Verlust der Heimat DDR
Ich kenne niemanden, der den 3. Oktober feiert. Es ist nur ein freier Tag, zum Ausruhen, Unkrautjäten oder Seriengucken. Einmal wurde ich auf eine Einheitsfeier eingeladen. Es war eine Party, die die deutsche Botschaft in London organisierte. Ich erinnere mich an die schneeweiße Villa im feinen Belgravia, ein roter Teppich, der über der Treppe lag, der Raum voller Nadelstreifenanzüge. Die Männer waren Chefs deutscher Sparkassenbüros in London, zogen sich aber an wie englische Banker. Ich sah den Westdeutschen zu, wie sie die Einheit feierten. Wie sie sich selbst feierten.
Der Botschafter, ein großer, gut gelaunter Schwabe, tänzelte über den dicken Teppich. Die philippinischen Hausdiener im Livree servierten frisch gezapftes deutsches Bier, Würstchen und Buletten. Der Sänger Marius Müller-Westernhagen saß in der Ecke und biss in eine Wurst. An dem Abend traf ich nur eine andere Frau aus dem Osten, die zweite Sprecherin der Botschaft. Wir liefen in der Party der Westdeutschen herum wie Fremde.
In der Präambel des Grundgesetzes heißt es, dass die Deutschen die Einheit und Freiheit Deutschlands in „freier Selbstbestimmung“ vollendet haben. Das ist die offizielle Geschichtsschreibung, die so in den Büchern steht. Sie ist nicht falsch, aber es ist nicht die ganze Geschichte.
Es gibt ein berühmtes Bild von der Einheitsfeier 1990, es ist am Berliner Reichstag aufgenommen, darauf sieht man eine ganze westdeutsche Politikergeneration: ganz links der damalige Sozialdemokrat Oskar Lafontaine, der Altkanzler Willy Brandt, Außenminister Hans-Dietrich Genscher, Hannelore Kohl, Helmut Kohl, Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Daneben, klein und dünn am Rand, steht Lothar de Maizière, der letzte Regierungschef der DDR. Das Bild erzählt mehr als viele Worte.
Die offizielle Geschichtsschreibung ist nicht falsch, aber es ist nicht die ganze Geschichte
Viele Menschen im Osten haben bis heute das Gefühl, sie hätten zwei Leben gelebt, das, an das sie sich erinnern, und jenes, das sie nach dem Urteil der Geschichtsschreibung gelebt haben sollen. Hat man die Gefühle der Minderwertigkeit, der Zweitklassigkeit, des Abgehängtseins inzwischen umgedreht und in ihr Gegenteil verkehrt? Das zumindest schreibt Moritz von Uslar in seinem Buch „Nochmal Deutschboden“: „Der Fun, den es als Ostdeutscher bedeutete, dem arroganten Westdeutschen ins Gesicht zu sagen, dass man mit seiner schönen Demokratie, seinem Turbokapitalismus, seinen Werten nichts zu tun haben möchte, der fing erst an.“
Von dieser Wut ahnte de Maiziére damals noch nichts. Seine Aufgabe war es 1990, die DDR abzuschaffen. In einem halben Jahr sollte er den Staat auflösen, der 40 Jahre existiert hatte. Es sei ein Abschied ohne Tränen, sagte er am 2. Oktober 1990 bei einer Rede im Schauspielhaus. Doch: „Das stimmte so nicht“, sagt er 30 Jahre später, in einem Interview vor kurzem mit der Berliner Zeitung. Die Ostdeutschen seien in einer Weise durchgeschüttelt worden, wie es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht der Fall gewesen war, die Westdeutschen aber konnten weiterleben wie bisher. De Maizière sagt: „Ich habe immer gedacht, dass die Wiederherstellung der Infrastruktur und Wirtschaft schwer, die mentale Einigung aber leichter fallen würde. Letztlich kam es umgekehrt.“
Wir Ostdeutschen feiern am 3. Oktober nicht. Wir arbeiten, wir strampeln uns ab, wir betteln um Aufmerksamkeit. Der 3. Oktober ist einer jener seltenen Momente, in dem ausnahmsweise ganz Deutschland zum Osten schaut. Es ist die Zeit, in der ehemalige Regierungschefs und BürgerrechtlerInnen und sonstige Zeitzeugen befragt werden. Bücher werden auf diesen Tag hingeschrieben, Theaterstücke verfasst, es wird kurz zurückgeschaut, bis die DDR am nächsten Tag wieder ins Vergessen versinkt.
Sonst interessieren sich die westdeutsch dominierten Medien höchstens bei den Wahlen für den Osten, dann werden Sonderteams nach Sachsen geschickt. Und es wird berichtet, was wieder alles falsch läuft. Warum die Ostler die falsche Partei wählen. Früher war die Stasi ein Ost-Thema, heute ist es die AfD. Und das, obwohl ihre wichtigsten Funktionäre alle aus dem Westen kommen und die Partei die meisten Stimmen aus Bayern und Baden-Württemberg erhält.
