Gender-Studies: Drei Professorinnen antworten in EMMA
Paula-Irene Villa: Pauschalisierung schafft nur Pappkameraden
Den einen sind die Gender Studies zu politisch, den anderen nicht politisch genug. Den einen ist das ‚Gendergaga‘ an den Unis seit einiger Zeit suspekt, da angeblich unter dem Deckmantel von Wissenschaft ideologische Indoktrination stattfände. Die anderen bemängeln, die Gender Studies interessieren sich schon lange nicht mehr für die realen Ungleichheiten, Gewaltdynamiken und Unterdrückungsverhältnisse zwischen Männern und Frauen. Sie seien vielmehr elitäres Glasperlenspiel im akademischen Elfenbeinturm, ein Biotop gut verdienender Berufsverkomplizierinnen, die sich auf sprachliche PC kaprizieren. (...)
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Den einen sind Gender Studies und Gender Mainstreaming gleich, beides wird als Gängelung durch die bürokratische Krake der EU wahrgenommen und darum mit Begeisterung gehasst. Die anderen stört wiederum der Mangel an politischer Wirksamkeit der Gender Studies.
Was nun, Gender Studies: zu politisch oder zu wenig? Zu viel politischer Realismus oder zu viel konstruktivistisch-queere-intersektionale-sprachfixierte-popaffine Spinnerei? Was debattieren eigentlich seit Monaten so aufgeregt die Feuilletons, die Magazine wie EMMA und Missy Magazine; was wird in den Social Media Threads so vehement gedisst und gelikt?
Seit 1994 befasse ich mich mit dem, was heute Gender Studies benannt wird. Das bedeutet auch, zunächst ratlos vor der Versämtlichung zu stehen, die sich mit dieser Bezeichnung in den Medien verbindet. Denn aus der Binnenwarte des forschenden und lehrenden Alltags sind die Gender Studies gar kein Ding an sich. Dabei ist schon klar, dass die Medienlogik immer etwas grobkörniger daherkommt, als wir es aus der feinstpixeligen Welt der Wissenschaft schätzen. Doch die Pauschalisierung, die sich durch die meisten angeblich kritischen Beiträge zu den Gender Studies zieht, ist kein verzichtbares Genre-Detail. Sie ist vielmehr eine Pauschalisierung, die Pappkameraden baut, um sie dann diffamieren zu können. Das ist das Gegenteil von Kritik.
Die Gender Studies gibt es so nicht. Jedenfalls nicht als homogene Sache, und auch nicht als klare institutionelle Struktur. Heute gibt es in Deutschland zirka 152 Professuren, die sich ausdrücklich ganz oder teilweise mit Geschlechterforschung bzw. Gender Studies (und/oder Frauenforschung in wenigen Fällen) befassen. Diese sind in fast allen Fällen einer etablierten Disziplin zugeordnet, zum Beispiel der Sozialarbeit, Humanmedizin oder Germanistik. Das macht insgesamt 0,5 Prozent aller Professuren. Dieser Anteil ist übrigens seit dem Jahr 2000 gleich.
Nun gibt es darüberhinaus – je nach Disziplin variabel – viele Forschende und Lehrende an Hochschulen und Unis, die (teilweise) in den Gender Studies arbeiten, ohne diesen Stempel auf ihrer Stellenbeschreibung zu tragen. Des Weiteren gibt es in Deutschland eine Fülle von Zentren für Gender Studies. Studieren lassen sich Gender Studies an sehr wenigen Orten in Deutschland, jedenfalls als Hauptfach mit eigenem Abschluss. Seit 2010 gibt es eine wissenschaftliche Fachgesellschaft „Geschlechter Studien“, die zirka 400 Mitglieder hat.
Das ist also im Groben die institutionelle Situation, in der sich die Gender Studies als Forschungs- und akademische Lehrkonstellation bewegen. Wir könnten hier gleich wieder aufhören, das ganze Thema zu diskutieren, schon überhaupt in der üblich gewordenen Lautstärke. Denn so richtig wichtig ist dieses Feld zahlenmäßig schlichtweg nicht. 0,5 Prozent aller Professuren nehmen niemandem was weg, sie machen keinen akademischen Kohl fett – einen politischen erst recht nicht. Tatsächlich entwickelten sich die in sich heterogenen, amorph anmutenden ‚gender studies‘ aus der Frauenforschung heraus. Dieser Übergang ist ein Politikum. Für einige ist dies das Problem, für andere der Beginn seiner Überwindung. Die politisierbare und tatsächlich politische Pointe dieser begrifflichen Verschiebung (von Frau zu Gender) besteht in der empirisch fundierten und theoretisch elaborierten Dezentrierung der Kategorie ‚Frau‘. Der Gender-Begriff ist, obacht, ein post-essentialistischer. Das meint: Es gibt keine Essenz, also weder ein außersoziales Faktum, noch die eine soziale Erfahrung, die das Frau-Sein verbindlich und abschließend definieren kann.
