Niemand kann mir meine Würde rauben
EMMA In "Hands clean" verabschiedest du deinen ersten, viel älteren, Lover mit der Enthüllung, dass er mal zu dir gesagt hat: "Ich werde dich vielleicht heiraten, wenn du auf dein Gewicht achtest und deinen Körper fit hältst." - Du hast nicht geheiratet, du hast dich getrennt. Hat er sich seither mal wieder gemeldet? Oder hat er das Land verlassen?
Alanis Weder noch. Er ist anscheinend nicht der Typ, der Verantwortung übernimmt.
Du setzt dich ein für die Rechte der Frauen, Alanis. Der Erlös eines Teils der Tickets von deiner Tour geht an die amerikanische Frauenrechts-Organisation Equality NOW. War das deine Idee?
Ja! Ich habe NOW schon vor längerem angesprochen. Ich liebe die Frauen von NOW. Sie sind unglaublich. Wir haben eine richtig gute Beziehung und emailen uns ständig. Wir haben dasselbe schon mal in Amerika gemacht. Außerdem organisiere ich gerade zusammen mit Equality NOW und vielleicht Oxygen ein Event zum 10. Dezember, dem Menschenrechts-Tag, in Los Angeles, bei dem Frauenthemen im Mittelpunkt stehen.
Hast du auch schon kritische Töne gehört wegen deines Einsatzes für die Frauen?
Fast alles, was ich mache, wird kritisiert. Daran bin ich langsam gewöhnt. Ich höre aber nicht darauf.
Hast du keine Angst davor, als Feministin bezeichnet zu werden?
Nein! Für mich ist das ein Kompliment. Ich bin eigentlich Humanistin. Aber das Pendel schlägt heutzutage noch zu sehr zu Lasten der Frauen aus. Wenn ich helfen kann, es gleichmäßig schwingen zu lassen, indem ich mich als Feministin bezeichne – gut, dann bin ich mit der Kategorie einverstanden.
Warum engagierst du dich für Frauen?
Ich bin in einem patriarchalischen Umfeld aufgewachsen, mal zurückhaltend formuliert. Mit zwei Brüdern und einem Vater, die in der Familie viel zu sagen hatten. Meine Kindheit war in gewisser Weise typisch für das, was ich heute überall sehe: Frauen haben weniger zu melden, und wir sind angeblich nicht so lustig und auch sonst alles mögliche nicht. Auf der anderen Seite hat genau das mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Und ich freue mich schon jetzt darauf, eine Tochter zu bekommen! Und wenn das nicht gleich klappt, kriege ich einfach so lange Babys, bis ich eine Tochter habe. Ich muss sechs Jungen kriegen, der Horror... Hoffentlich wird einer davon homosexuell, dann kann ich seine feminine Seite unterstützen. (lacht)
Du hast einmal gesagt, dass deine Großmutter dein Vorbild und der mutigste Mensch sei, den du kennst. Womit hat sie dich so beeindruckt?
Meine Großmutter, mein Großvater, meine Mutter und meine Tante sind während der 1956er-Revolution aus Ungarn geflohen. Sie zogen zwei Schichten Kleider an, ließen alles zurück und hauten ab. Dann kamen sie nach Kanada und konnten kein Wort Englisch. Meine Großmutter hat einfach alles gemanagt und die ganze Familie durchgebracht. Sie ist unglaublich klug und herzlich. Und mutig.
Warum musste deine Familie eigentlich fliehen?
Mein Großvater hatte ein Restaurant und war ziemlich aktiv bei allem, was in der Stadt so los war (Anm. der Red.: in der Opposition gegen die sowjetischen Besatzer). Also gerieten sie auf die Liste der Auszuweisenden. Da gingen sie lieber vorher selbst.
Du hast als Kind drei Jahre in Deutschland gelebt. Kannst du dich daran
erinnern?
Da war ich noch sehr klein. Ich erinnere mich nur an Kleinigkeiten wie das Wort "Kinderschule". Und daran, dass ich auf den Kopf gefallen bin, weil mein Zwillingsbruder mich geschubst hat und ich geblutet habe.
Kannst du noch ein bisschen Deutsch?
(lacht) "Oh Tannenbaum..."