Die westdeutsch dominierten Medien berichten, was alles falsch läuft im Osten
In diesem Jahr fällt das Zurückschauen etwas kleiner aus, viele Veranstaltungen sind Corona-bedingt abgesagt. Und wahrscheinlich ist es auch besser so. Es werden sowieso immer die gleichen Fragen von den immergleichen Teilnehmern diskutiert. Es hat sich auf allen Seiten eine gewisse Routine eingeschlichen; Genervtheit im Westen von den Klagen der Ostler, Ermüdung im Osten.
Es erzählen nur die Ostler ihre Geschichte. Die Ostler fühlen sich stets unter Rechtfertigungsdruck, sich zu erklären, die Gründe zu liefern, warum sie sich so oder so verhalten. Doch eigentlich - und es hat lange gedauert, bis ich das verstanden habe - unterwerfen sie sich damit den Westdeutschen. Der ostdeutsche Lebenslauf ist immer die Abweichung, das Erklärungsbedürftige, der Sonderweg.
Ich habe auch in den letzten Jahre viel mit Erzählen verbracht. Doch ich zweifele zunehmend, ob das richtig war oder ob nicht damit das Klischee vom Ostdeutschen verstärkt wurde. Ich halte deshalb auch nichts von Internet-Initiativen jüngerer Ostdeutscher wie „Wir sind der Osten“. Die sind eigentlich gut gemeint. Sie wollen zeigen, verkürzt gesagt, dass der Osten nicht nur aus Nazis besteht. Doch sie sortieren sich damit selbst in die Reihe ein, die besteht, seitdem der dicke Kohl den dünnen de Maiziére an den Rand drängte: hier die Überlegenen, dort die Unterlegenen.
Kürzlich lief in der ARD am Samstagabend eine Show. Sie hieß „Die verrückten Achtziger in Deutschland“. Es ging um Musik und Pop-Kultur. Die DDR kam mit keinem einzigen Wort vor. Als ich mich darüber in einer Redaktionsbesprechung wunderte, wie man 30 Jahre nach der deutschen Einheit eine solche Sendung produzieren kann, und eine Nachfrage beim Sender dazu anregte, meinte ein Kollege: „Das wurde bestimmt vom WDR produziert, da ist der Osten weit weg, das musst du verstehen.“ Und ein anderer tröstete: „Aber Sabine, das spielt in den Achtzigern, da wart ihr keine Deutschen.“
Und noch eine Anekdote: Eine Bekannte wollte ihre Doktorarbeit über den Ausverkauf der DDR-Verlage schreiben, fand aber keine Uni in Deutschland, die sie betreuen wollte. Sie ging in die USA, promovierte dort. Ihr Buch kam zuerst auf Englisch heraus. Als sie sich aus den USA heraus bewarb, bekam sie sofort eine Stelle.
Ich erzähle meinem Sohn von dem unter-
gegangenen Staat und was sich alles änderte
Es gibt zwar eine Kanzlerin, aber sonst eher wenig ostdeutsches Spitzenpersonal: Mehr als die Hälfte der Staatssekretäre in ostdeutschen Ministerien stammt aus den alten Bundesländern, bei den Abteilungsleitern sind es sogar drei Viertel. Ostdeutsche haben laut einer Studie des DIW 2017 nicht einmal halb so viel Vermögen wie Westdeutsche. Ostdeutsche verdienen im Schnitt 15 Prozent weniger für die gleiche Arbeit. Es gibt keinen großen Konzern mit Hauptsitz im Osten. Es gibt seit kurzem einen (!) ostdeutschen Rektor an einer Universität in Ostdeutschland. In den Vorständen der Dax-Unternehmen gibt es mehr Amerikaner als Ostdeutsche. Muss man sich da wundern, dass 57 Prozent der Ostdeutschen sich 2019 als Bürger zweiter Klasse fühlten?
Mein Sohn ist bald sechs Jahre alt, am Abend vor dem Schlafengehen stellt er die großen Fragen: „Was ist die größte Bedrohung für die Menschen? Gibt es eine Medizin gegen Corona? Warum müssen alle Menschen sterben?“
Manchmal reden wir auch nur über den Tag, der vergangen ist. Ich erzählte ihm von dem Treffen mit de Maizière, dem letzten Regierungschef der DDR. „Was ist die DDR, Mama?“, fragt er. Ich erzählte ihm von dem untergegangenen Staat, der plötzlich verschwand und wie sich damals alles änderte für mich, das Geld, die Sprache, die Schule, die Regeln. „Aber warum habt ihr euch das gefallen lassen“, fragte mein Sohn.
Sabine Rennefanz ist Politikchefin der Berliner Zeitung und Autorin mehrerer Bücher, u.a. „Eisenkinder“. Der Text erschien zuerst auf Englisch in The German Times.