Neue Heldinnen in der Literatur
Frauen lesen Romane, lautet das Ergebnis einer Studie zum Leseverhalten, von der 1931 in der Zeitschrift Die Frau berichtet wird. „Frauen werden in erster Linie von phantasie- und gemütsmäßigen Bedürfnissen, vom ‚Erleben‘ aus zu Büchern geführt.“ Männer würden zwar mehr lesen, aber sie seien stärker an Belehrung interessiert, „bei den Frauen dagegen stehen die Romane ausschlaggebend im Vordergrund“, insbesondere Bücher aus der unterhaltenden Literatur.
Die Studie zum Leseverhalten zeigt deutlich: Frauen sind auf der Suche nach Identifikationen, moderne Heldinnen sollen im Mittelpunkt stehen. Diesem Bedürfnis kommen viele Schriftstellerinnen nach. Ein großer Teil von ihnen macht bereits im Titel des Romans kenntlich, dass es um „Frauenleben und Frauenschicksale“ geht: „Schicksale hinter Schreibmaschinen“, „Gilgi – eine von uns“, „Das Mädchen George“.
Die Mehrheit der Autorinnen schreibt für ein weibliches Publikum. Das Thema „Frau“ ist gut verkäuflich. Das weiß auch der Ullstein-Verlag, als er Vicki Baum 1926 den Auftrag gibt, den Roman eines „tüchtigen Mädels“ zu schreiben. Und Vicki Baum enttäuscht die Erwartungen nicht. Sie, die am Ende der Weimarer Zeit die meistgelesene Schriftstellerin der jüngeren Generation ist, legt mit „Stud. chem. Helene Willfüer“ ihren erfolgreichsten Roman vor. Er erscheint zunächst in Fortsetzungen in der Berliner Illustrierten Zeitung und muss das Publikum förmlich in Atem gehalten haben.
Helene Willfüer avanciert zur „bekanntesten Studentin Deutschlands“, wie die Rezensentin in der Zeitschrift Die Frau meint. Hinzu kommen allerlei Verwicklungen, die dem Ganzen die nötige Würze geben und die Leserinnen und Leser bei der Stange halten: eine Liebesgeschichte, böse Menschen, tragische Tote und Helenes uneheliche Schwangerschaft. Doch Ende gut, alles gut. Die tüchtige Helene schafft nicht nur den Aufstieg zur Chemikerin, sie bekommt am Ende auch noch ihren verehrten Professor zum Ehemann.
Der Roman Vicki Baums, der 1929 auch als Buch erscheint, gehört in die Reihe von Frauenromanen, in deren Mittelpunkt eine Berufstätige steht. Während ehemals das sinnlose Dasein der höheren Töchter ein beliebtes Sujet engagierter Schriftstellerinnen war – Gabriele Reuter und Hedwig Dohm hatten deren Leiden 25 Jahre vorher noch eindrucksvoll beschrieben – so ist das jetzt kein Thema mehr. Kaum eine junge Frau sitzt noch untätig zuhause und wartet, bis man sie verheiratet. Schon aus materiellen Gründen sind in der Weimarer Zeit viele gezwungen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Hinzu kommt der durch den Krieg bedingte Frauenüberschuss. Es gibt 1,3 Millionen mehr Frauen zwischen 25 und 40 Jahren als Männer, die Heiratschancen sind dementsprechend schlecht.
Die meisten Schriftstellerinnen reagieren auf die veränderten Verhältnisse: Lehrerinnen, Ärztinnen, Krankenschwestern, Angestellte, Studentinnen, Apothekerinnen, Wissenschaftlerinnen und schließlich Künstlerinnen bevölkern nun die von ihnen imaginierten Romanwelten. Innerhalb einer Generation ist aus dem sittsamen, häuslichen Mädchen die junge Berufstätige geworden. Äußerlich gesehen präsentieren die Schriftstellerinnen ihrem Publikum damit ein ganz anderes Frauenbild. Ob in Büro oder Schule, Krankenhaus oder Labor, die Romanheldinnen stehen im Berufsleben und sind durchweg tüchtige und oft engagierte Arbeiterinnen.
„Die mit den tausend Kindern“ heißt ein Roman von Clara Viebig, der durch ihre naturalistischen Texte bekannt gewordenen und damals vielbeachteten Autorin. Sie erzählt darin die Geschichte der Berliner Lehrerin Marie-Luise, die, nachdem sie jahrelang darauf warten musste, endlich in einem Arbeiterviertel eine Stelle bekommt. Wie alle Volksschullehrerinnen zu der Zeit verdient sie wenig. Ihr ärmliches Leben spielt sich zwischen Schule und zwei möblierten Zimmern ab, die sie gemeinsam mit der verwitweten Mutter bewohnt. Trotz der vielen Arbeit, ihres langen Schulwegs und der schwierigen Schülerinnen, meistert Marie-Luise alle Probleme und wird zu einer angesehenen und beliebten Lehrerin.