Wie ist das, mit einem Zwillingsbruder aufzuwachsen? War er der klassische Junge - und du das traditionelle Mädchen?
(lacht) Ganz im Gegenteil: Mein Bruder ist ziemlich weiblich – und ich bin ganz schön männlich. Zusammen sind wir eine Einheit. Eine Zeit lang fand ich ihn sehr narzisstisch und mich großzügiger. Jetzt habe ich gemerkt, dass ich eigentlich die Narzisstische bin und er der Großzügige.
Du bist eine der erfolgreichsten Pop-Sängerinnen der Welt. Wirst du von deiner Umwelt entsprechend ernst genommen?
Nicht immer, vor allem in der Musikbranche nicht. Bestimmte Männer in der Industrie sehen Künstlerinnen nur als Gewinnspannen und verkaufte Einheiten. Die interessiert es nur, wie viele Millionen Dollars du verdienst, oder wie viele Platten du verkauftst. Aber ich habe keine große Toleranz dafür, mich wie ein kleines Mädchen behandeln zu lassen. Passiert es trotzdem, wehre ich mich. Es gibt leider überall chauvinistische, sexistische Menschen.
Die Musikbranche behandelt bekanntermaßen Männer besser als Frauen. Bist du auch davon betroffen?
Die Männer und Frauen, mit denen ich zusammen bin, arbeiten mit und für mich. Sie finden es okay, eine Frau zur Chefin zu haben. Ich weiß, dass das nicht überall so ist. Aber ich vergesse das manchmal. Dann laufe ich auf der Straße rum, und mir fällt wieder ein, wie es eigentlich immer noch abläuft.
Als du plötzlich diesen Riesen-Erfolg hattest, fragten sich manche: Warum zeigt sie nicht ihren Waschbrettbauch und dreht ein sexy Fetisch-Video in Lederhosen am Strand? Warum färbt sie sich jetzt nicht die Haare?
Darauf hatte ich überhaupt keinen Bock. Ich habe so viel mehr zu sagen, als nur schön oder sexy zu sein. Sicher, ich habe auch Spaß an meinem Aussehen. Das ist wie malen. Aber ich bin mehr als das. Ich interessiere mich sehr für Spiritualität. Ich glaube, wir sind Geist in menschlicher Gestalt. Der Körper ist nur mein Transportmittel. Ich passe auf ihn auf, damit er mich weiter tragen kann, damit ich herumlaufen und machen kann, was ich will.
Vielleicht denkt Jennifer Lopez in Wahrheit dasselbe, hat aber keine andere Wahl?
Doch. Ich glaube, sie hat genauso die Wahl wie ich. Jeder hat eine Wahl.
Muss man nicht auch ziemlich erfolgreich sein, um die Wahl zu haben?
Nein. Du hättest diese Wahl sogar, wenn du im Konzentrationslager wärst: zu entscheiden, dass du nicht einzig immer ein Objekt bist, sondern immer auch ein Subjekt – dass du immer auch einen Willen und eine Würde hast. Das hängt davon ab, wie du dich selbst siehst. Und ich sehe mich nicht als Objekt, das habe ich nie getan. Obwohl – so ganz stimmt das nicht. Es gab Zeiten, in denen ich mich so gefühlt habe. Da habe ich an das geglaubt, was man mir eingetrichtert hat.
Wollte dich nie jemand überreden, dich auszuziehen – für Filme oder Werbung zum Beispiel?
Ich habe mich ja mal ausgezogen auf dem Thank You-Video, aber das war nicht sexuell. Ich will meine Sinnlichkeit ja nicht verstecken. Das ist ein mächtiger, schöner Teil einer Frau. Aber ich will nicht, dass Sexualität mich definiert.
Glaubst du, dass du mehr Freiheit hast, weil du mit einem Label arbeitest, dessen Chefin eine Frau ist, nämlich Madonna?
Entweder es ist Platz für mich und meine Musik oder ich mache es eben nicht. Ich würde mich totlachen, wenn einer von der Plattenfirma ankäme und mich fragen würde: Könntest du ein bisschen von deinen Titten zeigen? Das würde mich auch nie jemand fragen. Vielleicht ist das wirklich so, weil Madonna ein Teil von Maverick ist. Ich glaube aber, es ist vor allem deswegen so, weil sie mich kennen und respektieren.
