Nie mehr Familie zweiter Klasse
Dass Daniela Jaspers (Foto links) im Jahr 2010 zum Verband alleinerziehender Mütter und Väter stieß, hatte zwei Gründe. Erstens wollte die frisch Getrennte mit ihren beiden Söhnen, zwei und sieben, Kontakt zu anderen Alleinerziehenden. Der zweite und entscheidende Grund: Empörung! „Ich war empört über so viel Ungerechtigkeit“, erzählt sie. „Warum muss ich als Alleinerziehende fast genau so viele Steuern zahlen wie ein Single? Warum zahlt ein kinderloses verheiratetes Paar dank Ehegattensplitting weniger Steuern als ich?“
Um gegen diese Diskriminierung zu kämpfen, trat die Sozialpädagogin aus Nürnberg dem VAMV bei. Bald gründete sie in ihrer Stadt selbst eine „Kontaktstelle“, sprich: Sie beriet per Telefon andere Alleinerziehende und half ihnen bei Antragsformularen und Anwaltsterminen.
Neun Jahre später ist Daniela Jaspers Bundesvorsitzende des VAMV – und gerät immer noch in Rage. „Wenn die Regierung verkündet, dass sie mit ihren Leistungen alle Kinder erreichen will – warum ziehen Kinder von Alleinerziehenden dann so oft den Kürzeren?“ Gerade ist es wieder passiert: Zum 1. Juli wurde das Kindergeld um zehn Euro angehoben. Aber für viele Alleinerziehende galt: Wie gewonnen, so zerronnen. Denn prompt wurde das Geld bei denjenigen, für die der Staat Unterhaltsvorschuss leistet (weil Papa nicht zahlen kann oder will), wieder abgezogen. Im Klartext: Familien mit hohem Einkommen, für die zehn Euro ohnehin Peanuts sind, bekommen das Plus. Doch ausgerechnet diejenigen, die jeden Euro umdrehen müssen, gucken in die Röhre. Hinzu kommt: Ohnehin fehlen den Familien, die Unterhaltsvorschuss bekommen, über 100 Euro pro Monat im Portemonnaie, weil ihnen das gesamte Kindergeld auf den Unterhaltsvorschuss angerechnet wird.
Der VAMV tat, was er in solchen Fällen immer tut: Er startete eine Protestaktion. „10 Euro Kindergeld mehr, 10 Euro Unterhaltsvorschuss weniger: Alleinerziehende, gebt eurer Empörung Ausdruck!“ Das taten sie. Zehntausende schickten die vorformulierte Protestmail an Familienministerin Franziska Giffey und unterzeichneten die Petition „Ungerechtigkeit stoppen!“
Dass Alleinerziehende heute einen so schlagkräftigen Lobby-Verband haben, ist einer äußerst mutigen Frau zu verdanken: Luise Schöffel. Als sie 1967 die Organisation gründete, die damals noch „Verband lediger Mütter“ hieß, galten unverheiratete Mütter als unmoralische Flittchen und ihre Kinder als „Bastarde“. Das bekam auch Luise Schöffels Sohn Ulrich zu spüren. Uneheliche Kinder würden „meistens Verbrecher“, erklärte der Lehrer dem Zehnjährigen in der schwäbischen Kleinstadt Herrenberg, als in Gemeinschaftskunde das Thema „Familie“ durchgenommen wurde.
Dabei war die Mutter-Kind-Familie schon damals keine Seltenheit. Rund 50.000 Kinder im Jahr kamen unehelich zur Welt – in den Nachkriegsjahren waren es sogar doppelt so viele gewesen. 1,5 Millionen Frauen hatten im Deutschland der 60er-Jahre Kinder, die man „Bastard“, „Niemandskind“ oder gleich „Hurkind“ schimpfte.
Solche Beleidigungen waren aber nicht das einzige, was Mutter Luise wütend machte. Es war vor allem die Rechtslage: „Ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten als nicht verwandt,“ hieß es im Bürgerlichen Gesetzbuch. Das bedeutete: Das Kind hatte weder Anspruch auf Unterhalt noch war es erbberechtigt. Der Kindsvater konnte schlicht so tun, als existiere das Kind gar nicht. Das war schlimm genug. Aus heutiger Sicht geradezu unfassbar war allerdings, dass nicht etwa die Mutter als Erziehungsberechtigte ihres Kindes galt, sondern Vater Staat. Mutter und Kind wurden unter Vormundschaft gestellt. Nicht selten wurden die Kinder den Müttern auch gleich nach der Geburt weggenommen und ins Heim gesteckt.
