Verstoß gegen Menschenwürde!
Ich glaubte meine Augen nicht zu trauen, als ich Ende Juni, zwei Tage vor dem 4. Plenum der Deutschen Islam Konferenz (DIK), deren Mitglied ich bin, die "Empfehlungen" der Arbeitsgruppe 2 zu "Religionsfragen im deutschen Verfassungsverständnis" las. Dort stand: "In Ausübung ihrer Religionsfreiheit steht es Schülerinnen und Schülern an öffentlichen Schulen frei, Zeichen ihrer Religionszugehörigkeit zu tragen oder sich religiösen Vorschriften gemäß zu kleiden. Das Tragen des Kopftuches kann daher nicht in Schulordnungen, Elternverträgen o.ä. untersagt werden."
Und auf Seite 20 der "Empfehlungen" heißt es weiter: "Bei Schülerinnen … überwiegt in der Abwägung ihre Religionsfreiheit gegenüber dem staatlichen Bildungs-/Erziehungsauftrag."
Warum hat in der Arbeitsgruppe noch nicht einmal ein staatlicher Vertreter protestiert? Warum empfiehlt eine vom Innenminister einberufene Islam Konferenz nicht Maßnahmen, positiv die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung von muslimischen Mädchen zu fördern, sondern widmet sich vorrangig dem Recht der Eltern, die Ausübung ihrer religiösen Auffassungen über ihre Kinder durchzusetzen? Und ignoriert damit den Auftrag der staatlichen Schulen auf Aufklärung und Gleichbehandlung der Kinder?
Mädchen vor dem 14. Lebensjahr mit dem Kopftuch in die Schule zu schicken, das hat wenig mit Religionsfreiheit oder dem Recht der Eltern auf Erziehung zu tun, sondern ist ein Verstoß der durch das Grundgesetz garantierten Menschenwürde und des Diskriminierungsverbots. Denn das Kopftuch qualifiziert das Kind als Sexualwesen, dass seine Reize vor den Männer zu verbergen hat, das weniger Freiheiten hat als die Brüder und die anderen Schulkameradinnen. Jede erwachsene Frau mag für sich selbst entscheiden, ob sie sich verhüllt, aber Kinder mit diesem Stigma aufwachsen zu lassen, ist für mich ein Zeichen von religiöser Apartheid und widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz und dem Bildungsauftrag. Strengreligiöse Muslime und ihre Islamverbände funktionalisieren die in Deutschland durch die Verfassung garantierte Freiheit der Religionsausübung, um das islamische Geschlechtermodell der unterschiedlichen Behandlung von Männern und Frauen durchzusetzen. Sie sexualisieren die Kinder damit auf unerträgliche Weise.
Wir müssen uns darum nicht nur dafür einsetzen, dass Frauen selbst entscheiden, ob, wann und wen sie heiraten und ob und wie viele Kinder sie bekommen. Wir müssen die Schwachen der Gesellschaft, in diesem Fall die jungen Mädchen auf auch vor Funktionalisierung und Missbrauch schützen.
Ich bestreite, dass es die "religiöse Verpflichtung" gibt, ein Kopftuch zu tragen. Und ich kann mich dabei auf den Koran und die Überlieferungen berufen. Man kann so tun, als sei das Kopftuch im Islam religiös geboten, aber der Koran und die Sunna lassen auch ganz andere Interpretationen zu. Wer das Kopftuch will, ist Traditionalist und interpretiert die Überlieferung im eigenen Interesse. In Deutschland gehört er damit zu der Minderheit von Muslimen, die diese Religion nicht spirituell, sondern als Gesetz begreifen und einen "Scharia-Islam" vertreten.
Der Schleier trennt die muslimische Gesellschaft in innen und außen, in Öffentlichkeit und Privatheit, in Männer und Frauen. Der traditionelle Islam kennt die sexuelle Selbstbestimmung der Frau nicht, sie steht zeitlebens unter der Kontrolle der Männer. Die Frauen zeigen mit ihrer Verhüllung "Demut und Bescheidenheit", sie tragen das "Schamtuch", um sich den Blicken der lüsternen Männer zu entziehen. Dahinter steckt die Gesinnung, dass sich das Opfer verstecken muss, damit der triebgesteuerte Mann auf der Straße nicht in Versuchung gerät.
Dabei hat das bürgerliche Recht in unserer Zivilisation den öffentlichen Verkehr eindeutig geregelt: Der Mann hat sich zu beherrschen, der sexuelle Übergriff ist geächtet und wird nötigenfalls polizeilich und gerichtlich verfolgt.
