Necla Kelek: Jede zweite Türkin in
Necla Kelek ist eine ‚Türkin mit deutschem Pass‘. Sie ist die Urenkelin eines Mannes, der mit Sklavinnen für den Harem des Sultans sein Vermögen gemacht hat, und die Tochter eines Mannes, der ihre Mutter für zwei Ochsen gekauft hat. Für das Mädchen der ersten türkischen Einwandererwelle war der Preis der Befreiung hoch. Aber sie hat die anderen Frauen nicht vergessen. Die in Hamburg lebende Sozialwissenschaftlerin, die ihre Dissertation über den ‚Islam im Alltag‘ gemacht hat, hat jetzt nicht nur ihr Leben und das ihrer Familie aufgeschrieben, sondern ist auch in die Moscheen gegangen und hat mit den unsichtbaren Türkinnen gesprochen; mit denen, die unter dem Schleier verschwinden und für die die Moschee der einzige Ort ist, den sie außerhalb ihrer vier Wände kennen. Und sie deckt einen ungeheuren Skandal auf: Mindestens jede zweite Türkin, die heute in Deutschland einen Türken heiratet, ist eine ‚Importbraut‘ und Opfer einer arrangierten beziehungsweise Zwangsehe. Moderner Sklavinnenhandel, mitten in Deutschland – und alle gucken weg.
An den Universitäten wie in der Politik ist inzwischen die Generation der 68er in ihrem Marsch durch die Institutionen ganz oben angekommen. Sie sind Minister, Staatssekretäre, Bundesbeauftragte, Gleichstellungsbeauftragte; sie ha¬ben Lehrstühle, hohe Posten in Verwaltung und Forschung und erwecken doch den Eindruck, als hätten sie auf dem Weg nach oben vergessen, wofür sie dereinst losmarschiert sind.
Während viele von ihnen auf der einen Seite für die gleichgeschlechtliche Ehe eintreten, Diskriminierung von Frauen in Beruf, Gesellschaft und Familie aufs Schärfste geißeln, scheinen dieselben Leute gegenüber dem Islam mit Blindheit geschlagen zu sein. Da protestiert kaum einer, wenn Schwule im Islam gesteinigt werden; da wird Verständnis für kulturelle Eigenheiten aufgebracht, wenn Mädchen von Teilen des Schulunterrichts ferngehalten werden; da wird nicht eingegriffen, wenn Sechsjährige das Kopftuch tragen müssen oder Frauen wie Sklavinnen verschachert werden.
Wie kann zum Beispiel die Grüne Marieluise Beck, die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen, nach mehreren Jahren Amtszeit immer noch davon überrascht werden, dass Zwangsheirat unter türkischen Migranten übliche Praxis sei. „Haben Sie Zahlen?“, fragte mich die Ausländerbeauftragte, deren Aufgabe es doch von Amts wegen sein sollte, solchen Problemen nachzugehen.
Fallen Zwangsheiraten, „verkaufte“ Bräute, Vielweiberei unter das Gebot der „Anerkennung kultureller Differenzen“? Die wohlfeile, von den Deutschen so gern bemühte Wortmünze „kulturelle Differenz“ verdeckt, dass damit unter Schutz gestellt wird, was unseren Grundrechten Hohn spricht. Das scheint mir der „Schleier“ zu sein, mit dem die Deutschen zu kämpfen haben: Es gibt eine panische Angst davor, Islamisten wegen ihrer Religion oder Herkunft zu diskriminieren, lieber nimmt man deren Verletzung von Grundrechten billigend in Kauf.
Die Deutschen haben sich engagiert mit ihrer nazistischen Vergangenheit und den Verbrechen an anderen auseinandergesetzt, was sicherlich viel zu dem zivilen und demokratischen Gepräge dieser Republik beigetragen hat. Aber zuweilen verstellt das besondere Schuldgefühl gegenüber Juden, Sinti, Roma, Homosexuellen und anderen den klaren Blick auf die heutigen Realitäten von Unterdrückung und Ausgrenzung. Die guten Deutschen und nicht wenige Christen verzeihen den Muslimen alles, nur um ihre eigene vermeintliche Schuld abzutragen.
