MIt dem E-Bike nach Rotterdam
Prolog EMMA-Konferenz. „Ich fahre übrigens in meiner Urlaubswoche mit dem E-Bike den Rhein entlang von Köln nach Rotterdam.“ – „Suuuper!“ ruft Annika, die das Dossier „Frauen und Fahrrad“ vorbereitet. „Über E-Bikes brauche ich noch was!“ – „Aber ich weiß nicht, ob ich da was Geschlechtsspezifisches schreiben kann“, wende ich ein. „Ach, da findet sich schon was!“, sagt Alice. Also dann.
Tag 1, 11.30 Uhr Es geht los. Ich steige auf mein E-Bike. Eigentlich ist es gar nicht meins, sondern das meiner Lebensgefährtin. Ich selbst besitze kein E-Bike, denn ich habe mich bisher bewusst dem E-Bike-Boom verweigert. Ich begrüße es zwar uneingeschränkt, wenn Menschen das Auto tatsächlich durch das E-Bike ersetzen und zum Beispiel mit dem Rad zur Arbeit fahren und dafür das Auto stehenlassen. Aber, seien wir ehrlich, meist läuft es doch so: Die stolzen E-Bike-BesitzerInnen fahren weiterhin mit dem Auto zur Arbeit und
machen ihre sonntägliche Radtour jetzt mit dem E-Bike statt mit dem normalen Fahrrad.
Ich habe mal nachgerechnet: Wenn alle sieben Millionen E-Bike-BesitzerInnen in Deutschland alle drei Wochen eine Radtour machen, bei der sie ihren Akku einmal leerfahren, dann verbraucht das jährlich 59 Millionen Kilowattstunden Strom, das entspricht 1,2 Millionen Kühlschränken. Klimafreundlich geht anders. Warum können all diese E-Bike-Begeisterten denn bitteschön ihre Radtouren nicht wie früher mit reiner Muskelkraft bestreiten?
Ich kann das leider nicht, weil ich aus Zeitgründen in vier Tagen in Rotterdam sein muss. Die Strecke hat 349 Kilometer, das schafft man nur mit E-Bike. Aber ich will natürlich mit der kleinstnotwendigen Akku-Unterstützung fahren, der Umwelt zuliebe. Und weil ich mich ja schließlich sportlich herausfordern will.
„Eco“, die kleinste Stufe, ist allerdings ein bisschen schwergängig. Also Stufe zwei: „Tour“.
Nach 3,9 Kilometern schalte ich auf Stufe drei: „Speed“. Denn nachdem ich im Kölner Norden mit der Fähre auf die rechte Rheinseite übergesetzt bin, fahre ich nun auf einem Deich durch ein wunderschönes Naturschutzgebiet vor Monheim (dem Heimatstädtchen der Heimatdichterin Ulla Hahn). Der Himmel ist strahlend blau, die Rapsfelder sind leuchtend gelb, das Rad ist schwer. Sehr schwer. Womöglich zu schwer? Allein der Akku wiegt vier Kilo, meine Satteltaschen weitere zehn, denn weil ich ja mit dem E-Bike fahre, habe ich großzügig gepackt. Der Wind auf dem Deich bläst scharf. Ich fühle mich erinnert an eine traumatische Radfahrt in meiner Jugend vom nordholländischen Den Helder nach Sint Martensvlotbrug: über 20 Kilometer bei Gegenwind Stärke 4. Akut besteht die Gefahr einer Retraumatisierung. Also „Speed“. Ha! Schon viiiel besser.
Es ist Sonntag, außer mir sind viele weitere RadfahrerInnen unterwegs. Es gibt zwei Gruppen: Familien, die gemächlich durchs Grüne juckeln, und Männer, die über die Landstraßen zischen und sich offenbar bei der Tour de France wähnen. Letztere sind zu erkennen an ihren Rennrädern und hautengen Einteilern in Neonfarben.
Diese Einteiler stehen nicht jedem. So mancher aus dem Leim gegangene Hobbyradler scheint allerdings der Ansicht, dass sein Presswurst-Outfit ihn in einen zweiten Eddy Merckx verwandelt. Überflüssig zu erwähnen, dass Frauen auf eine solche Idee nicht kommen. Nur eine Frau mit Idealmaßen und darunter würde es wagen, sich in solche Tights zu quetschen und dabei auch noch zu schillern wie eine Leuchtreklame.
