In der aktuellen EMMA

Obdachlose Frauen: Schutzlos!

Die Zahl obdachloser Frauen steigt und steigt.
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Linda und ich sind um halb zehn am Wiener Platz verabredet. Ich bin früher da und will mir schon mal ein Bild machen. Der Wiener Platz im rechtsrheinischen Köln-Mühlheim ist das Herz des Stadtteils: mit Einkaufszentrum, U-Bahn-Haltestellen, einem großen Marktplatz. Auf dem herrscht an diesem Dienstagmorgen reges Treiben. Es ist Wochenmarkt, die Herbstsonne scheint, Straßenmusikanten machen orientalische Musik. 

Ich gehe auf die Suche nach obdachlosen Frauen, laufe durch U-Bahn-Gänge, die Einkaufspassage, die Seitenstraßen. Ich sehe viele Menschen, die in Mülleimern nach Pfandflaschen suchen, eine Isomatte bei sich haben, vor Geschäften sitzen und betteln. Alles Männer. Wo sind die Frauen?

Linda wird mehr wissen, denke ich. In Köln ist Linda Rennings stadtbekannt. Seit über zehn Jahren setzt sich die „Kölsche Linda“ mit ihrem Verein „Heimatlos in Köln“ (H.I.K.) für obdachlose Frauen ein, ist zur „Stimme der Straße für Frauen auf der Straße“ geworden. Sie besorgt ihnen Kleidung und Schlafsäcke, sie verteilt Lebensmittel und Sachen für die Körperpflege. 

Und da kommt sie auch schon angefahren, auf ihrem „Möppchen“, wie sie sagt, dem Scooter. Ihr Hund Clayd ist auch dabei. 

Auf den ersten Blick mag Linda zurückhaltend wirken, aber es dauert nicht lang, bis sie hochfährt. Dann stellen ihre sanften braunen Augen auf scharf. Linda ist wütend! Darüber, dass die Politik in Sachen Wohnraum für Obdachlose ein Totalausfall ist, dass obdachlose Frauen so gut wie nie eine Rolle spielen – und das in einem der reichsten Länder dieser Welt. Am schlimmsten findet Linda, „dass ich den Frauen zurzeit keine Perspektive mehr, keine Hoffnung auf eine Wohnung geben kann.“ Seit der Flüchtlingskrise und dem Ukraine-Krieg sind alle Sozialwohnungen vergeben. Noch vor wenigen Jahren hat Linda es immer geschafft, die Frauen von der Straße ins Trockene zu bringen. Sie hat mit Vermietern gefeilscht, die Frauen auf Behördengänge begleitet, beim Antragstellen geholfen. Aber: „Es gibt einfach keine Wohnungen mehr.“ Und: „Ich erlebe Vermieter, die nur noch an die Stadt für Geflüchtete vermieten, weil sie dort die doppelte Miete kassieren können.“ 

Linda Rennings am Wiener Platz in Köln Mühlheim.
Linda Rennings am Wiener Platz in Köln Mühlheim.

Allein in Köln sind 11.000 Menschen obdachlos. In ganz Deutschland sind es über eine halbe Million. Mindestens jeder vierte ist weiblich. Nur fallen obdachlose Frauen weniger auf. „Normal auszusehen, das ist lebenswichtig“, sagt Linda, „nur so können sie unbehelligt in Einkaufspassagen sitzen, öffentliche Toiletten aufsuchen und werden nicht auch sexuell bedroht.“

Aber das „normal aussehen“ sei schwer. Überhaupt könnten sich viele Menschen gar nicht vorstellen, was es gerade für eine Frau bedeute, kein Dach über dem Kopf zu haben. Es fängt an mit dem Aufwachen nach einer durchfrorenen Nacht. Die erste Frage: Wo kann ich zur Toilette gehen? Männer können sich an einen Baum stellen, Frauen müssen sich entblößen. Linda: „Es gibt doch kaum noch öffentliche Toiletten. Und dann: Wo wasche ich mich? Wo kann ich einen Schluck Wasser trinken? Kann ich mir Kaffee und ein Brötchen leisten? Wo finde ich einen neuen Schlafplatz?“ Obdachlos zu sein, das bedeutet Dauerstress. 

„Das Leben ist so teuer geworden“, klagt Linda. Da sei das gewachsen, was sie „Armutskonkurrenz“ nennt. „Geflüchtete, Arbeitslose, Rentner, Alleinerziehende, immer mehr Menschen sind hilfsbedürftig und drängen in soziale Einrichtungen. Tafeln und soziale Dienste sind überfordert. Da wird der Ton auch untereinander rauer. Der Schwächste in der Reihe wird nach hinten gestoßen“, sagt Linda. Und das wären oft die obdachlosen Frauen, besonders die älteren. „Wir haben hier 80-jährige obdachlose Frauen am Rollator. Kann das sein?“

Immerhin: Gerade erst hat sie zwei älteren obdachlosen Frauen, die am Rollator gehen, eine Bleibe verschafft.

