Nato-General a.D. warnt eindringlich

Nach einem Angriff auf Charkiw: Ähnlich dramatisch muss man sich wohl auch die Szenen der Zwangsrekrutierungen vorstellen.
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Herr Kujat, Amerikas Präsident Joe Biden hat Kiew erlaubt, mit westlichen Waffen Ziele in Russland anzugreifen. Wie beurteilen Sie diese jüngste Entwicklung?
Die militärische Lage der Ukraine ist äußerst schwierig. Das liegt nicht nur daran, dass ihr Waffen und Munition fehlen, sondern vor allem daran, dass die Front mit 1.300 Kilometern völlig überdehnt ist. Die Ukrainer haben hohe Verluste erlitten und sind nicht in der Lage, sie im Augenblick zu ersetzen. Zurzeit sieht es so aus, als würden sie überhaupt nur 150.000 einziehen können.

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Woran liegt das?
An zwei Dingen. Einmal haben sehr viele junge Männer das Land verlassen, und zweitens sind die Jahrgänge der Zwanzig- bis Dreißigjährigen sehr klein, teilweise unter 200.000. In dieser Situation hat der ukrainische Präsident Selenskyj mehrere Forderungen gestellt.

Der Taurus könnte den Kreml und die Atom-Frühwarnsysteme zerstören!

Welche Forderungen sind das?
Erstens die Erlaubnis, amerikanische Waffensysteme auf russischem Territorium einzusetzen. Das hat auch mit der Lage zu tun. Die Russen machen an mehreren Abschnitten Fortschritte, insbesondere im Raum Charkiw. Es ist nicht ihr Ziel, diese Großstadt einzunehmen. Sie wollen eine Pufferzone zwischen der Grenze und den ukrainischen Streitkräften. Denn die Ukraine hat mehrmals russisches Territorium angegriffen, zivile Ziele wie die russische Grenzstadt Belgorod, zum Teil auch mit amerikanischer Streumunition. Daran sieht man, dass sich die Ukraine nicht an die Absprachen mit den Amerikanern hält. Streumunition ist nach dem humanitären Völkerrecht verboten. Beim letzten Angriff gab es 24 Tote, darunter fünf Kinder, und über hundert Verletzte. Eine Pufferzone bedeutet für die Ukrainer, dass es immer schwieriger für sie wird, russische Truppenkonzentrationen in Grenznähe zu bekämpfen. Deshalb verlangen sie die Freigabe, um diese Konzentrationen bekämpfen zu können.

Als militärischer Laie sehe ich Selenskyjs Kalkül darin, die Russen zu einer massiven Gegenreaktion zu provozieren und den Krieg so weit zu eskalieren, dass die Nato Bodentruppen entsenden muss.
Genau so ist es. Die Ukraine ist nicht mehr in der Lage, militärisch offensiv so zu handeln, dass die strategische Lage zugunsten der Ukraine gewendet wird. Das ist ausgeschlossen und wird auch durch andere Forderungen der Ukraine verdeutlicht. Sie fordert, zweitens, dass die Nato-Staaten neue Rekruten in der Ukraine ausbilden, unmittelbar an der Front. Die Begründung: damit sie nach der Ausbildung schnell in die Verteidigung integriert werden. Aber wenn man berücksichtigt, dass eine solche Ausbildung mindestens drei Monate dauert, spielt es überhaupt keine Rolle, ob da noch mal zehn Stunden Fahrt von einer Kaserne in Deutschland in die Ukraine dazukommen. Das offensichtliche Ziel ist es, dass es durch diese frontnahe Ausbildung auch zu Kampfhandlungen mit russischen Streitkräften kommt.

Harald Kujat ist früherer Nato-General und Vorsitzender des Russland-Rates. - FOTO: Wolf von Dewitz/dpa
Harald Kujat ist früherer Nato-General und Vorsitzender des Russland-Rates. - FOTO: Wolf von Dewitz/dpa