Die Argumentationskette ist schlicht. Ausländer sind arm (weil sie von uns ausgebeutet werden), und gut (weil sie nicht so sind wie wir). Also muss die deutsche Gesellschaft ihre Schuld abtragen – und ihnen helfen. Immer wieder höre ich von Deutschen und von Türken das Argument, der deutsche Staat habe ja auch nichts für die Integration getan. Es gäbe keine bezahlten Sprachkurse für Ausländer. Ich frage: Warum muss der Staat bezahlen, wenn jemand Deutsch lernen will? Ich halte es für eine Selbstverständlichkeit für jeden, der sich entschließt, auf längere Dauer in ein fremdes Land zu gehen, dass er sich bemüht, die Sprache dieses Landes zu erlernen, ob mit oder ohne staatliche Hilfe.
Es gibt auch in meiner Verwandtschaft Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen, die seit dreißig Jahren und länger in Deutschland leben und immer noch kein Deutsch sprechen. Türkische Männer und Frauen hätten in jeder Volkshochschule Gelegenheit, die deutsche Sprache zu erlernen. Sicher, es gab in den ersten Jahren der Anwerbung von Arbeitskräften Versäumnisse und Fehler. Türken wie Deutsche waren davon ausgegangen, dass die „Gastarbeiter“ nur vorübergehend hier bleiben und dann wieder verschwinden würden. Das Problem ihrer Integration schien sich gar nicht zu stellen. Aber schließlich hat sich jeder heute in Deutschland lebende Türke irgendwann persönlich entschlossen, in diesem Land zu bleiben. Spätestens von diesem Zeitpunkt an hätte er anfangen können, Deutsch zu lernen. Aber stattdessen haben die Türken sich massenhaft in ihre Moscheen zurückgezogen und verteidigen ihre islamische Welt. Sie haben sich längst ihre eigene Parallel-Gesellschaft geschaffen, auch mithilfe von deutschen Errungenschaften wie Sozialversicherung und Arbeitslosenunterstützung.
Ein Single-Dasein ruft bei Muslimen nur Mitleid hervor. Wer mit 25 oder gar 30 Jahren nicht verheiratet ist, gilt als fluchbeladener Mensch, dem geholfen werden muss. Seine Verwandten, Nachbarn, Freunde – alle werden sich an der Suche nach einem geeigneten Partner beteiligen.
Die Hochzeit ist der Höhepunkt im Leben einer türkischen Familie. Den Sohn oder die Tochter ehrenvoll zu verheiraten und eine große Feier auszurichten, ist die vornehmste Aufgabe der Eltern. Dieser Aufgabe wird der Lebensplan untergeordnet, dafür wird gespart, auch auf Kosten anderer Ziele wie eine ordentliche Berufsausbildung. Hochzeiten werden monatelang vorbereitet und mit einem ungeheuren Aufwand gefeiert.
Nach dem Gang zum Standesamt findet die Hochzeitsfeier statt. Je aufwändiger sie ist, desto höher das Ansehen der Familie. Für die Hochzeit meines Neffen in Kayseri hat sich sein Vater vermutlich auf Jahre verschuldet. 350 geladene Gäste im besten Hotel am Platze zu bewirten, war für den Lehrer eine Ehre, und er wird sich immer wieder mit Stolz das Sieben-Stunden-Live-Video ansehen, um sich selbst zu feiern.
Sobald ein junges Mädchen zur Frau wird, muss es verheiratet werden, damit es die Ehre der Familie nicht beschmutzen kann. Unverbindliche Freundschaften zwischen Jungen und Mädchen sind nicht gestattet. Die Vorstellung, dass sich ein Junge und ein Mädchen anfreunden, ist für einen frommen Muslim mit Versuchung, Ehrverlust und Sünde besetzt. Voreheliche Kontakte, gar vorehelicher Geschlechtsverkehr, wären für eine muslimische Familie der GAU, der größte anzunehmende Unfall, in der Familiengeschichte.
Da jungen Mädchen als sündigen Wesen grundsätzlich misstraut wird, schränken die Eltern die vorehelichen Kontakte der jungen Mädchen massiv ein. Schon der Flirt in der Schule, das Treffen an der Straßenecke gelten als anstößig und unerwünscht. Die einfachste Lösung scheint die frühe Heirat zu sein. Nun wird der Ehemann für die Tochter zuständig, das entlastet die Familie. Denn die Ehre der Familie ist an die Tugendhaftigkeit der Tochter geknüpft und über deren Lebenswandel wachen der Vater, die Brüder oder der Onkel. Es ist eine Tradition des Misstrauens.