Die aktuelle Januar/Februar-EMMA gibt es als Print-Heft oder als eMagazin im www.emma.de/shop
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Manchmal geht Linda auch mit einer Frau Unterwäsche kaufen, wenn diese zum Beispiel wegen Unterleibsschmerzen zu einer Gynäkologin muss. Auch bei anderen Arzt- und Behördengängen ist sie an ihrer Seite. Mit ihrem Verein „Heimatlos in Köln“ und regelmäßigen Treffen versucht sie, Frauen Mut zu machen, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Und das gelingt ihr oft. Denn anders als viele SozialarbeiterInnen dringt Linda zu ihnen durch. Sie selbst war fünf Jahre lang obdachlos.

Als sie 43 ist, verliert sie ihren Job, ihr Ehemann hat großen Anteil daran. „Sie haben zehn Minuten“, sagt der Gerichtsvollzieher bei der Zwangsräumung ihrer Wohnung. Die Männer nehmen alles mit. Sogar die Weihnachtsdeko, die sie gerade aufhängt, als an ihre Tür gehämmert wird. Sie steht auf der Straße. „Ich bin geräumt worden“, sagt Linda.

Sie geht zu ihrer geliebten Großmutter, bei der sie aufgewachsen ist und die sie so oft vor ihrer Mutter beschützt hatte. Nur: Die Großmutter ist tot. Ein Jahr lang lebt Linda Rennings bei ihr auf dem Friedhof in Köln-Dünnwald. Abends, wenn die Tore abgeschlossen werden, versteckt sie sich im Gebüsch. Nachts schläft sie auf einer der Bänke. Der Schein der Grablichter beruhigt sie. Tagsüber kümmert Linda sich um Gräber, um die sich sonst keiner kümmert.

Mitarbeiter eines Obdachlosenheims, in dem Linda Kaffee trinkt, rufen schließlich einen Arzt. Linda kommt ins Krankenhaus – und nach einem Jahr wieder auf die Füße. Sie verteilt nun die Obdachlosenzeitschrift „Draußenseiter“. Eines Tages fragt sie in der Redaktion: „Warum schreibt bei euch eigentlich keiner über die Frauen?“ Schweigen. „Dann mach du es doch, Linda“, sagt der Redakteur. 

„Den Frauen auf der Straße zu helfen, ist meine Bestimmung geworden. Irgendjemand muss gegen ihr Elend ankämpfen, irgendjemand muss doch hinsehen und ihnen zuhören“, erklärt Linda. Die Frauen erzählen ihr von Männern, die sie beschimpfen, treten, anpinkeln. Einfach so. Manche machten sich sogar einen Spaß daraus. Erst letzte Woche hat ihr eine Frau vom Wiener Platz berichtet, wie sie auf der Parkbank nachts wach wurde und ein Mann vor ihr onanierte. Auch kommt es so manches Mal vor, dass Frauen, die sich aus Hoffnung auf Schutz einer Männergruppe anschließen und „gemeinsam Platte machen“, von diesen Männern herumgereicht werden. „Obdachlose Frauen können niemandem vertrauen, auch nicht anderen Obdachlosen“, sagt Linda. Ausnahme: ihrem Hund. „Ich rate allen Frauen, sich einen Hund anzuschaffen. Er ist ihr einziger Schutz“, sagt Linda. Clayd ist ihre Familie. „Auf der Straße hat er mich beschützt. Er hat mich gewärmt. Er ist meine einzige Bezugsperson“, erzählt sie. Als hätte Clayd verstanden, schaut er kurz hoch und checkt die Lage.

Ein Problem: In den Notunterkünften für Obdachlose sind Hunde nicht erlaubt. Das ist der Grund, warum viele obdachlose Frauen einen Bogen um die Notunterkünfte machen. „Wir haben doch nur dieses eine Lebewesen. Und dann sollen wir es irgendwo am Baum anbinden und uns in eine Notunterkunft begeben, in der es vor Gewalt, Dreck und Übergriffen nur so wimmelt? Und wie sollen Frauen denn Ruhe finden, wenn sie sich um ihren Hund sorgen?“, sagt Linda und sie plädiert für Frauen-Unterkünfte – mit Hund. 

Die Frauen schlafen in Parkhäusern, an Supermärkten, in Liefer-Einfahrten. Dort, wo sie nicht auf den ersten Blick gesehen werden und noch reagieren können, wenn jemand kommt. Natürlich trifft Obdachlosigkeit Männer wie Frauen. Nur trifft sie Frauen noch immer ein Stück härter, weil die sexuelle Dimension dazukommt. „Obdachlose Frauen sind Freiwild“, erzählt Linda, „jeder kann sich an ihnen vergehen, andere Obdachlose, Passanten.“ Fast alle sind schon einmal vergewaltigt worden und sie sind ständig davon bedroht. 

