Pandemie Männerwahn
Im Jahr 2017 machte ich deutlich, dass es uns in unserem Buch „Wie gefährlich ist Donald Trump? 27 Stellungnahmen aus Psychiatrie und Psychologie“ nicht in erster Linie um Donald Trump ging, auch wenn der Titel das zu signalisieren schien. In dem von Judith Herman und mir gemeinsam verfassten Vorwort zu der Anthologie stellten wir fest: „Macht korrumpiert nicht nur, sie verstärkt zugleich bestehende Psychopathologien, ja sie kann zum Entstehen neuer pathologischer Phänomene führen.“ Wir wiesen u. a. auf den zunehmenden Persönlichkeitskult hin, der autoritärem Denken entspringt, sowie die wachsende Verachtung gegenüber rechtsstaatlichem Denken. Die Wahl Donald Trumps schien uns ein besorgniserregender Hinweis auf den kollektiven Zustand der Nation und die psychische Gesundheit des gesamten Volkes.
Jetzt ist Donald Trump nicht mehr im Amt, aber der „Trumpismus“, der sich unter ihm ausgebreitet hat, verschärft sich. Und es besteht die Gefahr, dass entweder Trump selbst bei der nächsten Wahl 2024 zurückkehrt, oder ein anderer, der noch schlimmer sein könnte als er. In der Zwischenzeit könnte Trump vielleicht sogar eine Art Schattenpräsidentschaft ausüben. Sofern ihm niemand Einhalt geböte, könnten die von ihm ausgehenden Gefahren sich immer stärker ausbreiten und schließlich unkontrollierbar werden.
Mittlerweile ist das Problem aus dem Ruder gelaufen, ist zu einer „stillen Pandemie“ geworden, die andere gesellschaftliche Probleme noch verstärkt. Dazu gehört die Ausbreitung der Virus-Pandemie selbst, das Problem der Drogenabhängigkeit, die Depressionen, Selbstmorde und Gewalt.
Die Gründe dafür, dass die Anhängerschaft Donald Trumps so groß ist, sind vielfältig und unterschiedlich. Mit Blick auf meine berufliche Erfahrung als Psychiaterin im öffentlichen Gesundheitswesen und meine Arbeit mit Street Gangs vermute ich, dass es sich bei diesem Phänomen in erster Linie um eine Form von Missbrauch handelt. Denn die Beziehung zwischen Trump und seinen Anhängern nährt sich aus dem Bedürfnis dieser Menschen nach Identität und Zugehörigkeit.
Die emotionale Dynamik, die hier am Werk ist, ist offensichtlich: Es handelt sich um eine narzisstische Symbiose und um das gemeinsame Abdriften in eine Psychose.
Der Begriff „narzisstische Symbiose“ bezieht sich auf die Komplizenschaft, die immer dann zu beobachten ist, wenn ein Führer mit einer narzisstischen Wunde auf seine Gefolgschaft trifft. Der Führer, der nach Bewunderung und Anbetung lechzt – um so sein eigenes tiefes Gefühl der Unzulänglichkeit und Wertlosigkeit zu kompensieren – vermittelt nach außen Grandiosität und Allmacht. Seine Anhänger wiederum, die aufgrund wirtschaftlicher Not, gesellschaftlichem Druck oder psychischen Verletzungen ebenfalls sehr bedürftig sind, sehnen sich nach einer Vaterfigur, die für sie sorgt, sie beschützt und ihnen sagt, woran sie glauben sollen.
Wenn Personen mit einer derartigen Wunde an die Macht kommen, missbrauchen sie diese Macht und locken jene Menschen mit ähnlichen Verletzungen in eine symbiotische Beziehung wie Schloss und Schlüssel, die nur schwer wieder zu lösen ist.
Eine solche Form gegenseitiger Anziehung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer „gemeinsamen Psychose“ kommt, die man auch als „folie à millions“ (Wahnsinn von Millionen) oder Massenhysterie bezeichnen könnte.