Manchmal allerdings soll mit der arrangierten Ehe auch ein ganz anderes Problem gelöst werden. Die Kinder sollen ‚von der Straße‘ geholt werden. Junge Männer, die nach Meinung ihrer Eltern unter schlechten Einfluss geraten sind, die Kontakt zu Drogen haben oder ihre Aggressivität nicht bändigen können, werden mit einem Mädchen aus der Türkei verheiratet. Die Eltern möchten sichergehen, dass sich ihre Kinder nicht von ihnen und dem türkisch-muslimischen Kulturkreis entfremden. Und die beste Gewähr dafür ist in ihren Augen, eine unverdorbene junge Frau aus der Türkei, die fraglos alles macht, was die Schwiegermutter sagt.
In meinen zahlreichen Gesprächen mit den Frauen habe ich feststellen müssen, dass keine von ihnen vor der Hochzeitsnacht aufgeklärt wurde. Was in dieser Nacht passieren sollte, wussten sie nicht.
Auch ich wurde in die ‚Kunst der Liebe‘ nur knapp von meiner Tante eingewiesen. Ich war 14, und sie sagte mir, wie man es mit einem Mann machen soll: „Du legst dich hin, machst die Hände zur Faust und schließt die Augen. Und ‚o gelir ve bosalir‘, er kommt und entleert sich. Aber wenn du dich bewegst, wird er sich lange an dir aufhalten.“ Seit 25 Jahren mache sie es so, und ihr Mann habe sich noch nie beklagt.
Die Frau hat dafür zu sorgen, dass der Mann befriedigt wird, sie hat ihm Kinder zu gebären und den Haushalt zu führen. Von Liebe ist nicht die Rede. Die Liebe des Sohnes gehört der Mutter oder Gott. Ein sozialer Aufstieg gelingt der Frau nur, wenn sie selbst Mutter eines Sohnes wird. Der höchste Status, den eine Frau in der türkisch-muslimischen Familie erreichen kann, ist der der Caynana, der Schwiegermutter. Erst dann darf sie selbst entscheiden, ihm die Braut aussuchen, über deren Leben bestimmen und ihr Befehle erteilen, und sie tut dies oft ohne Gnade und Rücksicht.
Bis dahin bleibt die ‚Gelin‘ die Fremde, die kein Recht auf die Liebe ihres Ehemannes hat und auch nicht auf die eigenen Kinder. Nach muslimischer Tradition gehören die Kinder dem Mann oder seiner Familie. Ein gemeinsames Sorgerecht gibt es nicht.
Über die Zahl der Zwangsehen in Deutschland gibt es bis heute keine verlässlichen Erhebungen. Dabei ist das Problem in seiner ganzen Dramatik seit Jahren bekannt. Im September 2003 hat das ‚Bundesministerium für Familie‘ in einer Studie zur Lebenssituation von Frauen in Deutschland auch 150 türkische Frauen befragt. Jede zweite Frau gab an, dass ihr Ehepartner von den Eltern ausgesucht wurde, jede vierte kannte den Mann vor der Ehe nicht. Drei von vier Frauen erklärten sich mit der Wahl ihrer Eltern ‚einverstanden‘.
Die ‚Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen‘ hat für das Jahr 2002 in einer Umfrage bei mehr als 50 Einrichtungen aus dem Jugendhilfe- und Migrationsbereich 230 zwangsverheiratete Mädchen und Frauen ermittelt. Die meisten dieser Frauen, die sich in ihrer Not an eine der Einrichtungen gewandt haben, waren unter 22, viele erst 16 Jahre alt. Wer weiß, welcher Mut oder welche Verzweiflung vorhanden sein müssen, bevor eine junge Frau einen solchen Schritt tut, der ahnt, dass die tatsächliche Zahl der Zwangsverheirateten erschreckend hoch sein muss.
