Occupy: Besetzen wir unser Leben!
Auf der 31. Straße. Zwischen der 9. und der 10. Avenue. Ein Homeless hat sich an der Mauer zum Parkplatz ein Haus gebaut. Es ist aus Pappe mit Plastikmüllsäcken überzogen. Das Dach ist mit blauem Klebeband an die Mauer geheftet. Das Haus hat zwei Räume zum Unterkriechen. Voriges Wochenende baute der Mann an einer Art Veranda. Das Wetter in diesem November ist außergewöhnlich warm und ein Vordach aus durchsichtigem Plastik zum darunter Hocken am Tag durchaus angebracht.
Früher wohnte der Mann oben auf der 9. Avenue an der Mauer. Da zog aber im Sommer ein Billigbusunternehmen ein. Lange Schlangen von anstehenden Reisenden vor den Bussen am Gehsteig würden einem Pappendeckelhaus zusetzen. Die Anstehenden konkurrieren um billige Busplätze nach Boston, Toronto oder Chicago. Wer da steht, kommt mit. Wer sich nicht einmal das billigste Flugticket leisten kann oder den meist teureren Zug, der oder die muss anwesend sein, um den Platz zu besetzen. Frau kann dann auf dieser Seite auf dem breiten Gehsteig der Ostseite der 9. Avenue nicht gehen. Keine Person würde Platz machen. Die Angst, den Platz zu verlieren, der zum Billigsttransport führt. Diese Angst ist größer als die sonst so selbstverständliche amerikanische Freundlichkeit. Die Augen werden zwar niedergeschlagen, wenn der Durchgang verwehrt wird. Und es ist eher Resignation als Aggression, die sich einer da in den Weg stellt. Aber es wird nicht gewichen. Frau könnte sich als Vordränglerin herausstellen. Den Mann im Pappendeckelhaus wollten diese Reisenden nicht sehen. Zu nahe ist die Möglichkeit, von einer Person, die mit Billigstbussen reisen muss, zu einer Person zu werden, die gar nicht mehr reisen kann.
In einem Pappendeckelhaus unterkommen zu müssen. Das ist dann nur eine der anderen Ängste mehr, mit denen 99% der Amerikaner und Amerikanerinnen leben müssen. Es gibt keinen Unterschied mehr. Mittelstand oder nicht. Das eine Prozent der Habenden hat es geschafft, alle anderen zu Gleichen zu machen. Das mag sich als der wirkliche politische Fehler der Plutonomie der USA herausstellen. Die Steuerzahler zum Bezahlen der Spielschulden so heranzuziehen, dass die Steuerzahler als Besitzer der bankrotten Banken zu einer Klasse der Ausgebeuteten geformt werden, die das dann auch im eigenen Leben zur Kenntnis nehmen müssen. Das Pappendeckelhaus, das nur noch von Klebeband festgehalten wird. Das ist dann sehr sichtbar der Ausdruck einer drohenden Zukunft.
Die meisten schlagen noch die Augen nieder, wenn frau ihre Armut sehen kann. Wie da, wo es um diese Billigstangebote geht. Wenn Personen vor Supermärkten kampieren, um als Erste an die wirklichen Angebote zu kommen, die dann ohnehin nur von Mitternacht bis 6 Uhr früh zu haben sind. Danach gelten wieder die normalen Preise und nur noch die Illusion treibt die Kunden in die Geschäfte. Dieser Run auf Billigstangebote. Das ist nicht mehr Zurichtung. Das ist Züchtigung. Der Körper selbst muss eingesetzt werden. Die rennenden und sich bekriegenden Massen beim Start der Weihnachtssaison. Die stehenden und nicht weichenden Reisenden vor den Billigstbussen angestellt. Es gibt nur noch diese eine Bestimmung. Unausweichlich muss der Körper zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sich einer vorbestimmten Haltung unterordnen, um an das Billigstangebot zu kommen. Laufen oder stehen. In der Logik der postderegulierten Verwirtschaftlichtheit muss die Person diese Züchtigung auch noch selber an sich selber vollziehen. Das zieht das Zerbrechen der Selbstachtung nach sich. Denn. Es geht längst nicht mehr um Konsum. Für Millionen von amerikanischen Bürgern geht es längst um das Überleben im Täglichen. Und. Der Schritt vom schamerfüllt vorgetäuschten Mittelstand in die vollkommene Geldlosigkeit ist winzig. Die Folgen aber umfassend. Die Hilflosigkeit wird durch eine Flut von Gesetzen der letzen 20 Jahre noch erhöht, in denen dem Geld- und Versicherungssektor ermöglicht wurde, das Kleingedruckte in den Verträgen nur zu ihren eigenen Gunsten drehen zu können. Demokraten und Republikaner. Wer regierte, machte da keinen Unterschied.