Gelangt ein Individuum mit schweren Symptomen in eine einflussreiche Position und steht über einen längeren Zeitraum in der Öffentlichkeit, dann sind alle Bedingungen dafür gegeben, dass diese Symptome sich ausbreiten. Wahnhaftigkeit, Paranoia oder Gewaltbereitschaft haben auf zuvor gesunde Individuen nun eine ansteckende Wirkung, sie verbreiten sich ähnlich wie eine Infektionskrankheit.
Die Therapie bestünde darin, die Person, von der die Gefahr ausgeht, dem Kontakt mit der Öffentlichkeit zu entziehen. Wir haben das gesehen, als mehrere Plattformen in den sozialen Medien Donald Trump den Zugang sperrten und seine Zustimmungswerte dadurch schlagartig sanken.
Damit ist das Problem allerdings noch nicht gelöst. Wir müssen Donald Trump, seine Anhänger und die Nation als ein „ökologisches System“ betrachten, in dem jeder Teil vom Rest des Ganzen abhängig ist. Sofern er nicht zur Verantwortung gezogen und gerichtlich verfolgt wird, also der staatlichen Kontrolle unterstellt bleibt, wird Donald Trump weiterhin eine große Gefahr für das Land bleiben, denn er wird versuchen, erneut an die Macht zu kommen. Er wird seine Anhänger weiterhin manipulieren, die langfristigen Folgen seines eigenen Versagens der neuen Regierung anlasten und sich auf diese Weise noch mehr als je zuvor als Retter des Landes darstellen, dazu bestimmt, „Amerika wieder groß zu machen“.
Wenn das amerikanische Volk sich nicht ernsthaft mit den systemischen Problemen auseinandersetzt, die Trumps Aufstieg überhaupt erst möglich machten, wird es auf Dauer dem Trumpismus, wenn nicht Donald Trump selbst verhaftet bleiben. Eine wirkliche Gesundung hängt deshalb entscheidend davon ab, ob wir das gesamte Problem genau in den Blick nehmen und verstehen und tiefgreifend intervenieren.
So sehen wir zum Beispiel zu häufig über die psychologischen Schäden hinweg, die sich aus sozialer Entbehrung und Not entwickeln. Seit 1987 steigt in den USA der Anteil des Bruttoinlandsprodukts, der an die Reichsten der USA geht. Seit 2014 besitzt das eine Prozent der Reichsten fast ein Fünftel des gesamten Volkseinkommens.
Diese Verhältnisse haben ein Klassensystem geschaffen, das die Bevölkerung in Überlegene und Unterlegene einteilt. Der größte Teil der Bevölkerung wird so auf einen Zustand der Minderwertigkeit heruntergedrückt, der ihre Würde angreift. Doch die Vereinigten Staaten bieten den Deklassierten eine Chance, sich überlegen zu fühlen: ein „Kastensystem“. Die Grundlage dafür sind unveränderliche Merkmale wie Hautfarbe, ethnische Zugehörigkeit oder Geschlecht.
Donald Trump gelang es, sich die traditionelle Rhetorik von der Überlegenheit der Weißen in den Vereinigten Staaten zunutze zu machen. Diese Form der Selbst-Idealisierung basiert darauf, dass andere – ob es sich nun um Schwarze, Latinos, Muslime oder Frauen handelt – herabgesetzt und auf diese Weise tiefsitzende Gefühle der eigenen Minderwertigkeit abgewehrt werden.
Die „ideale“ Anhängerschaft Donald Trumps besteht aus bedürftigen Menschen, die sich selbst nur dann als wertvoll empfinden, wenn sie sich mit Menschen verbinden, die sie aufgrund ihres Ansehens, ihrer Macht und ihres scheinbar grenzenlosen Erfolgs bewundern können. Ein Führer, der von sich sagt „Ich bin der Einzige, der das Problem lösen kann“, hat für solche Menschen eine hohe Anziehungskraft. Donald Trump gibt ihnen nicht nur ein Gefühl der Sicherheit, sondern auch das Gefühl, richtig und vollkommen zu sein; er verkörpert für sie das Ideal, mit dem sie sich identifizieren können, weil auch sie weiß und männlich sind.