Und Kiews dritte Forderung?
Dass Nachbarstaaten wie Polen oder Rumänien mit ihren Luftstreitkräften russische Raketen über der Ukraine von ihrem, vom Nato-Territorium aus bekämpfen. Auch ein weiterer Schritt der Nato-Staaten in den Krieg. Der US-Verteidigungsminister hat kürzlich angedeutet, dass die Ukraine in der Lage sein müsse, angreifende russische Flugzeuge schon im russischen Luftraum zu bekämpfen. Hintergrund: Die Russen setzen vermehrt Gleitbomben ein, die praktisch nicht bekämpfbar sind. Sie klinken sie in einer Entfernung von siebzig Kilometern vor der ukrainischen Grenze aus. Dann gleiten sie ins Ziel. Will man diese Angriffe abwehren, müsste man die Flugzeuge bekämpfen, bevor die Bomben ausgeklinkt werden. Der Hinweis ist klar. Ab Juli sollen die Ukrainer F-16-Kampfflugzeuge bekommen, die in der Lage sind, mit ihren weitreichenden Luft-Luft-Raketen weit in den russischen Luftraum hineinzuschießen. Wenn Sie das alles zusammen betrachten, ist es verständlich, dass die ukrainische Führung versucht, nach jedem Strohhalm zu greifen. Wir müssen überlegen: Was bedeutet das? Ich zitiere mal einen norddeutschen Dichter, Theodor Storm: «Der eine fragt, was kommt danach / Der andere fragt nur, ist es recht / und also unterscheidet sich / der Freie von dem Knecht.» Wenn Sie das auf Europas Reaktion auf die amerikanische Positionsänderung anwenden, passt das ganz gut.

Wie erklären Sie sich die westliche Strategie? Nimmt die Bereitschaft für einen Weltkrieg zu?
Richtig ist, dass der Westen mit enormem finanziellem und materiellem Aufwand versucht hat, die Verteidigung der Ukraine zu unterstützen. Die Parole war immer: Die Ukraine darf nicht verlieren, Russland darf nicht gewinnen. Jetzt ist das Gegenteil eingetreten. Trotz all der Unterstützungsmaßnahmen, die ja auch den europäischen Bürgern tief in die Tasche gegriffen haben, ist die Situation heute wesentlich schwieriger als am Anfang. Daher versucht man, auch in einer gewissen Panikstimmung, zu retten, was zu retten ist. Biden hat übrigens seine Ablehnung des Einsatzes von US-Waffen auf russischem Territorium damit begründet, dass er den dritten Weltkrieg vermeiden will. Das heißt, er war sich über die Tragweite im Klaren. Deshalb habe ich Theodor Storm zitiert. Was kommt danach? Was kommt nach dieser Entscheidung? Es steht außer Frage, dass die Ukraine berechtigt ist, ihre Verteidigung auch auf das Territorium Russlands zu tragen. Die entscheidende Frage ist: Was bedeutet das für die Ukraine und für Russland? Mit der Ukraine meine ich den gesamten Westen. Für die Ukraine bedeutet es, dass sie trotzdem ihre Ziele nicht erreichen wird – die Rückeroberung des Donbass, der Krim.

Und Russland?
Auch für Russland kann eine existenzielle Bedrohung entstehen. Ein Beispiel: Kürzlich hat die Ukraine zwei Radarsysteme des russischen Frühwarnsystems angegriffen. Eine verantwortungslose Handlung eines politischen Hasardeurs. Denn diese Systeme dienen dazu, einen interkontinental-strategischen Angriff auf Russland zu erkennen und notwendige Maßnahmen einzuleiten. Aber wenn ich dieses System blende, kann Russland einen solchen Angriff nicht erkennen und könnte zu einer Überreaktion neigen, um einen bevorstehenden oder auch nicht bevorstehenden Angriff abzuwehren. Das muss man immer im Auge behalten. Das bedeutet es, wenn ich sage: Was kommt danach? Was passiert, wenn die Ukraine das fortsetzt?

Die Ukrainer wollen Frieden. Die Zustimmung für Selenskyj liegt bei unter 17 Prozent

Schlafwandeln wir wieder in einen Weltkrieg hinein wie 1914?
Die Amerikaner eskalieren durchaus vorsichtig. Sie machen ganz kleine Schritte, warten ab, wie der Gegner reagiert. Reagiert er nicht, machen sie den nächsten Schritt. Allerdings besteht das Risiko, nicht zu erkennen, wann der Gegner die Toleranzschwelle erreicht. Konkret: Die Freigabe ihrer Waffen ist regional auf ein kleines Gebiet beschränkt. Es können nur Waffen mit kurzer Reichweite eingesetzt werden. Die Amerikaner haben vorerst, ich betone: vorerst, vorsichtig reagiert. Aber in Europa gehen die Forderungen weit darüber hinaus. Die Tatsache, dass ein französischer Präsident und andere europäische Regierungschefs bereit sind, in Russland zu intervenieren, halte ich für unverantwortlich. Jetzt höre ich schon die erste Stimme in Deutschland, die sagt, nun solle der Bundeskanzler den Taurus freigeben. Das sind aber zwei verschiedene Dinge. Was Biden genehmigt hat, betrifft eine regional begrenzte taktische Lage. Der Taurus aber ist ein strategisches System.