So war die Lage, als Luise Schöffel an einem Abend im Jahr 1967 vor dem Fernseher saß und einen Beitrag darüber sah, dass das „hanebüchene Unehelichenrecht“ nun endlich reformiert werden solle. Aber ein Professor zerpflückte den Gesetzentwurf als völlig unzureichend und die Volksschullehrerin aus dem schwäbischen Herrenberg begriff: „Es würde sich praktisch nichts ändern.“ Dann sagte der Experte in der Sendung den entscheidenden Satz: „Er meinte, wenn sich eine Interessenvertretung einsetzen würde, wären wir schon weiter. Das war es, dachte ich!“
Luise Schöffel schritt zur Tat. Wenngleich nicht ohne Zweifel: „Ich hatte Bedenken, ob sich ledige Mütter organisieren lassen. Sie waren doch meist bestrebt, ihre ledige Mutterschaft zu bemänteln.“ Würden die Frauen, die von der Gesellschaft wie Aussätzige behandelt wurden, sich tatsächlich aus der Deckung wagen?
Luise Schöffel schaltete eine Chiffre-Anzeige in drei Zeitungen. „Ledige Mütter, schließen wir uns zu einem Verband zusammen!“ Sie bekam 150 Antworten, darunter „regelrechte Lebensberichte“, in denen die Frauen ihr Leid klagten. „Was ich da las, war erschütternd: materielle Not, Vereinsamung, ständige Schwierigkeiten mit dem Jugendamt, den Pflegestellen, in Mutter-Kind-Heimen, das Jugendamt behalte Teile der Unterhaltszahlungen ein.“ Manche Mütter berichteten, „wie man ihnen aus geringfügigem Anlass das Kind weggenommen und es in ein Kinderheim gegeben hatte“.
Die dramatischen Berichte schockierten selbst die alleinerziehende Mutter Schöffel. Ihr selbst war der meiste Horror erspart geblieben. Die 1914 geborene Tochter eines Schlossers war selbst bei einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen, denn nach dem frühen Tod des Vaters hatte die Mutter ihre fünf Kinder allein durchgebracht. Als die unverheiratete Luise 1944 ihren Sohn zur Welt brachte, hatte die Familie kein Problem damit. Luise erhielt sogar die Vormundschaft für das Kind. Dennoch blieb die Wut über die Doppelmoral: „Ledige Mütter werden zum unanständigen Mädchen abgestempelt. Beim Mann hingegen gilt das uneheliche Kind als Kavaliersdelikt. Und diese Herren-Magd-Moral ist noch immer die Grundlage unseres Unehelichen-Rechts.“
Am 8. Juli 1967 wird der „Verband lediger Mütter“ gegründet. Er blies zum Angriff auf das Männer-Gesetz. Flankiert von einem riesigen Medienecho. Denn dass die verfemten „sittenlosen Weiber“ (O-Ton Leserbrief) nun nicht mehr verschämt in ihren Kämmerlein hocken blieben, sondern auf die Barrikaden gingen und Forderungen stellten, fanden Zeitungen von Bild bis Brigitte höchst interessant. Luise Schöffel gab auch reihenweise Interviews in Funk und Fernsehen und erklärte, was sich ändern müsse. Sie forderte: Weg mit der Amtsvormundschaft! Her mit dem Erbrecht! Die nichteheliche Mutter und ihr Kind müssen als Familie anerkannt werden und alle Vergünstigungen bekommen, die „Vollfamilien“ erhalten. Und schließlich: Die Streichung des § 218, ohne den so manche ungewollt Schwangere sicher gar nicht erst Mutter geworden wäre.
Als die schwarz-rote Koalition unter Bundeskanzler Kiesinger sich wegduckte, zündeten die ledigen Mütter die nächste Stufe. Sie alarmierten das Bundesverfassungsgericht, den Europarat und die UNO und forderten die hohen Instanzen auf, der deutschen Regierung Beine zu machen. Sie wiesen auf Artikel 6 des Grundgesetzes hin, den Deutschland verletze: „Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.“
Tatsächlich mahnte der Europarat. Und schließlich wies das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung an, das Unehelichenrecht bis zum 30. Juni 1970 zu reformieren, andernfalls gelte ab diesem Zeitpunkt auch für sie automatisch das Familienrecht für „Vollfamilien“.
