Neues Sprechen - oder Neusprech?
Kübra Gümüşay trifft einen Nerv der Zeit, weil sie das Bedürfnis nach Spiritualität verquickt mit einem allgegenwärtigen Interesse an Sprache. Es ist ein schmeichelndes Schreiben, ein geschicktes Einflechten von Anekdoten, Bildern und Behauptungen, das gekoppelt mit Zitaten von jüdischen(!) Autoren und intersektionellen Feministinnen, einen durchaus verführerischen Sog entwickeln kann.
Nun ist ihr Buch „Sprache und Sein“ aber kein Roman, sondern ein Sachbuch, das zu einem „tatsächlichen Kulturwandel“ anregen soll, geschrieben von einer Autorin im Ganzkörperschleier und mit privilegierter Sprecherinnenposition. Die Rolle der empfindsam-empfindlichen Beschützerin der Unterprivilegierten verknüpft Gümüşay mit einer harschen Gesellschaftskritik.
Die sprachliche Relativitätstheorie, der dieses Buch verpflichtet ist, richtete das Augenmerk auf die Unterschiede der Sprachen. Universalistische Positionen von der gleichen Befähigung aller Sprechenden wurden verdrängt, allein die Differenz, die Ohnmacht im sprachlichen Gefängnis wurde dargestellt. Sprache als Herrschaftsinstrument. Von Mündigkeit ist keine Rede mehr, freies Sprechen rückte in weite Ferne. Statt auf die Entwicklungsfähigkeit und die mannigfach unter Beweis gestellte Wandlungsfähigkeit der Sprache zu vertrauen, wurde ihr ein Marschbefehl zur Veränderung erteilt. Sprache wurde zur Weltenretterin ernannt.
Die orthodoxe Muslimin Kübra Gümüşay gliedert sich mit ihrem Buch in diesen Kulturdifferentialismus ein. Sie wird nicht müde, Sprachen aufzuführen, die keine geschlechtsspezifischen Pronomen kennen, Sprachen mit unterschiedlichen Raum- und Zeitwahrnehmungen und weniger Ich-Bezogenheit. Was sollen wir daraus schlussfolgern? Dass in Ländern, in denen Swahili, Usbekisch und Türkisch gesprochen wird, das Patriarchat dem Untergang geweiht ist, weil sie kein grammatisches Geschlecht haben?
Mit keiner Silbe übrigens erwähnt Gümüşay, dass diese zugespitzte Form der linguistischen Relativität längst widerlegt und das Pendel in der Sprachwissenschaft zurückgeschwungen ist. Sprache ist für Gümüşay kein System aus Zeichen, die wir eigenständig verwenden, sondern ein autoritäres „Museum, in dem uns die Welt da draußen erklärt wird“.
In diesem Museum bewegten sich nach der Autorin die „Benannten“ und die „Unbenannten“. Enden werden die „Benannten“ unweigerlich als schaurige Exponate „sorgfältig katalogisiert in Glaskäfigen, beschriftet mit ihren Kollektivnamen.“ Gümüşay unterstellt den „Benennenden“, dass sie „ihre eigene partikulare Sicht auf die Welt zu einer universellen erklären“, und zwar durch Wissen, dem „mächtigsten Namen überhaupt“. Ganz en passant werden also aufklärerische Gedanken diskreditiert. Das Bild, das sich in uns verankern soll, ist das einer Unbenannten: Eine am Sprechen gehinderte kopftuchtragende Frau, stellvertretend für alle Unterdrückten und im Käfig gefangen Hockenden. Die sprachgewandte und stimmgewaltige Autorin kann das nicht sein.
Doch es gibt ein schönes Sprichwort: „Jeder sollte vor seiner eigenen Tür kehren.“ Das könnte zum Beispiel damit beginnen, dass Gümüşay endlich Position zu einem Gesprächspartner bezieht, den sie im Jahre 2012 in einem Zeit-Interview jubelnd vorstellte: Tariq Ramadan. Der sich selbst als muslimischer Dreyfus stilisierende, ägyptischstämmige Ramadan galt lange als der europäische Guru des Islamismus, heute ist er wegen mehrfacher Vergewaltigungen angeklagt und spricht seinen mutmaßlichen, zahlreichen Opfern die Glaubwürdigkeit ab.
Der „neue(n) Welt der Unfreiheit“, dieser „Diktatur der immerwährenden Wiederholung“ setzt die Autorin ein „neues Sprechen“ entgegen, das verlockend klingt: „gleichberechtigt sprechen und sein können“. Wenn dieses Sprechen jedoch darin besteht, dass man das eine sagt, aber das andere tut, dann ist dieses Neue Sprechen der Bruder im Geiste von Orwells Neusprech.
Ute Cohen
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