Gender-Studies: Drei Professorinnen antworten in EMMA

Claude Cahun, Selbstporträt 1928, Sammlung Musée des Beaux-Arts, NAntes
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Paula-Irene Villa: Pauschalisierung schafft nur Pappkameraden

Den einen sind die Gender Studies zu politisch, den anderen nicht politisch genug. Den einen ist das ‚Gendergaga‘ an den Unis seit einiger Zeit suspekt, da angeblich unter dem Deckmantel von Wissenschaft ideologische ­Indoktrination stattfände. Die anderen bemängeln, die Gender Studies interessieren sich schon lange nicht mehr für die realen Ungleichheiten, Gewaltdynamiken und Unterdrückungsverhältnisse zwischen Männern und Frauen. Sie seien vielmehr elitäres Glasperlenspiel im akademischen Elfenbeinturm, ein Biotop gut verdienender Berufsverkomplizierinnen, die sich auf sprachliche PC kaprizieren. (...)

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Den einen sind Gender Studies und Gender Mainstreaming gleich, beides wird als Gängelung durch die bürokratische Krake der EU wahrgenommen und darum mit Begeisterung gehasst. Die anderen stört wiederum der Mangel an politischer Wirksamkeit der Gender Studies.

Was nun, Gender Studies: zu politisch oder zu wenig? Zu viel politischer Realismus oder zu viel konstruktivistisch-queere-­intersektionale-sprachfixierte-popaffine Spinnerei? Was debattieren eigentlich seit Monaten so aufgeregt die Feuilletons, die Magazine wie EMMA und Missy Magazine; was wird in den Social Media Threads so vehement gedisst und gelikt?

Seit 1994 befasse ich mich mit dem, was heute Gender Studies benannt wird. Das bedeutet auch, zunächst ratlos vor der Versämtlichung zu stehen, die sich mit dieser Bezeichnung in den Medien verbindet. Denn aus der Binnenwarte des forschenden und lehrenden Alltags sind die Gender Studies gar kein Ding an sich. Dabei ist schon klar, dass die Medien­logik immer etwas grobkörniger daherkommt, als wir es aus der feinstpixeligen Welt der Wissenschaft schätzen. Doch die Pauschalisierung, die sich durch die meisten angeblich kritischen Beiträge zu den Gender Studies zieht, ist kein verzichtbares Genre-Detail. Sie ist vielmehr eine Pauschalisierung, die Pappkameraden baut, um sie dann diffamieren zu können. Das ist das Gegenteil von Kritik.

Die Gender Studies gibt es so nicht. ­Jedenfalls nicht als homogene Sache, und auch nicht als klare institutionelle Struktur. Heute gibt es in Deutschland zirka 152 Professuren, die sich ausdrücklich ganz oder teilweise mit Geschlechterforschung bzw. Gender Studies (und/oder Frauenforschung in wenigen Fällen) befassen. Diese sind in fast allen Fällen einer etablierten Disziplin zugeordnet, zum Beispiel der Sozialarbeit, Humanmedizin oder Germanistik. Das macht insgesamt 0,5 Prozent aller Professuren. Dieser Anteil ist übrigens seit dem Jahr 2000 gleich.

Nun gibt es darüberhinaus – je nach Disziplin variabel – viele Forschende und Lehrende an Hochschulen und Unis, die (teilweise) in den Gender Studies arbeiten, ohne diesen Stempel auf ihrer Stellenbeschreibung zu tragen. Des Weiteren gibt es in Deutschland eine Fülle von Zentren für Gender Studies. Studieren lassen sich Gender Studies an sehr wenigen Orten in Deutschland, jedenfalls als Hauptfach mit eigenem Abschluss. Seit 2010 gibt es eine wissenschaftliche Fachgesellschaft „Geschlechter Studien“, die zirka 400 Mitglieder hat.

Das ist also im Groben die institutionelle Situation, in der sich die Gender Studies als Forschungs- und akademische Lehrkonstellation bewegen. Wir könnten hier gleich wieder aufhören, das ganze Thema zu diskutieren, schon überhaupt in der üblich gewordenen Lautstärke. Denn so richtig wichtig ist dieses Feld zahlenmäßig schlichtweg nicht. 0,5 Prozent aller Professuren nehmen niemandem was weg, sie machen keinen akademischen Kohl fett – einen politischen erst recht nicht. Tatsächlich entwickelten sich die in sich hetero­genen, amorph anmutenden ‚gender studies‘ aus der Frauenforschung heraus. Dieser Übergang ist ein Politikum. Für einige ist dies das Problem, für andere der Beginn seiner Überwindung. Die politisierbare und tatsächlich politische Pointe dieser begrifflichen Verschiebung (von Frau zu Gender) besteht in der empirisch fundierten und theoretisch elaborierten Dezentrierung der Kategorie ‚Frau‘. Der Gender-­Begriff ist, obacht, ein post-essentialistischer. Das meint: Es gibt keine Essenz, also weder ein außersoziales Faktum, noch die eine soziale Erfahrung, die das Frau-Sein verbindlich und abschließend definieren kann.

Sich mit der Tatsache zu befassen, dass eine solche Essenz aber historisch immer wieder neu entdeckt oder behauptet wurde, das ist ein wichtiger Teil der Gender Studies selbst: Gebärmutter, Ganzheitlichkeit, Gewaltlosigkeit oder Gene sind nur einige dieser Eigentlichkeiten des Frau-Seins. Sie haben sich alle als variabel, partiell, uneindeutig oder schlicht unsinnig herausgestellt. Und zwar nicht nur nach methodisch kontrollierter wissenschaftlicher Prüfung, sondern auch und insbesondere aufgrund der schlichten ­Anerkennung der tatsächlichen Vielfalt und Varianz dessen, was ‚Frauen‘ oder ‚Weiblichkeit‘ sein können.