Die Wohnungsfreier bieten den Frauen eine heiße Dusche und ein Bett an

Einen besonderen Rochus hat Linda auf die „Wohnungsfreier“. Diese Männer haben ein Auge für obdachlose Frauen. Sie erkennen sie an ihren Blicken, ihrem Gang, ihrer Ruhelosigkeit, ihrer Suche nach einem Fleck, wo sie ausruhen könnten. Die Männer bieten ihnen eine heiße Dusche und ein Bett an. Was in diesem Bett passieren soll, ist klar. Linda weiß, dass es obdachlose Frauen gibt, die verfroren und deprimiert genug sind, um das Angebot anzunehmen. Auch gibt es massig Zuhälter, die Ausschau nach obdachlosen Frauen halten. „Das ist gerade für junge Frauen, die gut aussehen, noch ein Problem. Zuhälter fixen sie an, machen sie süchtig und schicken sie auf den Strich.“ Die Gewalt ist allgegenwärtig. Viele Frauen sind oft erst obdachlos geworden, weil sie vor ihrem Missbrauchs-Vater bzw. ihrem gewalttätigen Mann geflohen sind. 

Über all das hat Linda Rennings nun auch in ihrem Buch „Rebellin der Straße – weiblich und wohnungslos“ geschrieben. Denn weibliche Wohnungslose, die werden in Deutschland immer mehr – und sie werden immer jünger. Fast ein Fünftel der Obdachlosen ist jünger als 25. Darunter sind bei den unter 18-Jährigen 38 Prozent weiblich, bei den 18- bis 20-Jährigen sogar 40 Prozent. Meist fliehen sie vor Gewalt und Missbrauch im Elternhaus. 

Eigentlich gibt es in Deutschland gleich drei Hilfesysteme für junge Menschen in Wohnungsnot: die Jugendhilfe, die Jobcenter und die Wohnungsnotfallhilfe. Das Problem: Sie kooperieren zu schlecht miteinander. „Jugendliche werden oft von einer Stelle zur anderen geschickt. Die jungen Leute in den Großstädten finden keine Wohnungen mehr. Es gibt zu wenige. Die Mieten sind zu teuer. Und wenn dann keine Unterstützung der Eltern kommt oder die vielleicht sogar gewalttätig sind, kann das Abrutschen in die Obdach­losigkeit ganz schnell gehen“, sagt Linda. Sie hat viel gesehen: Bis hin zu schwangeren Frauen,
die ihre Kinder auf der Straße geboren haben. Oder Frauen, die mit Kindern auf der Straße leben und sich keine Hilfe holen, weil sie Angst haben, dass die Kinder ihnen weggenommen werden. Und alte Frauen, die irgendwann nicht mehr ­aufstehen.

Obdachlose werden meist nur vertrieben, ihnen wird nicht geholfen

SozialarbeiterInnen, StreetworkerInnen, ehren­amtliche HelferInnen der bundesweiten Obdachlosenhilfen beobachten einen massiven Anstieg von psychischen Erkrankungen unter den obdachlosen Frauen. Seit Corona habe sich ihre Situation verschärft. In dieser Zeit seien viele Frauen auf der Straße gelandet, die das selbst nie für möglich gehalten hätten, so der Tenor.

Umso wichtiger sei es, dass Städte, wie zum Beispiel Köln, die Obdachlosen nicht einfach vertreiben, sondern wirklich etwas für sie tun. Sicher, es gibt in den meisten Städten Vereine und Dienste, wie zum Beispiel den „Sozialdienst katholischer Frauen“ (SKF), der sich in Köln seit Vereinsgründung 1900 für obdachlose und von Obdachlosigkeit bedrohte Frauen und Familien einsetzt.

Aber im Großen und Ganzen werden Obdachlose einfach vertrieben. Und in so ziemlich allen Kommunen und Städten werden soziale Projekte zurzeit zusammengestrichen. Projekte und Hilfen für Obdachlose sind da oft das erste.

Viele HelferInnen plädieren für mehr alternative Wohnräume: „Es müsste zum Beispiel der Leerstand mehr genutzt werden. Lagerhallen, leerstehende Häuser, mobile Container, Tiny Houses, Campingplätze. Und natürlich brauchen wir mehr Angebote, die den Menschen psychisch helfen, wieder Fuß zu fassen“, sagt auch Linda. Gerade bei Frauen sei das besser möglich als bei Männern, weil sie sich schneller helfen ließen. Auch müsste es mehr mobile Dienste geben, die Obdachlose mit dem Nötigsten versorgen. 

„Die Armut in Deutschland wächst, und die wirtschaftliche Krise wird die Lage noch weiter verschlechtern“, sagt Linda Rennings und blickt schwermütig auf ihren Wiener Platz, an dem sie jeden Tag wieder im Einsatz ist. Und nun sei ­Winter. Linda fühlt die Angst der Frauen vor dem, was noch kommt. Sie war eine von ihnen.    

Spendeninformation
Linda Rennings – Heimatlos in Köln (H.I.K.), Sparkasse Münster Ost;
IBAN: DE75 4005 0150 0153 9364 48; BIC: WELADED1MST;
Kontakt: HIK-Heimatlos@gmx.de; T 0221-82822063.

Sozialdienst katholischer Frauen (Köln): Obdachskf-koeln.de/spenden/online-spende

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