Mit ihm könnte man den Kreml angreifen?
Auf jeden Fall, und zwar so, dass er nicht mehr existiert. Aber man kann eben auch das Frühwarnsystem lahmlegen. Man könnte auch, wie die Ukraine das schon einmal versucht hat, den Flugplatz einer interkontinentalen Bomberflotte angreifen. Hätte das System damals nicht direkt auf dem Flugplatz eingeschlagen, sondern einige Kilometer weiter auf dem Nuklearwaffenlager, dann würden wir beide heute nicht mehr miteinander sprechen.

Ist die dosierte Eskalationsstrategie der Amerikaner nicht rational? Wir haben so viel in diese Konfrontation investiert, wir können jetzt nicht einfach abschleichen wie in Afghanistan. Und Putin wird auch nicht einen Weltkrieg vom Zaun brechen wollen.
Man muss fragen: Was sind die Alternativen? Eine nukleare Eskalation ist möglich, aber wenig wahrscheinlich. Putin hat selbst gesagt: Wir sind nicht verrückt. Wir wissen, was ein Nuklearkrieg bedeutet. Aber Russland verfügt auch über konventionelle Waffen, die große Zerstörung anrichten und über viele tausend Kilometer eingesetzt werden können. Das muss man immer berücksichtigen und die Frage beantworten: Was können und was wollen wir erreichen? Nicht mehr erreichbar sind die strategischen Ziele der Ukraine – den Donbass erobern, Russen aus dem Land treiben, die Krim erobern. Das ist ausgeschlossen.

Selenskyj beschießt die russische Zivilbevölkerung mit Streumunition

Welche Optionen sehen Sie?
Drei. Die erste Option ist die, dass dieser Krieg einfach weitergeführt wird. Auch von den Russen, die ja nicht an einem Durchbruch und an einer Besetzung der gesamten Ukraine interessiert sind, so dass innerhalb der Ukraine eine Zone entsteht, in der laufend Kampfhandlungen fortgeführt werden, aber in der es im Grunde zu keiner Entscheidung kommt. Es könnte sogar sein, dass die Russen, wenn sie den Donbass vollständig erobert haben, sagen: Wir haben unsere Ziele erreicht, und wir stellen die Kämpfe ein. Die zweite Option wäre eine konventionelle Eskalation, dass der Westen einen russischen Durchbruch verhindern will und Nato-Staaten nationale Truppen in den Kampf schicken. Wenn die dann in den Größenordnungen vernichtet werden, von denen wir gesprochen haben, dann wird die Nato insgesamt eingreifen müssen, und es kommt zu einem großen europäischen Krieg.

Ein europäischer Krieg?
Er wird nicht auf die Ukraine beschränkt sein. Natürlich würde die Ukraine vollkommen zerstört, die gesamte Ukraine würde Kriegsschauplatz werden. Aber auch europäische Staaten würden in diesen Konflikt mit hineingezogen werden. Das ist eine Option, die ich für völlig ausgeschlossen halte für einen rational denkenden Politiker, einen verantwortungsbewussten Politiker. Auch Scholz hat das immer wieder betont: Das wollen wir nicht. Aber es ist eben ganz schwierig, an einer Stelle einzugreifen und zu sagen: Hier stoppen wir die Eskalationsspirale. Ganz schwierig, weil jeder sagen wird: Na ja, das ist vielleicht zu früh, aber vielleicht ist es auch zu spät.

Und die dritte Option?
Dass man sagt: Leute, die Ukraine kann ihre Ziele nicht mehr erreichen. Wir, der Westen, haben alles getan, was wir tun konnten. Irgendwann muss dann auch einmal Schluss sein, damit wir nicht alle in diesen Strudel hineingezogen werden – und aus dem Krieg in der Ukraine dann ein Krieg um die Ukraine wird. Das können wir nicht wollen. Und das bedeutet, dass man sich mit den Russen an einen Tisch setzen muss. Und man muss versuchen, einen Waffenstillstand zu erreichen, auf den dann möglichst schnell Friedensverhandlungen folgen.

Man muss sich mit den Russen an einen Tisch setzen, für rasche Friedensverhandlungen!