Am 1. Juli 1970 war es soweit: Das neue „Unehelichenrecht“ trat in Kraft. Von nun an galt auch ein Kind, das nicht in einer Ehe geboren worden war, als verwandt mit seinem Vater. Dementsprechend erbte es genau wie seine ehelichen Halbgeschwister und hatte die gleichen Unterhaltsansprüche. Eine Revolution! Auch die Amtsvormundschaft wurde gestrichen, ab jetzt stand das Kind unter der „elterlichen Gewalt“ der Mutter.
Dies war der erste große Sieg des „Verbands lediger Mütter“, der sich noch im selben Jahr für geschiedene und verwitwete Mütter öffnete. Von nun an nannte er sich „Verband alleinstehender Mütter“. Ab 1976 durften auch Väter eintreten und im Jahr 1995 gab sich der Verband seinen heutigen Namen: „Verband alleinerziehender Mütter und Väter“.
1976 trat die große Familienrechtsreform in Kraft, gepusht von der Frauenbewegung, der sich der VAMV selbstredend zugehörig fühlte. Jetzt fiel – unter anderem – auch das Scheidungsrecht, das bis dahin „schuldig geschiedene“ Frauen ohne einen Pfennig Unterhalt hatte dastehen lassen. Die Scheidungsrate stieg – und damit die Zahl der alleinerziehenden Mütter. (Der alleinerziehende Vater ist bis heute die Ausnahme. Immer noch lebt nach einer Trennung nur jedes zehnte Kind beim Vater.)
Der „Verband alleinstehender Mütter und Väter“ war inzwischen aus Luise Schöffels Herrenberg in die Hauptstadt Bonn umgezogen und zog 2002 mit seiner Geschäftsstelle in die neue Hauptstadt Berlin. Von Bonn aus befeuerte der Verband die PolitikerInnen mit Stellungnahmen und bombardierte die Gerichte mit Klagen. Und in den Städten berieten viele der 8.000 Mitglieder Ratsuchende vor Ort.
An den alleinerziehenden Müttern und Vätern führt seither kein Weg mehr vorbei. Der VAMV erstritt, dass Alleinerziehende bei Krankheit des Kindes an 20 Tagen im Jahr freigestellt werden müssen; er erklagte, dass Alleinerziehende ihre Kinderbetreuungskosten von der Steuer absetzen können etc. etc. Alle Verbesserungen für Alleinerziehende aufzuzählen, die es ohne den VAMV vermutlich nicht gäbe, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen.
Der letzte spektakuläre Erfolg: der Unterhaltsvorschuss. Seit dem 1. Juli 2017 zahlt der Staat Alleinerziehenden Unterhaltsvorschuss bis zum 18. Lebensjahr des Kindes. Bis dato war er nur bis zum zwölften Lebensjahr in die Bresche gesprungen, wenn Papa (oder selten: Mama) nicht zahlen konnte oder wollte, und das auch nur für maximal 72 Monate. Ein Riesenproblem, denn jeder zweite Vater in Deutschland zahlt gar nicht, jeder vierte nur einen Teil. Sprich: Nur ein Vater von vieren zahlt angemessen.
Dass Vater Staat die alleinerziehenden Mütter bis dahin ohne Unterhalt hatte hängen lassen, begründete er schlicht und einfach so: Alles andere sei zu teuer. Erst Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) setzte, flankiert von der unermüdlichen Lobbyarbeit des VAMV, den vollen Unterhaltsvorschuss durch. „Das war ein echter Durchbruch“, sagt VAMV-Vorsitzende Daniela Jaspers.
Und dennoch: Die Zahlen sind bis heute deprimierend. Mehr als jede Dritte der 1,6 Millionen Alleinerziehenden-Familien in Deutschland lebt von Hartz IV. Das liegt meist daran, dass die Mutter arbeiten will, aber nicht kann. Denn der Fehler steckt im System. „Wir brauchen eigentlich das skandinavische Modell“, sagt Daniela Jaspers. Heißt: Mutter und Vater sind jeweils für ihren eigenen Lebensunterhalt zuständig plus Super-Kinderbetreuung. „Deutschland fördert mit seinen Anreizen leider immer noch das Alleinverdiener-Modell. In 82 Prozent der Familien ist der Mann der Haupternährer“, klagt die VAMV-Vorsitzende. Und dann steht Mama nach einer Trennung ganz dumm da. Deshalb fordert der VAMV: Abschaffung des Ehegattensplittings! Ausbau der Kinderbetreuung! Frauen raus aus der Teilzeit-Falle!
„Unser Ziel ist es, dass wir eines Tages überflüssig sind“, hatte Luise Schöffel anno 1967 gesagt. Anno 2019 stellt Daniela Jaspers fest: „Uns wird es noch eine Weile geben.“
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