Nach 30 Kilometern und etwa 50 Eddy Merckx-Lookalikes kommt mir die erste Rennradlerin entgegen. Es werden auf der gesamten Strecke insgesamt zwei werden. Kampfradeln scheint immer noch Männersache zu sein.
Womöglich sprechen aber auch gewisse Neidaffekte aus mir, denn, ja, der Großteil der Tour-de-France-Fahrer hat eine beeindruckende Beinmuskulatur und fährt geschätzt doppelt so schnell wie ich, und das ohne Motorunterstützung. Permanent werde ich von diesen Neon-Typen überholt. Ich muss zugeben, dass mich das frustriert.
Mit geschärftem Blick für Geschlechtsspezifisches fahre ich weiter. Hinter Monheim heißt ein Restaurant „Zum Vater Rhein“. Warum sagt eigentlich niemand „Mutter Elbe“ oder „Mutter Weser“? Wieder ein Beweis dafür, dass wir im Patriarchat leben.
Fahren auf „Speed“ ist sehr angenehm, aber kein Dauerzustand. Das ist eine Frage der Ehre, vor allem aber eine Frage des Akkus. Ich weiß nicht, wie lange er hält. Nicht auszudenken, wenn er kurz vor meinem Etappenziel Duisburg leer wäre und ich ausgerechnet die letzten Kilometer mit müden Knochen ohne jegliche Unterstützung dieses Trum vorwärtstreten müsste. Also wieder „Tour“. Schade eigentlich.
Am frühen Abend gerate ich in Krefeld in ein Industriegebiet. Klar, es kann nicht immer idyllisch sein am Rhein. Alles voller grauer Lagerhallen und parkender LKWs. Zwischen den LKWs: LKW-Fahrer, die auf Campingkochern ihre Sonntagabendmahlzeit erhitzen. Außer den LKW-Fahrern und mir ist hier niemand. Die höchste Stufe des E-Bikes heißt „Turbo“. Ich finde: Der Moment für „Turbo“ ist jetzt gekommen.
Als ich meiner Mutter von der geplanten Radtour erzählt hatte, sagte sie: „Boah, das ist ja mutig!“ Meine Stiefmutter fand das auch. Ich fand das überhaupt nicht und fragte mich, ob sie das auch ihrem Sohn gesagt hätten, wenn sie denn einen hätten. Man muss dazu sagen, dass der Mann meiner Mutter kurz zuvor ein Boot vom griechischen Festland nach Kreta gesegelt hatte, und zwar ohne jegliche Segelerfahrung. Das Wort „mutig“ fiel in diesem Zusammenhang nicht. Meinen meine Mutter und meine Stiefmutter also „mutig für eine Frau“? Und wenn ja, macht mich das jetzt mehr oder weniger mutig?
Jedenfalls bin ich höchst erleichtert, als ich dank Turbo aus dem Industriegebiet hinausschieße und alsbald in Duisburg ankomme. 80 Kilometer. In meinen Oberschenkeln sticht es über den Knien.
Tag 2, 8 Uhr Ich muss nochmal auf das Thema Männer und Kleidung zurückkommen. Es muss ja in einem Hotel niemand Thomas-Mann-mäßig im Leinenanzug zum Frühstück erscheinen, schon gar nicht in Duisburg. Aber: Wie kommen Männer eigentlich auf die Idee, dass es ein schöner Anblick sein könnte, wenn sie zum Frühstück in schlabberigen kurzen Hosen und Badeschlappen erscheinen? Antwort: Gar nicht. Sie beschäftigen sich offenbar nicht mit der Frage, ob und wie sie ein zumutbarer oder gar ansehnlicher Anblick sein könnten. Ob das Leoparden-Shirt ihrer Begleiterin stilmäßig der Kracher ist, sei dahingestellt. Aber sie hat sich wenigstens Mühe gegeben.
Neben dem Typus Schluffi gibt es den Typus Abenteurer. Der Abenteurer am Nachbartisch trägt Muscle-Shirt und Cowboyhut. Der dritte Typus ist der Geschäftsmann. Der ist meistens langweilig, aber wenigstens vollständig bekleidet, und starrt unablässig in sein Smartphone.
