Nichts wird so sein wie zuvor
Die junge Armeezahnärztin Shir ist sichtlich erschüttert. Immer wieder bricht ihre Stimme. Die Tränen schießen ihr in die Augen, als sie einer Gruppe von Journalisten, die die Armee eingeladen hat, von ihrer Arbeit erzählt.
Seit nun zwei Wochen identifizieren Shir und ein Team von Ärzten, Ärztinnen und Rabbinern die Ermordeten vom 7. Oktober, dem Tag, an dem Hamas-Terroristen vom Gazastreifen in die jüdischen Gemeinden jenseits der Grenze eindrangen und ein Blutbad anrichteten, wie es Israel noch nie gesehen hat.
Die Illusion von Sicherheit ist zerplatzt. Nichts wird mehr so sein wie zuvor.
„Abends komme ich nachhause und drücke meine kleine Tochter so fest wie ich nur kann“, sagt Shir. „Denn wir leben jetzt mit dieser Angst zu wissen, dass uns so etwas jederzeit geschehen kann. Und dabei dachten wir immer, hier in Israel, im jüdischen Staat, sicher zu sein.“
Diese Illusion ist nun zerplatzt. Nichts wird mehr so sein wie zuvor. Zu tief sitzt die Erschütterung, bei orthodoxen wie säkularen Juden, bei jüdischen wie arabischen Bürgern Israels, bei Linken wie Rechten.
Shir arbeitet in einem Heereslager der israelischen Armee südlich von Tel Aviv. Weder den Standort noch Shirs Nachnamen dürfen wir nennen, sie hat Angst vor Racheanschlägen der Hamas Terroristen.
Rund um die Uhr arbeiten die Soldaten und Soldatinnen, um den Opfern, die in Plastiksäcken in das Camp geliefert werden, einen Namen zu geben. Im Holocaust, heißt es in diesen Tagen in Israel, wurden Menschen mit einem Namen zu einer Nummer reduziert. Jetzt, nach dem Massaker der Hamas kommen die Menschen in Säcken mit einer Nummer, und warten darauf, ihren Namen zurückzubekommen.
Im besten Fall können sie von Angehörigen identifiziert werden. Ist das nicht möglich, vergleichen Zahnärztinnen wie Shir die Zähne der Opfer mit Röntgenbildern, die in Zahnarztpraxen und Krankenkassen gespeichert sind.
Manche der Opfer kommen als ganze Leichen in das Armeecamp. Doch oft sind es nur Körperteile, denn noch nach dem Mord hat sich die Hamas an den Menschen vergangen. "Im Moment bekommen wir Bruchstücke von Körperorganen, Teile eines Kiefers oder einer Kinnbacke, mit denen wir versuchen, die Leichen zu identifizieren“, sagt Shir. „Doch oft haben wir nicht einmal diese.“
Manchmal gibt es nur noch Teile des Körpers, um die Leichen zu identifizieren
An Shirs Seite: Oberst Haim Dov Weissberg, Militärrabbiner bei der IDF, der Israel Defense Forces. „In besonders schweren Fällen“, erklärt er den anwesenden Journalisten, „hilft nur noch die DNA-Analyse. Zu unserem Bedauern häufen sich diese Fälle bei diesem Anschlag, diesem Völkermord. Viele Menschen können wir nur durch DNA identifizieren, denn ihre Gesichter sind nicht mehr zu erkennen. Selbst Zähne blieben ihnen nicht."
800 Menschen haben Militärrabbiner Haim Weissberg und sein Team bereits identifiziert. Derartige Grauen, sagt er, hatten Juden seit der Shoah nicht mehr gesehen. Auch ihm gelingt es nur schwer, die Fassung zu bewahren, in Worte zu fassen, was nicht in Worte zu fassen ist. "Was können wir noch sagen, wenn wir zusehen, wie hier die LKWs ankommen, die ganze Familien abladen? Aus den Plastiktüten ziehen wir den Großvater, die Großmutter, den Vater, die Mutter, und die Säuglinge, die kleinen Kinder.“
Seit zwei Wochen ringt ganz Israel vergeblich damit, das Ausmaß der Grausamkeit zu begreifen. Zu tief sitzt der Schock. „Taten wie die der Hamas entziehen sich jeder Beschreibung und jedes Verstands“, sagt Rabbiner Weissberg. Er hat Bilder der Kameras gesehen, die die Mörder an ihrem Körper trugen, und dann auf der sozialen Medienplattform Telegram veröffentlichten. „Ich habe die Videoaufnahmen eines Terroristen gesehen, der in ein Haus eindringt, einer schwangeren Frau den Bauch aufschneidet, das Baby nimmt und dann beide enthauptet“, sagt er. „Wie kann man so etwas Teuflisches verstehen?“
"Wir haben Dinge gesehen, die kein Mensch jemals sehen sollte"
Ein paar Meter weiter bringen er und sein Team uns zu den Containern, in denen die Leichen und verstümmelten Leichenteile aufbewahrt werden und auf Identifizierung warten. Die Soldaten und Soldatinnen verteilen chirurgische Masken an die Journalisten, um den Geruch aufzufangen. Dann erst öffnen sie zwei der Container.
Damit wir nicht zu nahekommen, haben sie zwischen uns und den Containern ein paar Bahren gestellt. Durch die offenen Tore der Container sehen wir die gestapelten Plastiktüten der Leichen. Niemand will sich vorstellen, was sich in den kleineren Tüten befindet. Schnell machen Kameramänner und Fotografen ein paar Bilder. Der Verwesungsgeruch ist kaum zu ertragen.
Die meisten der über 1.300 Opfer kamen aus den 22 kleinen Gemeinden am Rand des Gazastreifens. Die Soldaten und Soldatinnen des Armeecamps sind sichtlich überfordert mit der Aufgabe, sie zu identifizieren. Freiwillige kommen aus allen Teilen der Bevölkerung. Auch die aus den USA stammende Architektin Cherry ist zu dem Team Rabbiner Weissbergs gestoßen, um zu helfen. „Wir haben Dinge gesehen, die kein Mensch jemals sehen sollte“, sagt sie, „Die Körper kommen blutüberströmt an. Sie sind entweder verbrannt oder blutverkrustet. Es gibt keine Farben. Aber ein Bild hat mich besonders berührt. Eine junge Frau trug strahlend roten Nagellack.“
URI SCHNEIDER