Sehen Sie da eine Chance?
Es gibt eine ganz interessante Entwicklung. Putin hat vor seinem Besuch vor kurzem in China sinngemäß gesagt, Pekings Vorschlag vom 24. Februar des vergangenen Jahres mache Sinn, der überzeuge sie. Und der chinesische Staatspräsident hat dann beim Besuch des Bundeskanzlers noch bestimmte Prinzipien hinzugefügt und ausgeführt. Letzte Woche ist er von Putin nochmals als vernünftiger Ansatz gewertet worden. Er hat das jedoch mit zwei Bedingungen verknüpft. Erstens: Die entstandenen Realitäten müssen anerkannt werden. Das heißt, was die Russen erobert haben, steht nicht mehr zur Disposition. Zweitens: Es müssen die Sicherheitsinteressen beider Seiten berücksichtigt werden. Das ist aber eine durchaus vernünftige Ausgangsbasis für Verhandlungen.

Würde der Westen da mitmachen?
Man muss genau anschauen, wohin die Amerikaner die Ukraine nach dieser verlustreichen großen Offensive des letzten Jahres geschoben haben – in die strategische Defensive zu gehen. Warum? Um die hohen Verluste zu reduzieren und um Territorium, das noch unter ukrainischer Kontrolle ist, zu halten. Das bedeutet aber logischerweise, dass die Amerikaner sagen: Für die absehbare Zukunft könnt ihr die russisch besetzten Gebiete abschreiben. Damit sind wir im Grunde auf amerikanischer und russischer Seite auf einer Ebene, und es ist töricht, dass wir diese Gelegenheit nicht nutzen.

Wie groß ist die Gefahr einer sich verselbständigenden Eskalation, die in eine Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts münden könnte, so wie der Erste Weltkrieg die Urkatastrophe des 20. war?
Sie haben zu Recht gesagt, der Erste Weltkrieg war die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Den Zweiten Weltkrieg hätte es nicht gegeben, wenn es den Ersten Weltkrieg nicht gegeben hätte, und den Kalten Krieg hätte es auch nicht gegeben, und die Teilung Europas hätte es auch nicht gegeben, und viele Millionen Menschen hätten nicht ihr Leben verloren. Den Zweiten Weltkrieg wollten die Völker eigentlich nicht, sondern nur die Herrschenden. Das ist die Situation, in der wir heute sind. Die ukrainische Bevölkerung will Frieden, sie will Verhandlungen. Die Zustimmungswerte für den ukrainischen Präsidenten sind runter auf 17 Prozent. Es gibt erheblichen Widerstand in der Ukraine. Die Leute sehen, dass Leute auf der Straße gewaltsam eingefangen und an die Front geschickt werden. In den meisten Familien hat der Vater, der Sohn, der Schwager, irgendein Familienmitglied sein Leben gelassen oder ist schwerverwundet worden. Hier wird ein Krieg geführt über die Köpfe der ukrainischen Bevölkerung hinweg.

Und im Westen?
Ich habe den Eindruck, dass das auch im Westen der Fall ist. Ich kann nur von Deutschland sprechen. Aber wir haben eine große schweigende Mehrheit. Ich merke das auch an den Reaktionen auf das, was ich sage. Dass es viele Menschen umtreibt, wie wir uns mit diesem Krieg befassen. Die Aggressivität der Sprache, die Dämonisierung von Putin. Man kommt immer sofort in den Verdacht, ein Putin-Freund zu sein. Nein, es geht darum, was ich vorhin sagte. Was kommt danach? Was folgt danach für uns? Es kann nicht sein, dass wir gegen den Willen der ukrainischen Bevölkerung weiter einen Krieg unterstützen, der sich irgendwann auch gegen uns richtet.

Trauen Sie den heutigen Regierungen in Deutschland, in Frankreich, in den USA zu, dass sie von diesem Schlachtross noch einmal herabsteigen können?
Ich bin da sehr skeptisch. Und ich habe die ganz große Befürchtung, dass der Ukraine-Krieg zu Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts wird.

Das Gespräch erschien zuerst in der Schweizer Weltwoche. Es führte Roger Köppel, Herausgeber der Weltwoche. Das ausführliche Video-Interview finden Sie auf weltwoche.ch

General Harald Kujat war von 2000 bis 2002 als 13. Generalinspekteur der Bundeswehr der ranghöchste Offizier und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses. Der frühere Vorsitzende des NATO-Russland-Rates setzt sich seit Beginn des Krieges in der Ukraine für Diplomatie und Friedensverhandlungen ein.

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