Zwangsheirat ist nach einer Definition von amnesty international (ai) eine „Ehe, die ohne eindeutige Zustimmung von beiden Partnern geschlossen wird oder deren Zustimmung durch Nötigung, sozialen und psychischen Druck oder emotionale Erpressung zustande gekommen ist“. Nach Angaben von ai wurden in den östlichen und südöstlichen Provinzen der Türkei knapp jede zweite Frau (46 Prozent) nicht gefragt, bevor sie ihrem Ehepartner versprochen wurden, und über die Hälfte aller Frauen, 51 Prozent, wurden ohne ihre Zustimmung verheiratet. Im Bericht der ‚Bundesbeauftragten für Ausländerfragen’ kommt der Tatbestand der Zwangsehe und der arrangierten Ehe jedoch auch im Jahr 2002 mit keinem Wort vor.
Im Jahr 2001 gab es laut der vom Auswärtigen Amt geführten Statistik einen Zuzug von 21.447 Personen aus der Türkei aufgrund von ‚Familienzusammenführungen‘. Aufenthaltsgenehmigungen, die erteilt wurden, weil eine Person eine in Deutschland lebende Person bei einem Inlandsaufenthalt geheiratet hat, sind dabei nicht erfasst. Auch nicht erfasst wurden die Fälle, in denen junge Frauen oder Männer in den Ferien in die Türkei gebracht und dort verheiratet wurden, um sie dann in der Türkei zurückzulassen, wie ich es bei vielen meiner türkischen Freundinnen erlebt habe.
Alle Recherchen sprechen dafür, dass mindestens die Hälfte der türkischen Ehen in Deutschland arrangiert oder erzwungen wurden. Bei meinen Gesprächen mit über 50 türkischen Frauen war keine darunter, die sich ihren Partner selbst ausgesucht hat. Alle Frauen wurden verheiratet, sie konnten nicht selbst wählen. Ein klarer Verstoß gegen Artikel 2 des Grundgesetzes und, wie die UNO im Jahr 2001 feststellte, eine ‚moderne Form der Sklaverei‘.
Eine der ersten Forderungen an die politisch Verantwortlichen muss deshalb lauten: verlässliches empirisches Material, um das Problem sichtbar zu machen! Andere Länder sehen in der Zwangsehe ein Schlüsselproblem der Integration. Das dänische ‚Institut für Sozialforschung‘ gibt an, dass 91 Prozent der ‚neuen Dänen‘ mit türkischem Hintergrund mit einem Partner aus ihrem Heimatland verheiratet wurden. Dabei spielt das Alter der Heiratskandidaten eine zentrale Rolle: Von den 18- bis 20-jährigen weiblichen Migranten heirateten 68 Prozent eine Person von außerhalb, bei den 24- bis 26-jährigen ‚nur‘ noch 55 Prozent. Von den 18 bis 20 Jahre alten Männern hei¬ra¬teten 78 Prozent eine Person aus dem Ausland, bei den 24- bis 26-jährigen 65 Prozent.
Die dänische Regierung hat darauf mit einem ‚Aktionsplan gegen Zwangsheirat‘ reagiert, denn: „Eine demokratische Gesellschaft beruht auf der Freiheit des Einzelnen. Das bedeutet, dass alle jungen Menschen, gleich welcher ethnischen Herkunft, das Recht haben sollen, einen Partner ihrer Wahl auszuwählen.“
Das Problem der arrangierten Ehen oder der Zwangsheiraten betrifft nicht nur junge Frauen, sondern auch junge Männer. Und der Ex- beziehungsweise Import geht in beide Richtungen. Junge türkische Frauen aus Deutschland werden in den Ferien in der Türkei oft mit einer Heirat überrumpelt. Der nichtsahnenden Braut in spe wird der türkische Reisepass abgenommen und sie wird an ihrem Wohnsitz in Deutschland abgemeldet. Die Aufenthalts-genehmigung einer Person geht nach § 44 des Ausländergesetzes verloren, wenn sie „aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund ausreist“. Spätestens nach sechs Monaten erlischt die Möglichkeit, nach Deutschland zurückzukehren.
Wenn die junge Frau das nicht weiß und keine Möglichkeit hat, sich bei deutschen Behörden zu melden, muss sie für immer in der Türkei bleiben. Im extremsten Fall ist sie dann die Frau eines ihr fremden Mannes in einem Land, dessen Sprache sie nur unvollständig beherrscht. Ihr einziger Schutz wäre die deutsche Staatangehörigkeit. Damit könnte sie jederzeit nach Deutschland zurückkehren.
