Paralympics 2024: Der Fall Petrillo

Valentina Petrillo bei den Paralympics. Foto: imago images/Zuma Press Wire
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Als zweite lief Valentina Petrillo über die Ziellinie, zwei Sekunden später als Aleandra Perez Lopez aus Venezuela. Petrillo, deutlich größer und kräftiger als ihre Kontrahentinnen, hat mit ihrer Teilnahme einen Präzedenzfall geschaffen. Und das wollte sie auch. „Ich will ein Symbol werden, eine Referenz, eine Inspiration. Meine Geschichte kann für viele nützlich sein“, sagte die Trans-Athletin den Medien im Vorfeld der Paralympics in Paris.

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Warum Petrillo bei den Frauen starten durfte, ist unbegreiflich

Petrillo leidet an der Stargardt-Krankheit, einer Netzhauterkrankung, und ist seit dem 14. Lebensjahr sehbehindert. Schon seit Jahrzehnten habe sie sich als Frau gefühlt, erzählt Petrillo in einer Dokumentation, die im Herbst in italienischen Kinos anlaufen soll. Mit neun Jahren habe sie die Kleidung ihrer Mutter anprobiert. Sie war schon als Kind ein talentierter Läufer, gab diese Leidenschaft aber in der Jugend auf. Doch sie schaffte es in die italienische Blinden-Nationalmannschaft der Männer im Fußball. Mit 41 Jahren kehrte sie auf die Tartanbahn zurück und gewann bei den Männern in drei Jahren elf nationale Para-Titel, da noch als Fabrizio. Mit 45 entschied sich Petrillo, „als Frau“ zu leben und begann Hormone zu nehmen.

Warum Petrillo bei den Frauen starten durfte, ist genauso unbegreiflich, wie die Teilnahme von Imane Khelif im Boxen (EMMA berichtete).

Valentina Petrillo mit anderen Athletinnen. Die Männer laufen als Guides mit. Foto: PanoramiC imago
Valentina Petrillo mit anderen Athletinnen. Die Männer laufen als Guides mit. Foto: PanoramiC imago

Denn: Der internationale Leichtathletikverband hat Trans-Athleten, die die männliche Pubertät durchlaufen haben, die Teilnahme bei den Frauen ausdrücklich verboten. Zu groß seien die Leistungsvorteile, von Wettbewerbsverzerrung und dem Schutz der „weiblichen Kategorie“ war die Rede. Die intersexuelle südafrikanische Mittelstrecken-Sprinterin Caster Semenya durfte nicht an Olympia teilnehmen.

Warum also hat der Leichtathletikverband der Para-AthletInnen, World Para Athletics, nicht die gleiche Regelung übernommen? Wo ist der Unterschied? Andrew Parson, der Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC = Pendant zum IOC), sagte in Bezug auf Petrillo: „Dies ist ein wichtiges Symbol der Inklusion.“

„Was ist mit den Frauen? Warum darf Inklusion auf ihre Kosten gehen? Frauen haben lange für ihr Dasein im Leistungssport gekämpft! Das gilt für behinderte Sportlerinnen umso mehr. Und nun sollen sie still beiseite rücken?“ fragten prompt Spanierinnen aus über 40 Organisationen in Protestbriefen und auf Social Media.

Weil Petrillo die Spanierin Melani Bergés bei den Weltmeisterschaften 2023 überholte, konnte diese sich nicht für die Paralympics qualifizieren. „Und wieder muss eine Frau auf ihren Traum verzichten, damit eine Transfrau ihren verwirklichen kann!“ Oder: „Wir Frauen sollen empathisch gegenüber Transfrauen sein. Aber wo bleibt ihre Empathie für uns?“ hieß es von den spanischen Feministinnen.

Verschiedene nationale und internationale Frauenverbände und NGOs hatten sich offiziell an das spanische Paralympische Komitee gewandt und wollten Petrillos Platz anfechten. Auch in Italien, Petrillos Heimat, hagelte es Proteste. Die Rechtsanwältin Fausta Quilleri schickte eine Petition, unterzeichnet von 30 AthletInnen, an die Ministerien für Chancengleichheit und Sport. Quilleri: „Die körperliche Überlegenheit von Petrillo ist so offensichtlich, dass sie den Wettbewerb unfair macht!“

Diese deutliche Unfairness – wobei Olympia sich Fairness als oberste Maxime auf die Fahne schreibt – betont auch der Sportphysiologe Tommy Lundberg, der bereits im Fall Khelif deutliche Worte fand: „Die männliche Pubertät sollte das Hauptkriterium für die Teilnahmeberechtigung sein.“ Denn wer diese durchlaufen habe, habe nun mal deutliche Vorteile in der Anatomie, im Lungenvolumen, in der Muskelmasse etc. Daran ändere auch eine Hormontherapie nichts. Von gleichen Voraussetzungen kann also keine Rede sein.

DBS: Die Freiheit Einzelner darf nicht zu einer Benachteiligung Anderer führen!

Die paralympische Bewegung betrachtet sich eigentlich als Netzwerk gegen die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen. Über die Benachteiligung von Frauen durch Trans-Athletinnen wurde scheinbar noch nicht zu Ende gedacht.  Der Deutsche Behindertensportverband (DBS) sagt dazu: "Die Freiheit Einzelner darf nicht zu einer Benachteiligung Anderer führen.“ Der Verband erteilt einen klaren Auftrag an die sportlichen Entscheider: „Der DBS fordert die internationalen Sportverbände auf, Kriterien zu erlassen, die einen verlässlichen und validen Indikator darstellen, um niemanden zu benachteiligen oder zu bevorteilen.“

Dies ist mit der Teilnahme Petrillos nun aber bereits geschehen. So wie es auch im Fall Imane Khelif und Lin Yu-Ting im Boxen geschehen ist. Die beiden einzigen intersexuellen Boxer der Spiele holen beide Gold. Beide schlagen jede ihrer Gegnerinnen zu Null. Keine der Gegnerinnen hatte auch nur den Hauch einer Chance. Die Italienerin Angela Carini brach den Kampf nach 46 Sekunden ab, weil sie Angst vor einer großen Verletzung hatte. Sie sei „noch nie so hart geschlagen worden“, sagte sie. Als Lin Yu-ting Svetlana Staneva im Viertelfinale nach drei Runden mit fünf zu null besiegte, formte Staneva ein X mit den Zeigefingern – eine Geste des stillen Protests, um klarzustellen, dass hier eine Frau mit einem Mann kämpft. In den Medien wurde sie "homophob" genannt und in die rechte Ecke gestellt.

In Paris hat sich Sebastian Coe zu Wort gemeldet, der Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes, der auch den Fall Semenya auf dem Tisch hatte. Er appellierte an das IOC sowie die Sportverbände: „Schützen Sie die Frauenkategorie. Denn tun Sie das nicht, wird niemals wieder eine Frau ein Sportevent gewinnen.“

Tipp: Eine augenöffnende Recherche zum Fall Khelif und Yu-Ting lieferte die "Süddeutsche Zeitung" in dem Beitrag „XY ungelöst“

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