Ausstellung: Die Schwestern Hess

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Sie fotografierten in den 1920er Jahren alle, die Rang und Namen hatten: Thomas und Katja Mann, Paul Hindemith, Max Beckmann, Mary Wigman oder Claire Waldoff. Die Berühmtheiten der Weimarer Republik rissen sich darum, von Nini und Carry Hess, dem bewunderten Fotografinnenduo aus Frankfurt, porträtiert zu werden. Aber wie die beiden Künstlerinnen selber aussahen, das weiß man heute nicht mehr. Denn von den einst so berühmten und dann nahezu vergessenen Fotografinnen gibt es keine Fotos. Nur auf einem einzigen Gruppenfoto ist Nini zu sehen, von ihrer Schwester Carry existiert scheinbar überhaupt keine Aufnahme mehr.

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Atelier und Werk der als jüdisch Verfolgten wurde in der Pogromnacht, am 9. November 1938, von SA-Truppen vollständig zerstört. Nini und ihre Mutter Lina wurden später deportiert und ermordet, Lina in Theresienstadt, Nini vermutlich in Auschwitz. Ihrer Schwester Carry war 1933 die Flucht nach Paris gelungen, wo sie jahrelang vergeblich versucht hatte, für sich und die Familie eine neue Existenz aufzubauen. Sie überlebte die deutsche Besatzung Frankreichs nur knapp und verlor ein Auge. In einem langen und demütigenden Verfahren versuchte sie, nach dem Krieg eine Wiedergutmachungszahlung zu erstreiten, die sie erst kurz vor ihrem Tod im Jahr 1957 in der Schweiz erhielt.

Das Leben der beiden Schwestern hatte so ganz anders begonnen. Sie wuchsen behütet auf, als Töchter von Samuel und Lina Hess in einem großbürgerlichen, liberalen jüdischen Elternhaus in Frankfurt. Die 1884 geborene Stefanie und die fünf Jahre jüngere Cornelia machten eine fotografische Ausbildung und gründeten 1913, mit 29 und 24, im Herzen Frankfurts ihr Atelier für Portraitfotografie. Aus Stefanie und Cornelia wurden Nini und Carry.

Die Vorkriegszeit ist die hohe Zeit der Ersten Frauenbewegung, eine Zeit des Wandels, in der Gesellschaft wie in der Fotografie. Die Imitation der Malerei, mit künstlichen Hintergründen, Weichzeichner und viel Retusche werden unmodern, die neue Sachlichkeit hält Einzug. Nini und Carry beginnen, in diesem neuen Stil zu fotografieren. Für ihre Porträts vor neutralem Hintergrund setzen sie den Schwerpunkt auf die Darstellung des Charakters. So zeigt ein Frauenportrait von 1917 eine selbstbewusste Frau mit Hut, Hand an der Hüfte und Zigarette in der Hand.

„Nini und Carry sind nicht Romantiker“, hieß es 1925 in einem Kommentar zu einer Bildstrecke mit Porträts aus dem Atelier Hess. „Sie suchen über die malerische die plastische Wirkung zu stellen. Erstaunlich, dass es Frauen sind, die das Dekorative und Scheinkünstlerische des Lichtbildes mit ihrem starken und realistischen Empfinden zu überwinden suchen.“ Erstaunlich?

Rasch wurden die Fotografien der Schwestern bekannt. Nini, die Zurückhaltendere, kümmerte sich wohl überwiegend ums Geschäftliche, Carry, die Lebensfrohe und Kommunikative, machte die Fotos. Die Schwestern müssen begabte Netzwerkerinnen gewesen sein, denn sie waren in vielen Zirkeln zu Gast, in denen Journalisten, Künstlerinnen, Mäzene und einflussreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in der Stadt zusammenkamen.

Sie veröffentlichten in vielen Büchern und produzierten zahllose Zeitschriftentitel. In dem Fotobuch „Das Frauengesicht der Gegenwart“ des Kunsthistorikers Lothar Brieger ist die Mehrzahl der Porträts aus dem Atelier Nini und Carry Hess, auch das Cover des Buches. Es sind Porträts von bekannten Frauen: die Schauspielerin Fritzi Massary, die Schriftstellerin Anita Loos oder die Tänzerin Nina Pawlowa. Aber auch von Unbekannten: die „Astrologin“, die „Geschäftsinhaberin“, die „Ärztin“. Es sind bemerkenswert intime, wenig gestellt wirkende Porträts von starken weiblichen Persönlichkeiten.

Der Fotohistoriker Prof. Eckhardt Köhn leitet den gut gestalteten und kenntnisreichen Katalog zum Werk „Die Fotografinnen Nini und Carry Hess“ ein. Seiner jahrelangen Recherche ist es zu verdanken, dass das Leben und Werk der beiden Künstlerinnen in Teilen rekonstruiert werden kann. Die Einbettung in den Zeitgeist übernimmt die Kunsthistorikerin Miriam Szwast, sie weist auf die Fülle der Porträtpublikationen in den 1920er Jahren hin, darunter nicht wenige Bücher mit reinen Frauenporträts. Die Diskussion über die neue Rolle der Frau in der deutschen Gesellschaft wurde nach dem Ersten Weltkrieg ein Stellvertretergefecht über die Zukunft Deutschlands „Die Art und Weise, wie sich Frauen kleideten, was sie konsumierten, wie sie sich in der Öffentlichkeit benahmen und wen sie wählten, wurde von Beginn an als Vorzeichen für die zukünftige Form des Staates nach 1918 interpretiert.“

Die zeitgenössische Zeitschrift Das Leben betont 1929: Nicht nur die Mode und Gesellschaft, auch fast alle Bewegungen des Alltags hätten sich durch den neuen Stil, Bubikopf, kurzer Rock und freie Lebensgestaltung der Frauen verändert. „Man isst, sitzt, liest anders als einst, man hört anders zu, man riecht anders an einem Bukett, man tut keine Bewegung wie vor vierzig Jahren.“ Daher sei die „Frauenbewegung“ ganz wörtlich zu nehmen.

BETTINA FLITNER

Information: Die Ausstellung „Die Fotografinnen Nini und Carry Hess“, kuratiert von Susanne Wartenberg, ist vom 10. März bis 22. Mai im Museum Giersch der Universität Frankfurt zu sehen. Katalog bei Hirmer. www.mggu.de

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