In der Geschichte der USA gibt es immer wieder den Versuch, eine dritte Partei zu begründen. Immer wieder wurden Bewegungen gegründet, die dann, wie die Tea Party heute, in einer der beiden großen Parteien integriert wurden. Andere Bewegungen wurden vom Establishment erfolgreich niedergehalten. Occupy Wall Street ist eine solche Bewegung. Immer geht es um Erneuerung. Immer gibt es die Berufung auf die Verfassung. Das erinnert ein wenig an die Entwicklungen in den christlichen Religionen. Nur. Da ging es noch um anderes. Metaphysik. Ewigkeit. In diesem Augenblick der Geschichte der USA geht es einfach ums Geld. Und weil es ums Geld geht, geht es ums Leben. Occupy Wall Street geht es um ein Leben, das nicht durch das Geld definiert wird. Das Leben soll wieder durch die Grundrechte seinen Wert bekommen. Einen Wert an sich. Es geht darum, sich von der Scham zu befreien, die die geltende kapitalistische Kultur über alle verhängt, die es „erwischt“ hat. Alle, die ihr Geld verloren haben. Alle, die also arm sind. Die sollen durch die Selbstzensur der Scham aus der Gesellschaft verschwinden. Die dürfen sich dann vor Supermärkten um die, ihnen vorgeworfenen Billigstangebote raufen. Trash. Gesellschaftlicher Müll sollen die dann sein und möglichst nicht mehr wählen. Man müsste sich dafür ummelden und vom Trailer Home mag einem oder einer das nicht mehr so wichtig erscheinen.
Sie sei sehr enttäuscht, sagt die schöne Clementine aus Paris, die in der UNO ein Praktikum macht. Sie sei enttäuscht, wie schäbig diese Leute da aussähen. In Zuccotti Park. Das wären ja irgendwie nicht sehr beeindruckende Personen. Am nächsten Tag begannen die Räumungen und Verhaftungen. Die schäbigen Personen kamen wieder ins Gefängnis und vielleicht kann man nach der dritten Verhaftung mit der Hilfe von Pepperspray und leuchtend weißen Plastikfesseln nicht mehr so richtig chic aussehen. Aber ich kenne das von den „Wandertagen“ in Wien in 2000. Die große Gruppe selbst macht einen oder eine ein bisschen schäbig. Das ist auch befreiend. Wir sind es nicht mehr gewohnt, eng zusammenzustehen. Die freigestellte Modefotografie hat unser Bildsehen geprägt und wir können in der Gruppe keine Details mehr erkennen. Es bedeutet also auch schon bildlichen Abstieg, sich in die Gruppe zu begeben. Als einzelne Personen. Das konnte ich Clementine sagen. Als einzelne Personen sind wir alle ganz fesch. In der Gruppe im Park. Beim Herumgehen. Oder die Straßen hinunter zu Brooklyn Bridge. Da zerfließen die Farben und alles wird unklar und dunkel. Die Gesichter nur noch helle Flecken. Die langen Haare der Männer sind schon längst wieder ungewohnt und die alten Ratschläge, zum Friseur zu gehen, sind von den Bürgermeistern aller „besetzten“ Städte zu hören.
Clementine wollte auch ein Programm von Occupy Wall Street. Das wollen auch die Medien. Die Politik will das. Das Büro für Homeland Security will das ganz besonders. Terrorverdacht liegt ja immer gleich in der Luft.
Auch das kenne ich aus Wien. Es geht nicht darum, die Richtigkeit eines Programms zu diskutieren. Es geht darum, die Richtigkeiten leben zu können. Immer handelt es sich nämlich um Rechte, die längst garantiert sind. Rechte, die verbrieft sind. Im Fall der USA handelt es sich um Rechte, die in der Verfassung verankert, den Staat begründen sollten. Und immer geht es ganz einfach um das Recht auf ein Leben in Würde. Wie soll das noch diskutiert werden. Es geht doch um die Umsetzung. Und die wird von den Eliten in aller Macht verhindert. Diese Verhinderung ist lebensumspannend komplex und betrifft die tiefsten Schichten des Fühlens. Was soll eine Person da diskutieren. Es würde in die Selbsterklärung führen und da haben alle aus 68 gelernt. Es wird nicht geredet, es wird gehandelt. Es wird in der Person zur Erscheinung gebracht. Im Fall von Occupy Wall Street wird auch viel ertragen. Immerhin ist das FBI, NYPD und das Bureau of Homeland Security mit der Verhinderung beschäftigt.
Am Ende war es dann dieser langhaarige Trommler vor dem Haus des Bürgermeisters von New York. Der wohnt nicht in der Residenz, die in einem Park liegt und wo nur er das Trommeln hören hätte können. Der Milliardär Bloomberg blieb in seinem Townhouse wohnen. Occupy Wall Street wollte Tag und Nacht vor seinem Haus trommeln. Weil das aber den Schlaf der Kinder in dieser Straße gekostet hätte, wurde abgebrochen. Das könne man schließlich nicht machen, sagte der Mann in die Kamera und lächelte verlegen. Kinder müssten schlafen. Ob sie nun reich wären oder nicht. Da war Clementine dann doch überzeugt, dass es sich um etwas Richtiges handeln könnte.
