Stellen wir uns vor, wir schalten in diesem Superwahljahr 2017 eines Abends die Tagesschau an und Jens Riewa verliest folgende Nachricht: „Der Deutsche Bundestag hat heute ein neues Wahlgesetz verabschiedet. Es verpflichtet alle Parteien, ihre Wahllisten abwechselnd mit einer Frau und einem Mann zu besetzen. Mit dem so genannten Paritäts-Gesetz folgt Deutschland acht weiteren europäischen Ländern, die mit einem solchen Gesetz den Frauenanteil in kommunalen, Landes- und Bundesparlamenten gemäß ihrem Bevölkerungsanteil auf bis zu 50 Prozent erhöht haben.“
Kann das denn wahr sein? Es könnte! Denn ein Fakt in dieser (Noch)Fake News stimmt. Tatsächlich haben Frankreich, Spanien, Slowenien und fünf weitere Länder in Europa längst Wahlgesetze, die die Parteien verpflichten, ihre Wahllisten zu gleichen Teilen mit weiblichen und männlichen Kandidaten zu besetzen. In Deutschland aber nicht. Deshalb hat das „Aktionsbündnis Parité in den Parlamenten“, bestehend aus 126 Klägerinnen (und fünf Klägern), am 30. November 2016 Klage beim Bayerischen Landesverfassungsgericht eingereicht. Die RichterInnen müssen jetzt überprüfen, ob zutrifft, was schon Elisabeth Selbert, die Mutter des Grundgesetzes, im Jahr 1981 beklagt hatte: „Die mangelnde Heranziehung von Frauen zu öffentlichen Ämtern und ihre geringe Beteiligung in den Parlamenten ist schlicht Verfassungsbruch in Permanenz.“ Sollte das Verfassungsgericht das im Jahr 2017 bestätigen, wäre das nichts weniger als das Ende der bleiernen Männermehrheiten in Stadträten, Landtagen und im Bundestag.
Das würde das Wahlrecht revolutionieren!
Dabei schneidet der Bundestag noch am besten ab: Mehr als jeder dritte Abgeordnete (37 Prozent) im Berliner Reichstag ist weiblich. Ein Blick auf den Frauenanteil der einzelnen Parteien zeigt allerdings: Während Grüne und Linke dank Frauenquoten sogar mehr Frauen als Männer ins Parlament schicken und die SPD mit 42 Prozent sich immerhin in greifbarer Nähe zum Fifty/Fifty befindet, dümpeln CDU/CSU noch bei 25 Prozent weiblichen Abgeordneten vor sich hin. Und wäre die FDP 2013 nicht aus dem Bundestag geflogen, hätte das die männliche Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag nochmal deutlich gehoben: Die Boygroup um Philipp Rösler hatte stolze 83 Prozent männliche Kandidaten ins Rennen geschickt.
In den Landtagen allerdings sitzen schon nur noch durchschnittlich 32 Prozent Frauen, Schlusslicht ist Baden Württemberg mit 24 Prozent. In der Kommunalpolitik wird es noch ärger. Die Politik in den Stadträten wird von einer satten Drei-Viertel-Männermehrheit gemacht. Und bei den Stadtspitzen rasen wir sogar auf die 100 Prozent zu: 96 Prozent der hauptamtlichen Bürgermeister sind männlich!
Doch nun bläst also ein breites Bündnis vom „Katholischen Deutschen Frauenbund“ bis zum „Landesfrauenrat Schleswig-Holstein“ zum Sturm auf die Männerbündelei in den Volksvertretungen. Die Keimzelle des Widerstands sitzt in Bayern, genauer gesagt beim Münchner „Verein für Fraueninteressen“.