Sich mit der Tatsache zu befassen, dass eine solche Essenz aber historisch immer wieder neu entdeckt oder behauptet wurde, das ist ein wichtiger Teil der Gender Studies selbst: Gebärmutter, Ganzheitlichkeit, Gewaltlosigkeit oder Gene sind nur einige dieser Eigentlichkeiten des Frau-Seins. Sie haben sich alle als variabel, partiell, uneindeutig oder schlicht unsinnig herausgestellt. Und zwar nicht nur nach methodisch kontrollierter wissenschaftlicher Prüfung, sondern auch und insbesondere aufgrund der schlichten Anerkennung der tatsächlichen Vielfalt und Varianz dessen, was ‚Frauen‘ oder ‚Weiblichkeit‘ sein können.
Das hat im Übrigen mit dem Leugnen der Natur – eine häufige Unterstellung an die Gender Studies, die übersieht, dass es naturwissenschaftliche Geschlechterforschung gibt – nichts zu tun. Wohl aber mit deren kritischer (und forschender) Infragestellung dessen, was genau etwa „xx“ für Frau-Sein bedeutet. Das kann man urfeministisch finden, das lässt sich übrigens bei Alice Schwarzer nachlesen. Das kann man aber auch als forschend-nüchterne Frage an die Geschichte der Genetik formulieren. Ganz jenseits feministischer Absichten oder Vorannahmen. Um es klar zu sagen: Die Gender Studies sind ein wissenschaftliches Feld und also dem Wissen, nicht der Politik verpflichtet. Mit diesem Wissen lässt sich aber Politik machen.
Der Gender-Begriff beinhaltet also die Einsicht, dass die Geschlechterdifferenz, das Geschlechtliche als soziale Struktur und die Geschlechtlichkeit auf der individuellen Ebene auch (!) sozial gemacht ist. Der Gender-Begriff beinhaltet auch, dass die Einteilung in männlich/weiblich genau das ist, nämlich eine Einteilung. Und die ist je nach historischem Zeitpunkt, regionalem Kontext, individueller Erfahrung oder Genre – ob Sport, Belletristik oder Pharmakologie – variabel. Damit wird nicht und schon gar nicht zwingend geleugnet, dass Geschlechtlichkeit auch (!) eine biologische Dimension hat. Aber zurückgewiesen wird doch, darin sind sich die Gender Studies über alle Disziplinen hinweg einig, dass die Relevanz und Form von Geschlechtlichkeit – etwa Frau/Mann – einzig von Chromosomen, der Gebärmutter oder Hormonpegeln determiniert wird.
In den ‚Gender Studies‘ bezeichnet der Begriff gender also, verdichtet formuliert, eine von Menschen in historischen Prozessen gemachte, verobjektivierte soziale Differenz, die überdies mit anderen Differenzen (wie Klasse/Schicht, Sexualität, Alter usw.) verschränkt ist. Anders gesagt: Menschen sind nie nur Männer oder Frauen, sondern in ihrer Männlichkeit oder Weiblichkeit – und in den Formen dazwischen oder jenseits – klassenspezifisch situiert, von ihrem Alter geprägt, ethnisch bzw. rassisch oder körperlich zum Beispiel als behindert markiert. Das ist vieles auf einmal, ja. Doch so komplex ist die empirische Wirklichkeit, so differenziert müssen wir auch forschend vorgehen.
Das Gender-Paradigma stammt nun weder aus der Feder von Judith Butler noch ist sie irgendwie postmodern, wie jüngst hier und da erstaunlicherweise behauptet wird. Auch wenn es nicht falsch ist, dass Judith Butler und ihre Theorie für die Gender Studies seit den 1990er Jahren außerordentlich wichtig sind, so ist der „gender“-Begriff tatsächlich in den 1970ern durch den Soziologen Erving Goffman formuliert worden. Er schrieb in seinen empirischen Analysen vom „genderism“ als sozialer Struktur, als mächtigem Deutungsrahmen für alltägliche Praxis.
In den Gender Studies wird das als Naturalisierungskritik gemacht, das heißt als Analyse derjenigen Redeweisen, Wissensformen, Praxen und Politiken, die die großen Unterschiede – etwa zwischen Gewalterfahrungen von Männern und Frauen, die entsprechende Altersarmut oder die Darstellung von Mädchen in der Werbung – aus dem vermeintlichen kleinen Unterschied ableiten. Alles aber jenseits dieser nicht mal von ernsthafter Naturwissenschaft propagierten biologistischen Zwangslogik muss genauer geprüft und differenziert betrachtet werden. Das tun die Gender Studies. Also: Um welche Gewalt gegen wen geht es wo genau wann? Welche Menschen sind aus welchen Gründen genau arm im Alter? Wie sind denn die Darstellungen von Mädchen in welchen Medien in welchen Teilen der Welt genau wie?
Dann landet man unweigerlich dort, wo der common sense mancher, aber nicht aller ist – und wo die einfache politische Logik nicht sein will: Bei der Komplexität der sozialen Verhältnisse, dem Eigensinn von Personen, der Eigenlogik verschiedener Sphären, der Kontextabhängigkeit von sozialen Wirklichkeiten. Es sind eben nicht alle Frauen arm oder alle Männer in der Unikarriere erfolgreich, es sind nicht alle Frauen weltweit gleichermaßen von Gewalt betroffen oder auch nur bedroht, es zeigen auch nicht alle Formate im Fernsehen süße Passivprinzesschen.