Es war also nicht Madonna, die dich ermutigt hat, so zu sein, wie du bist?
Ich habe keine so enge Beziehung zu Madonna, wie die meisten Leute glauben. Ich lebe in meiner eigenen kleinen Welt.
Wie bist du eigentlich ausgerechnet an Maverick gekommen – man kann ja schlecht einfach bei Madonna anrufen und sagen: "Ich spiele Gitarre, los geht's."
Meine Musik hat für sich gesprochen. Der Mensch, der für Maverick arbeitet, hat sie gehört, ich glaube, er hat "You oughta know" gehört und "Perfect", diese beiden Songs. Dann bekam ich die Nachricht vom Label und hörte mitten in den Aufnahmen auf zu singen, um zu ihnen zu fahren. So fing es an.
Du hast schon vor Jahren sehr offen über deine Essstörungen, deine Bulimie geredet. Viele Frauen in dem Business haben ja derartige Probleme, aber niemand will wirklich darüber reden. Erzählst du uns, wie dir das passieren konnte?
Es ist sehr einfach. Wir leben in einer Gesellschaft, die ihren Maßstab hat, wie eine Frau auszusehen hat. Und auch ich habe verzweifelt versucht, dem zu entsprechen. Das Bild war überall, bei den Jungen in der Schule, in den Medien, in jedem Scheiß-Magazin – nicht in eurem wahrscheinlich. Also habe ich versucht, auch so zu werden. Ich habe gehungert, mein Essen erbrochen und Sport gemacht wie verrückt.
Und wie bist du da rausgekommen?
Ich bin zur Therapie gegangen, als ich 15 war. Ich wollte das verstehen. Ich dachte mir: wenn ich es verstehe, dann hat es keine Macht mehr über mich. Dadurch konnte ich es ändern. Es ist dann mit den Jahren langsam von mir abgefallen. Aber ich kämpfe heute noch! Nur wenn ich in Europa unterwegs bin oder in Indien, wo Frauenkörper mit einer anderen Definition von "schön" betrachtet werden, habe ich es sehr viel leichter. In der Musikbranche ist es besonders hart, weil da der weibliche Körper sehr im Mittelpunkt steht. Und es gibt natürlich auch eine Menge Frauen, die nicht gerade hilfreich sind beim Kampf gegen diesen Diätwahn.
Ist das Schönheitsideal in Amerika so wie das in Europa?
Nein. In Amerika ist es viel schlimmer. Da herrscht ein richtiges Bohnenstangen-Ideal. In Europa zum Teil ja auch, in der Haute Couture und der Modeindustrie, aber nicht so krass. Wenn drei Prozent der Frauenkörper diktieren, wie die restlichen 97 Prozent Frauenkörper aussehen sollen, finde ich das schon erschreckend. Ich finde die 97 Prozent genau so sexy.
Was wirst du wohl mit 50 Jahren machen?
(lacht) Ich werde Platten machen, bis ich sterbe und massenweise Bücher schreiben. Ich werde mich für andere Menschen und vor allem für Frauen engagieren, so wie bei Equality Now. Ich will mich politisch einmischen, indem ich meine winzig kleinen Möglichkeiten einsetze, um diesen Planeten zu verbessern. Aber ich will es als Künstlerin tun. Und außerdem will ich surfen und Kinder haben...
Surfen? Im Internet oder richtig?
Richtig! Ich surfe sehr gerne und oft.
Du machst ja auch Triathlon.
Ja. Ich liebe Sport. Dafür nehme ich mir auch die Zeit.
Deine Fans sind ja vor allem weiblich. Kennst Du sie? Wie sind sie so?
Ich liebe sie! Sie sind sehr kreativ. Sie schreiben, malen und zeichnen, ganz erstaunlich und spannend.
Gibt es etwas, was du deinen Fans in EMMA sagen willst?
Akzeptiert alle Teile von euch, auch wenn ihr deprimiert oder wütend seid, oder friedlich oder glücklich oder ängstlich oder was auch immer. Liebt euch selbst!
Das Gespräch führten Noah Sow und Wibke Bantelmann, EMMA 5/2002