Es regnet. Ich habe ein unstornierbares Hotel im holländischen Nijmegen gebucht. Das würde eine Etappe von 120 Kilometern bedeuten. Das sehe ich nicht so ganz. Ich beschließe spontan, die Etappe zu verkürzen, indem ich mit dem Zug nach Xanten fahre. Von hier an geht es wieder auf den Rhein-Radweg, und das wieder auf Speed, denn ich weiß jetzt: Der Akku schafft das. Und warum es dann nicht etwas leichter haben? Noch etwas ist sehr praktisch am E-Bike: Unzählige Schafe mit ihren wahnsinnig süßen Lämmern bevölkern den Deich, was schön ist, aber zur Folge hat, dass man ständig anhalten, Gatter öffnen und wieder schließen muss. Das Bike ist offenbar so schlau zu merken, wann man es ganz besonders schwer hat, nämlich beim Antreten nach Gatterschluss, und gibt mir bei jedem Antritt einen Extraschub. Ich bin dem Rad dafür sehr dankbar.
Ankunft um 16 Uhr in Nijmegen. 65 Kilometer sind auch genug. Meine Knie stechen immer noch.
Tag 3, 12 Uhr Nachdem ich wiederum einige Etappen-Kilometer mit dem Zug gespart habe, starte ich in Zaltbommel, einem dieser ungemein pittoresken holländischen Städtchen. Der Rhein heißt hier Waal und die Tour de France fährt hier niemand. Ich auch nicht. Mein heutiges Ziel Goerinchem liegt 25 Kilometer entfernt. Das muss reichen. Man muss sich diese pittoresken holländischen Städtchen doch auch mal in Ruhe anschauen.
Tag 4, 11 Uhr Etappen-Kilometer lassen sich in Holland aufgrund des gut ausgebauten Schiffsverkehrs auch sehr gut mit dem Boot sparen. Von Werkendam aus sind es noch 30 Kilometer bis Dordrecht, von wo aus ich die letzten 35 Kilometer nach Rotterdam ohnehin mit dem Schiff fahren will. Der Weg zum Boot führt durch den Biesbosch, ein wasserreiches Gebiet mit seltenen Vogelarten und freilaufenden Büffeln, in dem man sich sehr leicht verfährt. Mein Weg führt jetzt leider mitten durch eine Büffelherde. Die imposanten Tiere haben hier allen Platz der Welt, stehen aber genau auf der schmalen Straße, die ich entlangfahren muss. Es gibt zwei Optionen: Sehr schnell durch die Herde – oder sehr langsam. Ich entscheide mich für Letzteres. Die Büffel lassen mich passieren. Jetzt schnell weg: Turbo!
Irgendwie hatte ich auf der Karte übersehen, dass ich vor Dordrecht ein Gewässer namens Nieuwe Merwede mit der Fähre überqueren muss. Macht ja nichts. Vor der Fähre warten mit mir etwa 20 Amerikaner um die 60, die, wie die Schilder an ihren Fahrradsätteln zeigen, mit der „Tulip Time Cycling Cruise“ auf Tour sind. Abgesehen von den schon erwähnten hautengen Einteilern, die auch hier nicht allen Männern stehen, fällt auf: Zwölf Radfahrende sind mit sechs Tandems unterwegs. Und auch wenn die Gruppe nicht aus dem trumpistischen Mittleren Westen, sondern aus San Francisco kommt: Bei jedem Duo sitzt der Mann vorne. Bei dieser Gelegenheit fällt mir auf, dass ich in meinem ganzen Leben noch keine gemischtgeschlechtliche Tandem-Besatzung mit einer Frau in Führungsposition gesehen habe. Vielleicht sollten Tandem-Verleiher eine Frauen-Quote einführen?
Dafür lenkt eine Kapitänin das durchaus große Schiff. Sie steht auf einer Art Kommandobrücke, die die Fähre überspannt, hat graue Haare und sieht sehr stattlich aus. Ha! Ausgleichende holländische Gerechtigkeit für die amerikanischen Tandem-Machos.
Tag 4, 17.15 Uhr Ankunft an der Erasmusbrücke. 227 Kilometer! Immerhin. Darauf ein Heineken! Und im Turbo zum Hotel.
Epilog Gar nicht schlecht, so ein E-Bike. Ich erwäge ernsthaft, demnächst mal statt mit dem Auto mit dem Rad in die EMMA zu fahren. Immer am Rhein entlang. Natürlich auf Speed.
CHANTAL LOUIS