Gleichzeitig ist es selbstverständlich inakzeptabel, dass Frauen wegen ihres Kopftuches in der Öffentlichkeit beschimpft oder angegriffen werden. Wenn sich eine Frau wie die 28-jährige Marwa El-Sherbini in Dresden dagegen wehrt, wegen ihres Schleiers als "Islamistin und Terroristin" beschimpft zu werden, gehört der Beleidiger bestraft. Und wenn der sie im Gericht angreift und ersticht, ist das eine Schande für das Gericht, das sie nicht schützen konnte – und für uns alle. Unser Mitgefühl gilt ihrem Kind und Mann.
Es stellt sich die Frage, wie man zukünftig sachlich gegen Islamfeindlichkeit vorgehen kann. Gleichzeitig müssen wir unsere Einwände gegen das durch den Islam legitimierte Unrecht äußern können, ohne mit Hassern auf eine Ebene gestellt zu werden. Was Claudius Seidl, in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schreibt, ist jedenfalls keine Lösung. Er beklagt, dass "diese Gesellschaft erst die Trauer und das Entsetzen der Ägypter brauchte", um auf das Verbrechen zu reagieren, und schlägt vor, die "Kopftuchverbieter" sollten "mal ein Jahr lang schweigen und nachdenken".
Das wäre ganz im Sinne der Islamverbände, die das Kopftuchverbot für Lehrerinnen als Ursache für den Mord ausmachen. Sie beklagen, kopftuchtragende Frauen würden "weitgehend gesellschaftlich und menschlich abgewertet." Das ist so politisch durchsichtig, wie die ständige Litanei, "Ehrenmorde" hätten nichts mit dem Islam zu tun.
Wenn Freitagsgebete und Demonstrationen für Marwa organisiert werden, findet das als Akt des Mitgefühls meine Unterstützung – aber ich darf auch fragen, wann in den letzten Jahren von Muslimen je ein muslimisches Bittgebet für Hatun in Berlin, Morsal in Hamburg oder Büsra in Schweinfurt gehalten wurde?
Wenn erwachsene Frauen heute freiwillig das Kopftuch tragen, gibt es dafür die unterschiedlichsten subjektiven Gründe: Sie zeigen sich als Muslimin; sie erkennen eine gottgewollte Herrschaft der Männer über die Frauen an; sie demonstrieren ihren politischen Willen, in einer muslimischen Gesellschaft leben zu wollen; sie machen sich unsichtbar, weil sie meinen nicht in die Öffentlichkeit zu gehören; sie nehmen es als Zeichen einer identitätsstiftenden Mode oder als Zeichen des Protests.
Doch gleichzeitig ist das Kopftuch ein objektives politisches Symbol. Unter dem Schild der Religionsfreiheit versuchen die Islamverbände, ihre Version eines "religiösen Lebens" auch in Deutschland durchzusetzen, Moscheebauten und das Kopftuch sind die Speerspitze ihrer Offensive. Für das Recht von Lehrerinnen auf das Kopftuch in der Schule sind sie jahrelang durch alle juristischen Instanzen gegangen – und letztlich unterlegen. Nun versuchen den Islamverbänden nahestehende Familien, das Kopftuch über ihre Kinder durchzusetzen. Es ist unsere Pflicht, die Kinder davor zu schützen.
Jedes Mädchen hat ein Recht, ein gleichberechtigtes Mitglied unserer säkularen Gesellschaft zu werden. Es hat ein Recht seinen Körper zu erfahren, es soll selbst bestimmen können, mit oder ohne Kopftuch aufzuwachsen.
Das Grundgesetz sieht Religionsmündigkeit ab einem Alter von 14 Jahren vor. Das bedeutet, dass zumindest an den Schulen bis zur sechsten Klasse generell das Kopftuch für Schülerinnen nicht zugelassen werden sollte.
Jedes Kind hat ein Recht auf Kindheit. Es muss über seine Rechte aufgeklärt werden und lernen, wie Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben gelebt und verteidigt werden kann. Dies ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die vorrangig von der Schule geleistet werden sollte. Kinder sind schließlich kein Besitz der Eltern, sondern stehen unter dem Schutz der Grundrechte. Und Religion ist ein Teil unserer Freiheit, steht jedoch nicht über ihr.
Die Autorin ist Mitglied der Deutschen Islam Konferenz (DIK). Zuletzt erschien von ihr "Bittersüße Heimat" (KiWi).