Zwischen einer arrangierten Ehe und einer Zwangsehe gibt es keinen wesentlichen Unterschied, das Ergebnis ist dasselbe. Wenn das Mädchen beziehungsweise der Junge die Möglichkeit haben, den von den Eltern ausgesuchten Partner abzulehnen, spricht man von einer ‚arrangierten Ehe‘, wenn die Partner ungefragt oder gegen ihren Willen verheiratet werden, ist es eine ‚Zwangsehe‘. Betretenes Schweigen oder leises Weinen des Mädchens wird als Zustimmung gewertet; Mädchen sind nun einmal schüchtern. Wer Nein sagt, muss mit Pressionen rechnen oder die Flucht antreten. Die Situation ist für die jungen Menschen ausweglos. Sie befinden sich bildlich gesprochen in einem geschlossenen Raum, dem Elternhaus. Darin gibt es zwar viele Türen, von denen aber nur eine geöffnet ist: die Ehe mit dem von den Eltern ausgesuchten Partner.
Die Bundestagsabgeordnete der Grünen, Irmgard Schewe-Gerigk, glaubt, die Zwangsehe und die arrangierte Ehe unterscheide sich im Druck, der auf die Ehepartner ausgeübt werde. Sie schreibt: „Wenn beispielsweise einer ‚arrangierten Heirat‘ zunächst einmal zugestimmt wird und erst nach der Verlobung Zweifel aufkommen, kann der Druck, die Ehe zu vollziehen, so groß werden, dass aus einer arrangierten Ehe eine Zwangsehe wird.“ Gegen die arrangierte Ehe scheint sie keine Einwände zu haben.
Auch die Definition von ‚Zwangsheirat‘ durch die Vertreterin von ‚Terre des Femmes‘, Rahel Volz, ist zweifelhaft. Sie meint: „Im Gegensatz zur arrangierten Ehe, die auf freiwilliger Zustimmung beider Ehegatten beruht, liegt Zwangsheirat dann vor, wenn die Betroffene sich zur Ehe gezwungen fühlt.“ Auch hier wird davon ausgegangen, dass die Betroffenen eine Alternative haben. Aber diese Frauen haben keine Wahl und ‚freiwillig‘ ist daran gar nichts. Arrangierte Ehen sind Zwangsheiraten. Doch eine Religion, eine Kultur oder ein Stammesbrauch, der dem Einzelnen sein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit verweigert, widerspricht der deutschen Verfassung und den Menschenrechten.
Bei Diskussionen zu diesem Thema habe ich oft das Argument gehört, die Deutschen hätten sich nicht einzumischen. Es sei das Recht eines Migranten zu heiraten und mit seiner Frau zusammenzuleben, ganz gleich wie das zustande gekommen ist. Wenn die Türken ihre Kinder so verheirateten, müsse man das akzeptieren. Ich frage: Gelten für Türken und Muslime oder Menschen aus anderen Gesellschaften andere Gesetze als für die Mehrheitsgesellschaft?
Die Bundesbeauftragte für Ausländerfragen spricht in diesem Zusammenhang gern von der notwendigen ‚Anerkennung der kulturellen Differenz‘. Es wird dabei aber nicht gefragt, wie diese Kultur mit ihren Menschen umgeht, ob sie ihre Mädchen verkauft oder wie Sklaven hält. Ist eine Kultur gesellschaftsfähig, die die Gesetze dieses Landes ignoriert? Und warum sollte eine demokratische Gesellschaft, wie die bundesdeutsche, auf die Einhaltung ihrer eigenen Gesetze und Grundrechte verzichten? Warum sollten wir eine rückständige Tradition akzeptieren, die gegen das Selbstbestimmungsrecht der Menschen gerichtet ist?
Selbstverständlich gibt es auch bei uns in Deutschland eine Reihe von türkischen Familien, die sich der demokratischen und säkularisierten Gesellschaft geöffnet haben, die deutsch genauso gut wie türkisch sprechen, beruflich erfolgreich sind, weltoffen und der hiesigen Gesellschaft zugewandt – in den Großstädten sind es mehr, in den Kleinstädten und auf dem Land weniger. Aber sie befinden sich in der Minderheit. Und ihre Zahl schrumpft, weil sich die Mehrheit der Türken vom Westen ab und dem Islam und der Tradition zuwendet. Doch jede arrangierte Ehe entfremdet die Türken ein Stück weiter von der deutschen Gesellschaft.