Die „männliche Identität“ ist eine wichtige Quelle des Gefühls von Zugehörigkeit, und Trump machte sich das zunutze. Abgrenzung, Unterscheidung und das damit einhergehende Gefühl der Überlegenheit ist für traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit zentral. Die idealisierten Werte und Eigenschaften von Mut, Tapferkeit, Männlichkeit und Soldatentum sind kulturell tief verankert, und sie werden allesamt schlicht als „nicht weiblich“ definiert.
Vor diesem Hintergrund stellen sowohl die Frauenbewegung wie auch die Transgender-Bewegung eine besondere Bedrohung dar. Eine Bedrohung von Privilegien, die man bisher als naturgegeben betrachtet hatte, sowie einer „mythischen Vergangenheit“, in die man in unsicheren Zeiten nur allzu gern zurückkehren würde.
Weiße Vorherrschaft und männliche Überlegenheit sind kulturell bedingt und klar zu unterscheiden von ökonomischer Ungleichheit, jedoch besteht zwischen diesen beiden Faktoren eine starke Wechselwirkung, mehr noch: Die Vorstellungen von weißer Vorherrschaft und männlicher Überlegenheit bekommen aufgrund der extremen Geschwindigkeit, mit der die ökonomische Ungleichheit zunimmt, einen noch höheren Stellenwert.
Gewalt und Diskriminierung gegenüber Frauen zum Beispiel setzen sich auch deshalb fort, weil Männer Gefühle von Scham, Schmach und Schande abwehren können, solange sie ihren Überlegenheitsanspruch gegenüber Frauen aufrechterhalten. Hier gibt es eine Parallele zu der Haltung des ärmsten Teils der weißen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten, die ihre Armut nur deshalb halbwegs akzeptieren können, weil das System ihnen erlaubt, sich Menschen anderer Hautfarbe überlegen zu fühlen.
Ein „Führer“, der solche dysfunktionalen Bedürfnisse legitimiert, schafft Bindungen, aus denen Menschen sich nur schwer wieder lösen können – und die im Grunde nichts anderes sind als eine Missbrauchsbeziehung. Sektenmitglieder und Missbrauchsopfer sind emotional in die Beziehung verstrickt; sie sind selber deshalb nicht fähig zu erkennen, was für Außenstehende nur allzu offensichtlich ist: Wie schwer der ihnen zugefügte Schaden ist und wie groß die Gefahr nicht nur für ihre Persönlichkeit, sondern auch für ihre Gesundheit und für ihr gesamtes Leben, ja, dass selbst ihr Überleben auf dem Spiel steht.
Dauert dieser Zustand lange genug an, wird nicht nur das ungeheure Ausmaß des Betrugs, sondern werden auch ihre eigenen psychologischen Schutzmechanismen gegen Schmerz und Enttäuschung sie daran hindern, der Wahrheit ins Auge schauen. Abgesehen davon können Wahnvorstellungen oder krankhafte psychologische Dispositionen, sofern sie nicht in einem frühen Stadium erkannt und unter Kontrolle gebracht werden, sich in einer Gesellschaft festsetzen und dort ausbreiten. Störungen in der Gesellschaft werden zum Normalfall, sie werden legitimiert und vielleicht sogar glorifiziert.
Ist eine solche Krankheit erst einmal in der gesellschaftlichen Mitte angekommen, dann geht sie nicht mehr weg, sie gibt ihre Macht nicht so einfach auf. Und sobald falsche Überzeugungen sich einmal etabliert haben, haben Fakten oder logisches Denken keine Chance mehr.
Psychologischer Missbrauch ist ein machtvolles Instrument, er ist die vielleicht zerstörerischste Form von Missbrauch, weil er die Fähigkeit der Betroffenen zum kritischen Denken zersetzt. Wenn dies auf gesellschaftlicher Ebene passiert, ist es notwendig, dass Psychiater und Psychologen, die wissen, wie sich eine solche pathologische Dynamik entwickelt, aktiv eingreifen. Nur mit Hilfe von interdisziplinären gesundheitspolitischen Maßnahmen können wir diese „stille Pandemie“ einer um sich greifenden gesellschaftlichen Psychose eindämmen und unter Kontrolle halten.
Aus dem Amerikanischen: Irmela Köstlin
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