Es muss nicht eigens erwähnt werden, dass die derzeitige Situation in den USA Frauen spezifisch benachteiligt. Und wie immer. Migrantinnen noch einmal mehr. Die Programme für Geburtenkontrolle werden mittlerweile von einer Krankenversicherung abhängig gemacht. 19 Millionen Frauen sind nicht krankenversichert. Geburtenkontrolle und Lebensplanung. Das sind damit wieder Privilegien geworden.
Diese Nachricht allein hat mich die 4 U-Bahnstationen von der 31. Straße hinunter zur U-Bahnstation World Trade Center fahren lassen. Wenn frau auf die Straße heraufkommt. Rechts ist Ground Zero. Links Century 2001. Da raufen sich die Outlet-Touristen um die Schnäppchen der Designermode. Dann kommt links gleich Zuccotti Park. Der hieß früher Liberty Plaza Park. Da dürfen die Demonstranten auf und ab gehen. Sie dürfen nicht mehr biwakieren. Die Polizei lässt alle 7 Minuten eine Beobachtungskanzel aufsteigen, von der aus alle fotografiert werden. Masken sind dagegen eine kluge Maßnahme. Und von Zeit zu Zeit werden ein paar Personen verhaftet. Dazwischen hält auch einmal ein Prediger seine Predigt.
Irgendwann dann schwillt die Menge an. Dann wieder wird es ruhig. Nervös ist da nur die Polizei. Denn. Es ist klug, dieses Demonstrieren in das jeweilige Leben so zu integrieren, dass keine Verluste entstehen. Es ist altmodisch, von der Politik und den Medien zu verlangen, dass Personen sich diesen politischen Handlungen hauptberuflich widmen und jederzeit für Auskünfte zur Verfügung stünden. Es geht ja alles Demonstrieren gegen die politischen Klassen und gegen alle Parteien, die zu dem einen Prozent der Habenden gehören oder danach streben dazuzugehören. Wenn dann viele da sind. Dann sind das Personen jeden Alters, jeden Geschlechts und jeder Zugehörigkeit, die ihre Politik in ihren Alltag integrieren.
Sehr oft sind das Studenten und Studentinnen, die dazwischen zu einer Vorlesung oder einem Seminar gehen und dann wiederkommen. Für die geht es um ihre Zukunft. Die meisten haben hohe Schulden aus den Krediten, mit denen sie ihr Studium finanzieren müssen. Und. Die meisten haben keine Aussicht auf einen Arbeitsplatz. Und. Alle 99% müssen in einer Balance von Wünschen und Möglichkeiten ihr Leben bestreiten.
Occupy Wall Street ist da schon einmal ein wunderbar gelungenes Modell von Jobsharing. Ohne Hierarchie kann jeder und jede den Platz des oder der anderen ausfüllen. Das kann dann gelebte Gleichwertigkeit genannt werden und ist an sich schon eine Errungenschaft.
Für den Mann im Pappendeckelhaus auf der 31. Straße wird das alles nicht mehr relevant werden. Er ist einer der über 40000 Homeless in New York. Er ist sich selbst überlassen und muss die beabsichtigte Vernachlässigung am anderen Ende des Spektrums leben. Jene gesellschaftliche Vernachlässigung, die denen aus dem 1 Prozent ihren Reichtum ermöglicht und da amerikanischer Traum genannt werden kann, bedeutet für ihn den Pappendeckelunterschlupf auf der 31. Straße. Und um die Ecke stehen die Billigstreisenden an. Sie befinden sich nicht mehr in der Mitte zwischen diesen beiden Extremen. Sie sind dem Pappendeckelhaus näher als der 5 Straßen entfernten teuersten Wohngegend der Welt. Park Lane.
Ich gebe zu. Ich habe diesmal in New York Demonstrationstourismus betrieben. Wie seltsam und wie schön, dass wir auf diese Weise einander doch finden können. Unspektakulär. Unaufgeregt. Unwichtig. Aber alles in der Sicherheit des Rechts auf Würde. Das muss jetzt einmal reichen. Wozu sollte jemand sich als Märtyrer opfern und gewalttätig werden. Diese Sehnsucht nach gewalttätigen Revolutionen. Die wird hier nicht ausgelebt. Vielleicht auch, weil sich diese Bewegungen aus den Erfahrungen der Bürgerrechtsbewegung und der Frauenbewegung entwickelt.
Eine der Forderungen von Occupy Wall Street ist, das eigene Leben zu „besetzen“. Das war doch schon immer unsere Forderung. Wie schön, sie so lebendig und gelebt neu vorzufinden. Ich fand das beruhigend. Eine solche Angstlosigkeit. Ist das nicht weiterhin und wie immer die Grundlage für Befreiung. Darin wird dann ein solch unterschätztes Gefühl zum politischen Motor. Also. Besetzen wir einmal mehr unsere Leben. Es wird uns hier in Europa auch nicht schaden.
Die Autorin hat jüngst das Buch „Die Schmerzmacherin“ veröffentlicht.