Die Zwangs- und arrangierten Ehen der türkisch-muslimischen Gemeinschaft in Deutschland sind ein großes Hindernis für die Integration der Türken und anderer muslimischen Gemeinschaften in Deutschland. Und sie sind eine soziale Tragödie. Die deutschen Behörden haben nach Meinung der Rechtsprofessorin Dorothee Frings „lange Zeit die Familienbeziehungen von Migranten als quasi ‚exterritorial‘ betrachtet und damit auch das Problem erzwungener Ehen aus ihrem Blickfeld verbannt“. Zwangsheirat und arrangierte Ehen gehören verboten.
Was aber tun? Der ‚Brautpreis Deutschland‘ erfreut sich trotz der fremdbestimmten Ehe unter Mädchen und jungen Frauen in der Türkei höchster Beliebtheit. Man weiß dort kaum etwas von Deutschland, und das sorgt für die Haltbarkeit der Träume von einem besseren Leben. Und diese Hoffnungen werden von Eltern, Verwandten und Bekannten kräftig geschürt. Viele Tausend junge Türkinnen und Türken wollen nach Deutschland und sind bereit, fast jeden Preis dafür zu zahlen.
Ich bin mir deshalb darüber im Klaren, dass jede Forderung, die darauf zielt, die Einreise der jungen Frauen nach Deutschland zu erschweren, eine Reihe von mächtigen Gegnern auf den Plan rufen wird: die Türkinnen und Türken, die nach Deutschland wollen; ihre Landsleute in Deutschland, die ihre Kinder verheiraten wollen und sich in ihrer Tradition behindert sehen; die Muslime, die sich in ihrer Religionsauslegung gestört sehen; ihre Organisationen und Presseorgane, die Politik ‚für die Türken‘ betreiben – und die politischen Kräfte aller Farben in Deutschland, die die Grenzen möglichst weit aufmachen wollen und jede Anforderung an einreisende Ausländer unter Rassismusverdacht stellen.
Die baden-württembergische Ausländerbeauftrage ist nach einer Fachtagung zur Zwangsheirat im Oktober 2003 zu dem Fazit gekommen: „Je selbstständiger eine junge Frau ist, desto eher schafft sie es, sich gegen patriarchalische Strukturen im Elternhaus zu wehren. Je besser die Integration von zugewanderten Familien gelingt, desto selbstbewusster und sicherer werden die Mädchen und jungen Frauen mit einer drohenden und vollzogenen Zwangsverheiratung umgehen können. Es geht hierbei um die bestmögliche Vermittlung der deutschen Sprache, Kenntnisse der eigenen Rechte und auch um die Kenntnis der Schutz und Hilfe bietenden Einrichtungen.“ Sie forderte die türkischen und muslimischen Organisationen und Verbände auf, in ihren Gemeinden „die Überzeugung zu fördern, dass Zwangsheiraten rechtswidrig sind und eben nicht durch traditionelle, kulturelle oder religiöse Gründe gerechtfertigt werden können.“
Im Herbst 2004 hat die Landesregierung von Baden-Württemberg eine Bun¬des¬ratsinitiative zur Bekämpfung der Zwangsheirat beschlossen. Der Justizminister des Landes, Prof. Ulrich Goll, fordert: „Zwangsheirat muss durch einen eigenen Straftatbestand öffentlich geächtet werden!“ Zwangsheiraten und arrangierte Ehen werden nicht primär durch Verbote verhindert, sondern werden erst dann nicht mehr praktiziert werden, wenn klar ist, dass unsere Gesellschaft sie nicht akzeptiert. So ein Gesetz könnte also Signalcharakter haben. Es wäre ein allererster Schritt. Sicher, welche Tochter möchte ihre Mutter wohl ins Gefängnis bringen? Die Beweisnot vor den Gerichten wird dazu führen, dass das Gesetz praktisch kaum zur Anwendung kommen wird. Aber es würde Normen setzen.