Wie bei jedem Frauenroman fehlt auch hier die Liebe nicht. Alwin heißt er, dem die Sehnsucht gilt, und ist ein junger, mittelloser Arzt. Doch Marie-Luise lehnt den Heiratsantrag ab: „Ich bin älter, ich muss die Verständigere sein von uns beiden. Du musst Dich erst durchsetzen in Deinem Beruf, etwas erreichen, dann kannst Du heiraten. Und bis dahin bin ich viel zu alt.“
Um dem Mann beim Aufbau seiner Karriere nicht im Weg zu stehen, entsagt Marie-Luise ihrer Liebe. Den Gedanken, trotz der Ehe weiter zu arbeiten, erwägt sie nur kurz. Abgesehen davon, dass noch in der Weimarer Zeit verheiratete Lehrerinnen an staatlichen Schulen nur mit Sondergenehmigung tätig sein dürfen, kann sich Marie-Luise nicht vorstellen, Ehe und Beruf miteinander zu verbinden.
1930 erscheint der Roman „Schicksale hinter Schreibmaschinen“. Autorin ist Christa Anita Brück, die selbst als Angestellte in Berlin arbeitet und, so ist anzunehmen, sich damit wohl auch eigene Erfahrungen von der Seele schreibt. Die Heldin, „Fräulein Brückner“, ist eine verwaiste Offizierstochter, die in der Inflation ihr Vermögen verloren hat, und nun, ganz auf sich gestellt, ihren Lebensunterhalt verdienen muss. Einen Beruf gelernt hat sie nicht. Wie viele Töchter aus besseren Verhältnissen beginnt sie als Bürokraft. Die Schreibmaschine bestimmt fortan ihr kärgliches Leben: „Nicht denken, nicht sich besinnen, weiter, weiter, geschwinde, geschwinde, tipp, tipp, tipp tipptipptipp tipp.“
Fräulein Brückner leidet aber nicht nur unter ihrer unqualifizierten Arbeit, sie leidet vor allem unter der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz, unter den Blicken ihres Chefs und unter den wie zufällig platzierten Händen auf ihrem Arm: „Seine Unzüchtigkeiten sind von einer Art, die sich kaum beweisen lassen. Es genügt ihm, mit warmer Hand über kühle Haut zu gleiten, einen gebogenen Nacken, einen bloßen Arm. Es wird dann allein sein Zeigefinger einen verbotenen Weg unterhalb des Ausschnittsaumes oder des Ärmelrandes nehmen, so weit er unter das Verhüllende reichen kann.“
Als Fräulein Brückner schließlich erfährt, dass einer ihrer Arbeitgeber seine Bürodamen nicht nur zum Diktat, sondern auch ins Bett bittet, kündigt sie ihre Stelle und nimmt Abschied von den Aufstiegsträumen, die sie ursprünglich einmal hatte. Wichtig ist „der Zusammenschluss, die kameradschaftliche Hilfe“ der Angestellten, mit dieser Erkenntnis entlässt Christa Anita Brück ihre Leserinnen.
Liebesverhältnisse sind für beide Romanfiguren undenkbar – und wohl auch entbehrlich. Fräulein Brückner leidet zwar darunter, „außer halb des Muttertums“ zu stehen, die dazugehörige
Sexualität aber scheint sie nicht zu vermissen. Gleiches gilt für die Lehrerin Marie-Luise und viele andere Heldinnen in den verschiedensten Frauenromanen. Die tüchtigen Berufsfrauen sind in der Regel asexuelle Arbeitsbienen. Lässt sich wirklich mal eine von ihnen auf ein Verhältnis ein, ist es nicht nur aus mit der bescheidenen Karriere, oft genug müssen die Heldinnen das mit einer Krankheit oder sogar dem Tod bezahlen. Unglücklich jedenfalls werden alle, die vom Pfad der Tugend einmal abweichen, an dieser Botschaft lassen die Autorinnen keinen Zweifel aufkommen.
Freilich verpassen nicht alle Schriftstellerinnen ihren Heldinnen eine moralische Zwangsjacke. Es gibt auch Lust und Liebe im Frauenroman der Weimarer Zeit. 1922 publiziert die dem radikalen Flügel der Frauenbewegung angehörende und in der Mutterschutzbewegung aktive Helene Stöcker ihren Roman „Liebe“. Dabei handelt es sich um die Geschichte einer Kunststudentin, die sich in einen verheirateten Professor verliebt und sich auf ein länger dauerndes Verhältnis zu ihm einlässt.
