeklagte der Nebenklägerin die Kleidung vom Körper gerissen und gegen deren ausdrücklichen Willen Geschlechtsverkehr durchgeführt hat“, belege „nicht die Nötigung des Opfers durch Gewalt“. Schon lange fordern Frauenorganisationen und auch der Deutsche Juristinnenbund eine Änderung des § 177 im Strafgesetzbuch, damit ein „Nein“ der Frau reicht, um den Tatbestand zu erfüllen. Es wäre ein entscheidender Schritt aus der Straflosigkeit.
Jasmin sucht den Täter jetzt selbst – via Facebook. Es komme ihr nicht auf ein bestimmtes Strafmaß an, sagt sie. Sie will vor allem eins: „Dass er einsieht, was er getan hat.“
„Vergewaltigung – Macht und Ohnmacht“, N24, Sonntag, 20. Juli, 23.05 Uhr. Verpasst? Hier kann man die Reportage in der Mediathek sehen (täglich ab 20 Uhr).