Zwangsehen und arrangierte Ehen könnten per Gesetz für nichtig erklärt werden und auf Antrag eines Ehepartners aufgehoben werden. Die Betroffenen sollten nicht ausgewiesen werden, sondern Bleiberecht erhalten. Bisher ist die Regelung so, dass die Frau, die ihren Mann zum Beispiel in den ersten sechs Monaten nach ihrer Einreise in Deutschland verlässt, zurückgeschickt wird. Das hat in der Praxis dazu geführt, dass kaum eine Frau die Zwangsehe anzeigt, weil das ihren sozialen Tod bedeuten würde. Denn wenn sie ins Heimatland zurückgeschickt wird, hat sie noch größere Repressalien zu erleiden als die, die sie in der Ehe erwarten.
Bisher aber ist eine Aufhebung der Ehe nur binnen einer Frist von zwölf Monaten möglich. Die Praxis in den Beratungsstellen zeigt, dass viele junge Frauen erst nach Ablauf der Frist um Hilfe bitten. Eine Abschaffung der Aufhebungsfrist ist deshalb sinnvoll und auch von den baden-württembergischen Gesetzesinitiatoren vorgesehen. Wenn künftig alle, die für das Zustandekommen einer Zwangsehe verantwortlich sind, mit Bestrafung rechnen müssten, dann wäre die Macht der Männer respektive der Schwiegermütter endlich gebrochen.
Mindestalter bei Familienzusammenführung: Die niederländische Regierung hat am 5. März 2004 beschlossen – ähnlich wie die Regierung in Dänemark schon am 15. August 2003 –, dass Familienzusammenführungen auf Grund von Eheschließung nur genehmigt werden, wenn beide Partner mindestens das 21. (Niederlande) oder das 24. Lebensjahr (Dänemark) vollendet haben. Derzeit sind die meisten Frauen, die aufgrund von Familienzusammenführungen nach Deutschland kommen, unter 21 Jahren alt. Es ist sinnvoller, diesen arrangierten Ehen von vornherein die Grundlage zu entziehen, als sie hinterher strafrechtlich verfolgen zu müssen.
Nachweis eines eigenen Haushalts: Es ist übliche Praxis bei türkischen Migranten, die Importbräute als kostenlose Haushaltshilfen im Familienhaushalt einzusetzen. Da sie oft in den Wohnungen ihrer Schwiegereltern festsitzen, haben sie meist keine Möglichkeit, überhaupt Kontakte zur deutschen Gesellschaft zu knüpfen. Diese Art von moderner Sklaverei muss aufhören. Die Einreise des Ehepartners sollte künftig nur genehmigt werden, wenn der Ehepartner über einen Zeitraum von mindestens einem Jahr nachweist, dass er ein für den Familienunterhalt ausreichendes Einkommen durch Arbeit bezieht und einen eigenen Haushalt führt. Der bereits in Deutschland lebende Partner wäre für seinen Partner verantwortlich und könnte innerhalb bestimmter Fristen keine Sozialhilfe beantragen. Er müsste nachweisen, dass er mit seinem Ehepartner einen selbstständigen Haushalt führen wird.
Verbot von Verwandtenehen: Auch bei den in Deutschland lebenden türkischen Familien ist die Tendenz ungebrochen, die Braut häufig aus dem Verwandtenkreis besorgen zu lassen. Schließlich heiratete der Prophet Mohammed, obwohl der Koran in bestimmten Verwandtschaftsverhältnissen ein Ehehindernis sah, selbst seine Cousine Zainab. Bei den verbreiteten Ehen zwischen Cousin und Cousine verdoppelt sich das Risiko, dass der Nachwuchs behindert zur Welt kommt. In der Praxis für vorgeburtliche Diagnostik eines Berliner Frauenarztes wurden im Jahr 2002 bei 160 Cousin-Cousinen-Ehepaaren 14 Föten mit ‚schweren Anomalien‘ diagnostiziert – immerhin eine Rate von 8,5 Prozent. Und die Dunkelziffer solcher mit Anomalien geborenen Kinder dürfte sehr hoch sein. Eine Behinderung wird als Kismet und als ‚Strafe Gottes‘ gesehen. Diese Kinder werden versteckt.
Ächtung der Mehrehe: Vielweiberei ist in Deutschland ein Straftatbestand. Und der muss auch für Muslime gelten. Es darf keine Familienzusammenführung, wie schon praktiziert, mit anschließender Familienversicherung und Versorgung durch das Sozialamt bei Mehrehen geben. Mehrehen müssen für nichtig erklärt werden.