Diese und viele weitere Befunde der empirischen Forschung zeigen eines: ‚Die‘ Frauen oder ‚die‘ Männer gibt es schon, aber eben ‚nur‘ als Phantasma, als rhetorische Konstruktion, als Abstraktion. Eine überaus wirkmächtige und ökonomisch, juristisch, psychologisch und emotional wichtige Abstraktion, in der Tat. Das muss nicht immer dramatisch oder relevant sein. Kann es aber. Und ist es oft.
Auch damit befassen sich viele Studien in den Gender Studies: Wann wird von wem wie in welchem Kontext die Geschlechterdifferenz ‚aktiviert‘ – zum Beispiel bei Personalentscheidungen in Betrieben, bei Integrationsmaßnahmen für geflüchtete Menschen, bei Operninszenierungen, im OP? Manche Kollegen kommen dabei zu dem Befund: Nicht überall, wo im alltäglichen Sinne Männer und Frauen erkennbar sind bzw. wären, spielt das überhaupt eine Rolle. Wir können durchaus vom Geschlecht absehen. An vielen Stellen wiederum spielt es weitaus mehr eine Rolle, als viele gemeinhin meinen. Meist spielt die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht eine wichtige, aber diffuse Rolle. Dabei aber nicht an und für sich, allein, abgelöst von allem anderen. Klassenzugehörigkeit, Sexualität, Alter usw. spielen eine nicht nur zusätzliche Rolle, sondern prägen die Form und Bedeutung der Geschlechtlichkeit selbst mit.
Das ist übrigens – Ironie der geschichtsvergessenen Gegenwart? – die Grunderfahrung, von der vielerlei feministische Aktivitäten und Kämpfe, ja auch trennende und schmerzhafte Konflikte ausgingen.
„Ain’t I a woman?“, fragte Sojourner Truth bereits 1851. Sie stellte einer Versammlung von Frauenrechtlerinnen in den USA diese Frage, und brachte dabei ihre Erfahrungen als schwarze Sklavin, die ausgepeitscht worden war, körperlich geschuftet und Kinder geboren hatte, in Anschlag. Ein Frau-Sein, das sich drastisch von den Erfahrungen und Annahmen der Weiblichkeit unterschied, welche die weißen, bürgerlichen Frauen im Saal für das Allgemeine hielten. ‚Ain’t I a woman‘, fragten sinngemäß die lesbischen Frauen, die sich in die zweite Frauenbewegung einbrachten. Und die schwarzen, feministischen Aktivistinnen wie zum Beispiel bell hooks.
Diese Frage ist bis heute virulent geblieben und die forschende Auseinandersetzung damit zeigt: Die Frauen, auch die Frauenemanzipation sind nur scheinbar je ein Ding. Weil die empirische Wirklichkeit so schlicht binär – Frauen/Männer, Herrscher/Unterdrückte – eben nicht ist. Das ist keine Erfindung von Akademikerinnen, die vom Leben der ‚kleinen‘ Frauen an den Drogeriemarkt-Kassen keine Ahnung haben. Denn: Ist diese Kassiererin schwarz und lebt in Haiti, wird ihre Weiblichkeit und deren Folgen hinreichend anders sein als bei der Kassiererin, die lesbisch, christlich und aus Äthiopien stammend in Oslo arbeitet. Die Liste der spezifischen Positionierungen ließe sich lange fortsetzen. Allerdings nicht, weil wir in den Gender Studies aus purer Lust an der Freude die Welt zersplittern wollen. Sondern weil die sozialen Verhältnisse komplex sind.
Und komplex ist auch das, was Menschen daraus machen. Diese Komplexitätsorientierung ist womöglich auch mitverantwortlich dafür, dass in den Gender Studies (zu?) wenig, (zu?) zaghaft über zum Beispiel religiösen Fundamentalismus geforscht wird. Dass zu wenig hingeschaut wird auf frauen- oder LGBTTQI-feindliche Traditionen und Praxen in muslimisch geprägten Kontexten. Dass nicht hinreichend ausgelotet wird, wie Migration, Islam, Sexismus oder Homophobie sich konkret auch hierzulande manifestieren. Das kann sein. Allerdings: Es gibt durchaus Forschung zu diesen Fragen. Zugleich: Da geht noch mehr. Da wird auch mehr kommen. Wesentlich wird es dabei sein, pauschale Großkategorien – „die Muslime“, „die arabische Kultur“, „der Islam“, „die Deutschen“ usw. – zugunsten präziser empirischer Arbeit zurückzuweisen.
Formen zu finden, die reflexive Auseinandersetzungen jenseits des Pöbelns und diesseits des Ernstnehmens entwickeln, das ist an uns allen. Auch in dem, was wir schreiben – ob ich hier, andere Autoren in anderen Magazinen oder Sie, liebe Leser_in, im Facebook Thread.
Paula-Irene Villa
Die Autorin ist Professorin für Soziologie und Gender Studies an der Ludwig-Maximilians-Universität München.