Genitalverstümmelung in Deutschland
Ihre ältere Schwester wurde während der Schulferien an den Genitalien verstümmelt. Heimlich schickte der Vater sie zu seiner Familie aufs Land, Wochen später kam das zwölfjährige Mädchen verstört und schwer verletzt zurück. „Meine Mutter ist ausgeflippt“, erzählt Noreen Khanali Elrott (29) aus Kenia. „In ihrem Stamm ist es nicht üblich, die Mädchen zu beschneiden. Aber mein Vater hat seine Tradition einfach ohne ihr Wissen durchgesetzt.“ Noreen hatte Glück: Als Zweitgeborene blieb ihr die brutale Praktik erspart. Ihre Schwester leidet noch heute unter den Folgen, den körperlichen Schmerzen und der Traumatisierung.
Alle zehn Sekunden wird ein Mädchen an den Genitalien beschnitten, weltweit sind bis zu 140 Millionen Frauen betroffen, vor allem in Afrika. Doch auch in Deutschland sind Tausende Mädchen mit Migrationshintergrund von der Genitalverstümmelung bedroht. Das Kinderhilfswerk Plan hat jetzt eine Studie zu Genitalverstümmelung in Hamburg vorgestellt, bei der erstmal systematisch Daten zur Situation von Migrantinnen in Deutschland erhoben wurden. Zwischen August und Oktober 2010 befragten dazu 20 Interviewer 1858 Afrikanerinnen und Afrikaner aus praktizierenden Ländern südlich der Sahara.
Die Ergebnisse zeigen: Jede dritte in Hamburg lebende Frau aus einer praktizierenden Ethnie ist beschnitten. Offiziellen Angaben zufolge leben in Hamburg rund 11.200 Migranten aus Ländern südlich der Sahara. 40 Prozent von ihnen stammen aus Familien, die in ihren Heimatländern Nigeria, Guinea, Gambia, Togo, Benin oder Burkina Faso ihre Töchter beschneiden lassen. Bei der Hamburger Befragung lehnten 81 Prozent aller Befragten die weibliche Genitalverstümmelung ab, drei Prozent befürworten sie. „Die Befürworter glauben, die Beschneidung würde verhindern, dass ihre Töchter Sex vor der Ehe haben“, sagt die Hamburger Psychologin Alice Behrendt (31), die die Studie im Auftrag von Plan durchgeführt hat. „Sie denken, Beschneidung muss sein, 'sonst werden unsere Frauen so enthemmt wie die deutschen Frauen'. Hinzu kommt: Wer nicht beschnitten ist, gilt als sozial nicht akzeptiert, wird ausgegrenzt und hat keine Chancen, einen Ehemann zu finden.“ Die Befürworter hatten meist eine geringe Schulbildung, waren schlecht integriert. Mindestens ein Elternteil war muslimisch.
EMMA-Kampagne gegen Genitalverstümmelung
Eine weitere wichtige Erkenntnis der Studie „Afrikanische Stimmen zu weiblicher Genitalverstümmelung in Hamburg“: Beschnitten wird offenbar im Ausland. „Die Studie deutet darauf hin, dass in Hamburg selbst nicht beschnitten wird“, sagt Dr. Anja Stuckert, Projektkoordinatorin der Studie. „Viele Teilnehmer hatten große Angst vor strafrechtlicher Verfolgung, sie wussten über das gesetzliche Verbot Bescheid und fürchten, abgeschoben zu werden. Aber wir können nicht ausschließen, dass die Töchter nach Afrika oder Frankreich gebracht und dort beschnitten werden.“
Insgesamt sieben Prozent der 1172 Töchter der Studienteilnehmer sind bereits an den Genitalien verstümmelt, 85 Mädchen, von denen 15 in Deutschland leben und 70 in ihren Heimatländern in Afrika. In 13 Fällen stellte Plan einen Interventionsbedarf bei den Töchtern fest, weil die befragten Eltern sich für die Genitalverstümmelung aussprachen. „Zwei unsere Interviewerinnen versuchen, Kontakt zu den Familien zu halten, Vertrauen aufzubauen und den Familien bei Problemen zu helfen. So wollen wir an den gefährdeten Mädchen dranbleiben und verhindern, dass sie beschnitten werden“, sagt Anja Stuckert von Plan.
Das Kinderhilfswerk will im nächsten Schritt einen Aktionsplan für Hamburg erarbeiten. Dabei sollen mit Hilfe von Personen aus den praktizierenden Gruppen ein Maßnahmen- und Präventionsplan erarbeitet werden, wie akut betroffene Familien unterstützt und Migranten gezielt aufgeklärt werden können. „Das ist nur möglich, wenn die Afrikaner bereit sind, selbst Aktionen wie Diskussionsforen und Aufklärungsveranstaltungen unter ihrer Führung durchzuführen“, so Stuckert. Die Hamburger Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz, die die Schirmherrschaft für die Studie übernommen hat, will den Aktionsplan unterstützen. „Wir versuchen in Hamburg mit den Kinder- und den Frauenärzten zusammenzuarbeiten, die Kinderschutzkoordinatoren und Sozialarbeiter zu dem Thema zu schulen, um zielgruppenorientierte und bedarfsgerechte Maßnahmen des Opferschutzes weiterzuentwickeln“, sagt die Staatsrätin Dr. Angelika Kempfert. Wichtig sei es dabei auch, dass Genitalverstümmelung als schwere Körperverletzung verfolgt werde, um strafrechtlich gegen die Betroffenen vorgehen zu können. Seit einem Jahr diskutiert der Bundestag den Gesetzesvorschlag, bislang ohne Ergebnis.
Ein weiteres Problem: Genitalverstümmelung ist in Deutschland keine offizielle Diagnose, steht also nicht im Katalog, nach dem Mediziner ihre Behandlungskosten bei den Krankenkassen abrechnen. Die Folge: Die Kassen zahlen nicht. „Oft müssen die Ärzte andere Diagnosen finden, um den Frauen helfen zu können“, so Anja Stuckert von Plan. Die Frauenorganisation „Terre des Femmes“ hat zusammen mit der „Arbeitsgemeinschaft Frauengesundheit in der Entwicklungszusammenarbeit“ (FIDE) 20.000 Unterschriften dafür gesammelt, dass Genitalverstümmelung in den offiziellen Diagnoseschlüssel und das Abrechnungssystem der Krankenkassen aufgenommen wird. Der Antrag soll noch im Februar gestellt werden. „Die Aufklärungsarbeit zur weiblichen Genitalverstümmelung erfordert viele kleine Schritte“, sagt Stuckert.
Noreen, die junge Frau aus Kenia, deren Schwester beschnitten wurde, ist eine der 20 afrikanischen Interviewerinnen, die für Plan mit den Familien gesprochen hat. Sie wurde als Verräterin beschimpft und bedroht. Trotzdem sagt sie: „Vielen Frauen tat es gut, ihre Erfahrungen loszuwerden. Aber bei vielen Afrikanern ist noch immer im Kopf: Beschneidung ist in Ordnung, weil es schon immer gemacht wurde und weil man unbeschnitten keine richtige Frau ist.“
Für sie selbst ist das ein Grund, in Deutschland zu bleiben und zu arbeiten: In Kenia, sagt sie, würde sie als unbeschnittene Frau niemals einen Mann finden.