Der Westen glitzert und riecht nach Erdbeerkaugummi. Dachte die kleine Jördis, als sie sich in Ostberlin die Nase an den Fenstern der Intershops plattdrückte und mit begehrlichen Blicken die bunte Warenwelt aufsaugte, die ihr verwehrt war. Sie war zwölf, als die Mauer fiel, und bald wusste sie, dass das mit dem Glitzern so nicht stimmte. „Die Euphorie dauerte nur einen kurzen Moment. Dann kam die große Angst: Was kommt jetzt?“
Die Mutter, Requisiteurin am „Theater der Freundschaft“, verlor ihre Stelle. „Sie war dann lange arbeitslos und hat sehr darunter gelitten, nicht mehr gebraucht zu werden.“ Auch der Vater, ein Werkzeugmacher, wurde entlassen. Und die Lehrer, die
Jördis und ihren SchulkameradInnen noch vor ein paar Wochen verboten hatten, zu den Montagsdemos zu gehen, schrieen jetzt Hurra über die Wiedervereinigung. Und Jördis sah, als sie durch Kreuzberg stromerte, die ersten Bettler ihres Lebens. „Die Jahre nach der Wende waren eine Zeit totaler Verunsicherung“, erzählt Jördis Triebel, „und das prägt mich bis heute“.
Im Jahr 25 nach dem Mauerfall spielt die heute 37-Jährige nun in einer Verfilmung des autobiografischen Romans „Lagerfeuer“ von Julia Franck die Nelly Senff (Foto): eine Ostdeutsche, deren Desillusionierung über den „Westen“, so der Filmtitel, nicht größer sein könnte. 1978 reist Nelly mit ihrem kleinen Sohn Alexej aus der DDR aus. Nachdem ihr russischer Lebensgefährte (scheinbar?) bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, traktiert die Stasi die Trauernde. Sie stellt einen Ausreiseantrag. Zur Strafe muss die promovierte Chemikerin nun auf dem Friedhof arbeiten.
Der Film beginnt mit einer letzten Demütigung durch die DDR-Grenzbeamten: Nelly muss sich ausziehen und eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen. Dann rollt das Auto über die Grenze ins Westberliner Auffanglager für Ostflüchtlinge. Der erste Satz, den ihr eine Bedienstete dort entgegenbellt: „Ziehen Sie sich aus!“ – „Wie bitte?“ – „Ich muss sehen, ob Sie lagerfähig sind.“ Über ihren Wunsch, eine Stelle als Chemikerin zu bekommen, lächelt man milde. Und auch verhört wird sie wieder. Diesmal von CIA und BND. Denn der Vater ihres Kindes war ein hoher Wissenschaftler gewesen, der im kalten Krieg zwischen die Fronten geriet. War er wirklich tot? War er ermordet worden? Lebte er noch?
Wie Nelly um ihre Würde kämpft, obwohl der Westen in der tristen Containersiedlung so gar nicht golden ist, sondern bleigrau, das spielt Jördis Triebel mit dieser ihr eigenen Mischung aus Stärke und Verletzlichkeit. Der Film zeigt in beklemmender Weise, wie ähnlich sich die Systeme sind und wie die Menschen in ihnen zerrieben werden. Mit Regisseur Christian Schwochow hatte Triebel schon in Kindertagen am Prenzlauer Berg Pantomime-Kurse besucht. Nie wollte sie etwas anderes werden als Schauspielerin.
„Ich hab meine Hausaufgaben am Theater der Freundschaft gemacht, das war mein zweites Zuhause.“ Sie ging an die Ernst Busch-Schauspielschule und stellte fest, dass man sie schon mit 20 immer älter besetzte als sie war. Kein Gretchen, keine Julia. Dafür Hamlets Mutter Gertrud. Am Anfang war sie genervt. Aber schon bald wurde sie dafür „dankbar, weil diese Frauen viel mehr zu erzählen hatten. Die anderen haben ja gar keine Stimme und sie können auch nicht ausbrechen.“ Die wenigen Male, als sie doch das verführte Gretchen oder die suizidale Ophelia geben sollte, „konnte ich nix mit denen anfangen. Mein Gretchen wurde einfach nicht zart und zerbrechlich“.
Zerbrechlichkeit war Jördis, die mit drei Schwestern aufwuchs, nicht gewohnt von den Frauen ihrer Familie. „Das sind durchweg Feministinnen, die sich nie von Männern abhängig gemacht haben.“ Diese Beschreibung passt auch auf ihre Rolle als Emma. Mit ihr feierte Jördis Triebel 2006 ihren Durchbruch beim Film. Sie war gerade drei Jahre am Bremer Theater, da flatterte ihr ein Drehbuch auf den Tisch. Es handelte von einer Bäuerin, die mit ihren Schweinen schmust, bevor sie ihnen kurz und schmerzlos die Kehle durchschnitt, und die ihren bankrotten Hof mit der Flinte verteidigt. Unvergessen die Szene, in der Emma nach der Hochzeit im weißen Brautkleid den todkranken Max, gespielt von Jürgen Vogel, über die Schwelle trägt und der ihr über die Schulter kotzt.
„Ich fand jeden Satz, den diese Frau sagt, großartig“, schwärmt Triebel noch heute. „Ich habe das Drehbuch gelesen und dachte: Das kann nur ich!“ Für die Rolle machte sie ein Praktikum auf einem Bio-Bauernhof und sah sich Schlachthöfe an. Sie wurde Vegetarierin und für den Deutschen Filmpreis nominiert.
Sie ist seither abonniert auf die robusten, erdigen Rollen, manchmal auch die bitteren. Zum Beispiel die Trümmerfrau Bärbel, die in „Anonyma“ versucht, die Vergewaltigungen durch die Russen mit Würde zu überleben. Oder die Polizistin Maria Hernandez im „Kriminaldauerdienst“, die ihr Leben zwischen Tochter, Frust-Affären und Job nicht auf die Reihe kriegt. „Mich interessieren Charaktere, die kämpfen, die auf der Suche sind und die was mit dem Leben zu tun haben“, sagt Jördis Triebel.
Ihr eigenes Leben teilt sie mit dem Schauspieler Matthias Weidenhöfer, der “wahnsinnig stolz auf mich ist“, und den zwei gemeinsamen Söhnen. Jördis ist übrigens ein isländischer Name und heißt „Göttin des Schwerts“. Klingt irgendwie passend.