Frankreich hat seit 2000 ein Paritäts-Gesetz
Renitenz hat dort eine ehrwürdige Tradition. Seit 1894 setzt sich der Verein, gegründet auf dem Höhepunkt der Ersten Frauenbewegung, dafür ein, Frauen „Bildungschancen, gesellschaftliche und staatsbürgerliche Rechte zu schaffen“. Und die Vereinsvorsitzende Christa Weigl-Schneider sieht Grund, weiter zu kämpfen: „Wenn da so eine geballte Männermacht die Entscheidungen trifft, dann werden diese Entscheidungen schlicht frauenfeindlich“, sagt die Rechtsanwältin für Familienrecht. Außerdem: „Wir hätten mit der Hälfte Frauen eine ganz andere politische Kultur. Die könnten dann zum Beispiel mitbestimmen, wann die Sitzungen stattfinden. Nicht erst am Abend, wenn Papa zum Ausschusstreffen geht und Mama auf die Kinder aufpasst.“
Nun begab es sich, dass die Juristin Weigl-Schneider im November 2012 bei einer Veranstaltung des Bayerischen Landesfrauenrates zur „Unterrepräsentanz von Frauen in den politischen Entscheidungsgremien“ auf eine andere Juristin traf, der das Problem schon länger unter den Nägeln brannte: Silke Laskowski. Die Jura-Professorin an der Universität Kassel hatte schon mehrere Gutachten zum Thema verfasst. Ergebnis: Die deutschen Wahlgesetze verstoßen gegen gleich mehrere Verfassungsartikel. Denn schließlich sind Männer und Frauen bekanntlich vor dem Gesetz gleichberechtigt. Aber das ist nur der erste Teil des berühmten Artikel 3 des Grundgesetzes. Wackere und weitsichtige Juristinnen, darunter die verstorbene Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach, hatten 1994 den Zusatz erkämpft: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“
Das bedeutet, so Juristin Laskowski, dass der Staat eben die Parteien per Gesetz daran hindern müsse, „im Vorfeld der Wahl männliche Kandidaten aufgrund seit Jahrzehnten verfestigter, maskulin geprägter Strukturen zu bevorzugen.“ Tut er das nicht, werde er seinem Verfassungsauftrag nicht gerecht. Denn außerdem heißt es in Artikel 20 des Grundgesetzes: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Wenn aber die Mehrheit dieses Volkes, sprich: die Bürgerinnen, in den Parlamenten gar nicht angemessen repräsentiert sind, führe das zu einem „eklatanten Mangel an demokratischer Legitimation“.
Die SPD bekam Ärger von ihren Frauenverbänden
Was passiert, wenn dieser Mangel beseitigt ist, zeigt das Beispiel Frankreich. Das Nachbarland hatte schon im Jahr 2000 ein Parité-Gesetz eingeführt. Wahllisten, die nicht Frauen und Männer nach dem Reißverschlussprinzip oder paarweise nominieren, werden seither nicht mehr angenommen. Resultat: In den Stadt- und Gemeinderäten, in den Departement-und den Regionalräten saßen im Jahr 2016 zur Hälfte weibliche und männliche Abgeordnete. Einzige Ausnahme: die Nationalversammlung.
Statt des Reißverschlussprinzips verdonnert das französische Parité-Gesetz Parteien, die nicht paritätisch nominieren, zu Strafzahlungen. Immerhin stieg aber durch diesen Druck der Frauenanteil im französischen Parlament von zehn auf heute 26 Prozent. Und das hat Folgen: Ein Entgeltgleichheitsgesetz, zu dem sich Deutschland erst gerade hat durchringen können, hat Frankreich schon seit 2006. Ein Gesetz zur Frauenquote in Führungspositionen der Privatwirtschaft wurde 2011 verabschiedet. Motto: Liberté, Égalité, Parité!
Das Beispiel Frankreich straft all diejenigen Lügen, die behaupten, es gäbe halt keine passenden Frauen, die sie auf ihre Wahllisten setzen könnten. „Das ist eine reine Schutzbehauptung“, sagt Silke Laskowski. „Auch in Frankreich gab es dieses Gejammer. Und was ist passiert? Natürlich haben die Parteien Frauen gefunden! Frauen, die man vorher gar nicht finden wollte.“
Ende November 2016, pünktlich zum 70. Jahrestag der Bayerischen Landesverfassung, reichte das Parité-Bündnis die von Juristin Laskowski formulierte Klage beim Bayerischen Landesverfassungsgericht ein. Warum dort? Weil Bayern als einziges Bundesland ein zutiefst demokratisches Instrument kennt: die Popularklage. Jeder bayerische Bürger und jede Bürgerin kann überprüfen lassen, ob ein Gesetz gegen die Landesverfassung verstößt. Die Prüfung läuft.
Vorab nahm der Bayerische Landtag schon mal Stellung zu einem potenziellen Paritätsgesetz. Mit Ausnahme der Grünen waren alle dagegen: CSU, SPD und Freie Wähler. Das gab Ärger. Vor allem in der SPD, der ihre Frauenverbände aufs Dach stiegen. Die Genossen ruderten also heftig zurück und kündigten an, demnächst ein paritätisches Wahlgesetz einbringen zu wollen. Auch die Freien Wähler (Männeranteil: 85 Prozent) schwenkten um, nachdem sie in der Landtagsdebatte die Argumente der Parité-BefürworterInnen gehört hatten.
Die CSU aber hält weiterhin am männerdominierten Status Quo fest. Und da sie mit absoluter Mehrheit regiert, können Seehofer & Co. nun also nur noch vom Bayerischen Verfassungsgericht eines Besseren belehrt werden.
„Die ganze Republik schaut auf die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichts“, sagt Silke Laskowski. „Gibt das unserer Klage statt, würde das das gesamte Wahlrecht in Deutschland revolutionieren!“
Wir dürfen gespannt sein. Allerdings: Das Bayerische Verfassungsgericht ist zu 80 Prozent mit Männern besetzt. Grund zur Klage?
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