Sprach- und Integrationskurse: Personen, die einen ständigen Aufenthalt in der Bundesrepublik beantragen, müssen schon bei der Einreise ihr Verständnis der deutschen Sprache und Kultur prüfen lassen. Sie müssen danach an Sprach- und Integrationskursen teilnehmen, die mit einem Abschlusstest enden, der bestanden werden muss, bevor eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung erteilt wird. Andernfalls erhalten sie nur eine Aufenthaltsduldung, die immer wieder neu beantragt werden muss. Das neue Zuwanderungsgesetz schreibt solche Kurse bereits vor. Vor allem für die jungen Frauen wäre dies die einzige Möglichkeit, die Sprache des Landes zu erlernen, in dem sie zukünftig leben werden.
Ich habe im Sommersemester 2004 im Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Hamburg ein Seminar über ‚Islam im Alltag‘ angeboten. Dort haben inzwischen die islamistischen Studenten das Sagen, und zwar mit Duldung – oder Fürsprache? – des Lehrkörpers. Als ich in der ersten Sitzung mein Programm und meinen methodischen Ansatz vorstellte, forderten verschleierte Studentinnen streng ‚Respekt‘ vor dem Islam ein. Das sollte heißen: Kritik am Islam ist unerwünscht. Nur unter Aufbietung aller pädagogischen und fachlichen Autorität gelang es mir, in einigen Sitzungen überhaupt so etwas wie eine Arbeitsatmosphäre herzustellen. Zum Glück hat sich im Laufe des Semester die Mehrheit der Studenten durchgesetzt, und wir konnten uns über den Konflikt von Religion und Alltag bei den Migranten auseinander setzen.
Wissenschaftler sind gemeinhin in den Gegenstand ihrer Forschung verliebt. Selten nur halten ‚Experten‘ kritischen Abstand zu ihrem Forschungsgegenstand. Bei einigen Islamwissenschaftlern in Deutschland allerdings hat der Mangel an Distanz inzwischen besorgniserregende Ausmaße angenommen. Islamwissenschaft ist aufgrund des öffentlichen Furors zum neuen Modefach geworden. Aber das Wissenschaftsverständnis, das sich heute in diesen Fächern breit macht, hat mit Erkenntnis kaum noch etwas zu tun. Man versucht, den Islam zu ‚verstehen‘, statt sich kritisch mit ihm auseinander zu setzen; man setzt alles daran herauszufinden, was man noch tun kann, damit er in unserer Gesellschaft ‚ankommt‘.
Einige deutsche Orientalisten neigen dazu, muslimischer als die Muslime aufzutreten. Das hat unter anderem auch einen sehr handfesten Grund: Würde ein Islamforscher den Islam kritisieren, riskierte er Einreiseverbot in muslimische Länder, da jede Kritik als Gotteslästerung gilt. Er würde just von denen als Feind betrachtet, die zu erforschen er bemüht ist. „Kurz gesagt, es würde ihn seinen Kopf als Forscher kosten!“, schreibt der französische Theologieprofessor Jean-Claude Barreau in seinem Buch ‚Die unerbittlichen Erlöser‘. Kritik am Islam ist ein Tabu, zumindest im einschlägigen Wissenschafts- und Politikbetrieb.
Wer in der Orientalistik den Islam kritisiert, so der Orientalist und Co-Autor der renommierten ‚Encyclopedia of Islam‘, Hans-Peter Raddatz, wird zur ‚wissenschaftlichen Unperson‘, seine Bücher werden nicht mehr besprochen oder zitiert, er hat – gehört er zu den Jüngeren – kaum Aussicht, auf einen Lehrstuhl berufen zu werden. „Entsprechend desolat stellt sich die geistige Unabhängigkeit der zeitgenössischen Orientalistik dar.“
Es gibt heute viele unter den Orientalisten und den Ausländerbeauftragten, bei den Grünen und den Vertretern der Kirchen, die aus lauter Angst davor, als ausländerfeindlich oder intolerant zu gelten, auch noch die wunderlichsten Argumente finden, ‚ihre‘ Ausländer zu verstehen und um jeden Preis zu verteidigen. Sie propagieren ein Toleranzverständnis, das einer Selbstaufgabe gleichkommt.
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Der Text ist ein Auszug aus: "Die fremde Braut" (KiWi)