Freizügiger noch als Helene Stöcker behandelt die Österreicherin Grete von Urbanitzky das Thema Liebe und Sexualität. 1927 erscheint „Der wilde Garten“, ein Roman, in dem sie die lesbische Liebe positiv darstellt. In ihrem einige Jahre später publizierten Roman „Eine Frau erlebt die Welt“ steht eine Heldin im Mittelpunkt, die zuweilen von einer regelrechten sexuellen Gier gepackt wird, die sie in kurzen, oft nur eine Nacht dauernden Affären befriedigen muss. Auch Friderike-Maria von Winternitz und Marta Karlweis, die eine mit Stefan Zweig und die andere mit Jakob Wassermann verheiratet, gestehen den Heldinnen in ihren Romanen „Vögelchen“ und „Amor und Psyche auf Reisen“ ebenso sinnliche Leidenschaften zu wie die Österreicherinnen Joe Lederer und Mela Hartwig.
Nur: Von Ausnahmen abgesehen enden diese Frauenfiguren fast ebenso tragisch wie ihre Schwestern, die „bösen“ Gegenspielerinnen, und verhalten sich überwiegend passiv, wie oft schon die Romantitel verraten: „Vögelchen“ oder „Das Weib ist ein Nichts“.
Am Ende der 20er Jahre machen drei Schriftstellerinnen von sich reden, die einen neuen Ton in die Literatur bringen: Marieluise Fleißer, Irmgard Keun und Gabriele Tergit.
Noch bevor sie als Dramatikerin reüssiert, meldet sich Marieluise Fleißer mit ihren ersten Erzählungen zu Wort, die 1929 auch als Buch erscheinen. Fast lakonisch und ohne moralischen Zeigefinger erzählt sie von jungen Mädchen und ihren sterbenden Träumen: von der Gewalt der Armut, des Hungers und der Männer. Es sind Momentaufnahmen aus dem Leben junger Frauen, die sie nicht ausschließlich als Opfer der Verhältnisse zeigen, sondern ebenso offenlegen, wie sich Frauen in den Stricken des Patriarchats verfangen. Trotz ironischer Wendungen sind die Erzählungen von Trauer überschattet und bewegen sich auf der Grenze zwischen Freiheit und Tod.
Für Frauen gibt es nur die erstickende Wärme innerhalb einer Liebesbeziehung oder die „Fröste der Freiheit“ jenseits der Liebe zu einem Mann. Mit ihrem Roman „Mehlreisende Frieda Geier“ nimmt Marieluise Fleißer das Thema wieder auf, nur ist Frieda im Gegensatz zu den unsicheren jungen Mädchen der Erzählungen eine sehr viel selbstbewusstere, schlagfertigere und ökonomisch unabhängigere Frau. Was der Vertreterin für Mehl jedoch fehlt, sind Liebe und Geborgenheit. Die hofft sie bei Gustl, dem Tabakhändler und Schwimmer, zu finden. Doch als Frieda merkt, dass sie für die Liebe ihre Selbstständigkeit auf geben muss, trennt sie sich von ihrem Freund und zieht, eine ungewisse Zukunft vor sich, allein in eine andere Stadt.
Mit einer Reise enden auch die beiden Romane Irmgard Keuns, die zu Beginn der 30er Jahre erscheinen: „Gilgi – eine von uns“ und „Das kunstseidene Mädchen“. Sie machen Irmgard Keun mit einem Schlag berühmt. Die Stenotypistin Gilgi erobert bald ebenso die Herzen wie schon Vicki Baums Studentin Helene Willfüer. Aber Keun will mit ihrem Roman nicht bloß die Realität abbilden, sondern auch darstellen, was sich in den Köpfen von jungen Mädchen abspielt. Sie erzählt von deren Träumen und Flausen und nimmt diese liebevoll-ironisch aufs Korn.
Am Ende bleibt in beiden Büchern von den grandiosen Träumen nicht viel übrig. Doris, das kunstseidene Mädchen, ist kein Glanz, das heißt: kein Star geworden, und Gilgi besitzt weder eine Boutique noch hat sie eine große Reise unternommen.
Ästhetisch beginnt mit Keun, Fleißer und Tergit am Ende der 20er Jahre etwas Neues. Ihre Prosa, die der „neuen Sachlichkeit“ zugerechnet wird, steht im Zeichen der sich auflösenden und zerrissenen Weimarer Zeit. Dem entspricht nicht mehr die geschlossene Form, sondern eine fragmentarische Schreibweise mit Sätzen, die abreißen und Worten, die beziehungslos im Raum stehen. Es geht um Subjekte ohne eine gesicherte Identität. Um Frauen unterwegs.
HEIDE SOLTAU
Ausgabe bestellen