Das hat im Übrigen mit dem Leugnen der Natur – eine häufige Unterstellung an die Gender Studies, die übersieht, dass es naturwissenschaftliche Geschlechterforschung gibt – nichts zu tun. Wohl aber mit deren kritischer (und forschender) Infragestellung dessen, was genau etwa „xx“ für Frau-Sein bedeutet. Das kann man urfeministisch finden, das lässt sich übrigens bei Alice Schwarzer nachlesen. Das kann man aber auch als forschend-nüchterne Frage an die Geschichte der Genetik formulieren. Ganz jenseits feministischer ­Absichten oder Vorannahmen. Um es klar zu sagen: Die Gender Studies sind ein wissenschaftliches Feld und also dem Wissen, nicht der Politik verpflichtet. Mit diesem Wissen lässt sich aber Politik machen. 

Der Gender-Begriff beinhaltet also die Einsicht, dass die Geschlechterdifferenz, das Geschlechtliche als soziale Struktur und die Geschlechtlichkeit auf der individuellen Ebene auch (!) sozial gemacht ist. Der Gender-Begriff beinhaltet auch, dass die Einteilung in männlich/weiblich genau das ist, nämlich eine Einteilung. Und die ist je nach historischem Zeitpunkt, regionalem Kontext, individueller Erfahrung oder ­Genre – ob Sport, Belletristik oder Pharmakologie – variabel. Damit wird nicht und schon gar nicht zwingend geleugnet, dass Geschlechtlichkeit auch (!) eine biologische Dimension hat. Aber zurückgewiesen wird doch, darin sind sich die Gender Studies über alle Disziplinen hinweg einig, dass die Relevanz und Form von Geschlechtlichkeit – etwa Frau/Mann – einzig von Chromo­somen, der Gebärmutter oder Hormon­pegeln determiniert wird.

In den ‚Gender Studies‘ bezeichnet der Begriff gender also, verdichtet formuliert, eine von Menschen in historischen Prozessen gemachte, verobjektivierte soziale Differenz, die überdies mit anderen Differenzen (wie Klasse/Schicht, Sexualität, Alter usw.) verschränkt ist. Anders gesagt: Menschen sind nie nur Männer oder Frauen, sondern in ihrer Männlichkeit oder Weiblichkeit – und in den Formen dazwischen oder jenseits – klassenspezifisch situiert, von ihrem Alter geprägt, ethnisch bzw. rassisch oder körperlich zum Beispiel als ­behindert markiert. Das ist vieles auf einmal, ja. Doch so komplex ist die empirische Wirklichkeit, so differenziert müssen wir auch forschend vorgehen.

Das Gender-Paradigma stammt nun weder aus der Feder von Judith Butler noch ist sie irgendwie postmodern, wie jüngst hier und da erstaunlicherweise behauptet wird. Auch wenn es nicht falsch ist, dass Judith Butler und ihre Theorie für die Gender Studies seit den 1990er Jahren außerordentlich wichtig sind, so ist der „gender“-Begriff tatsächlich in den 1970ern durch den Soziologen Erving Goffman formuliert worden. Er schrieb in seinen empirischen Analysen vom „genderism“ als sozialer Struktur, als mächtigem Deutungsrahmen für alltägliche Praxis.

In den Gender Studies wird das als Naturalisierungskritik gemacht, das heißt als Analyse derjenigen Redeweisen, Wissensformen, Praxen und Politiken, die die großen Unterschiede – etwa zwischen ­Gewalterfahrungen von Männern und Frauen, die entsprechende Altersarmut oder die Darstellung von Mädchen in der Werbung – aus dem vermeintlichen kleinen Unterschied ableiten. Alles aber jenseits dieser nicht mal von ernsthafter ­Naturwissenschaft propagierten biologistischen Zwangslogik muss genauer geprüft und differenziert betrachtet werden. Das tun die Gender Studies. Also: Um welche Gewalt gegen wen geht es wo genau wann? Welche Menschen sind aus welchen Gründen genau arm im Alter? Wie sind denn die Darstellungen von Mädchen in welchen Medien in welchen Teilen der Welt genau wie?

Dann landet man unweigerlich dort, wo der common sense mancher, aber nicht aller ist – und wo die einfache politische Logik nicht sein will: Bei der Komplexität der sozialen Verhältnisse, dem Eigensinn von Personen, der Eigenlogik verschiedener Sphären, der Kontextabhängigkeit von sozialen Wirklichkeiten. Es sind eben nicht alle Frauen arm oder alle Männer in der Unikarriere erfolgreich, es sind nicht alle Frauen weltweit gleichermaßen von Gewalt betroffen oder auch nur bedroht, es zeigen auch nicht alle Formate im Fernsehen süße Passiv­prinzesschen.

Diese und viele weitere Befunde der empirischen Forschung zeigen eines: ‚Die‘ Frauen oder ‚die‘ Männer gibt es schon, aber eben ‚nur‘ als Phantasma, als rhetorische Konstruktion, als Abstraktion. Eine überaus wirkmächtige und ökonomisch, juristisch, psychologisch und emotional wichtige Abstraktion, in der Tat. Das muss nicht immer dramatisch oder relevant sein. Kann es aber. Und ist es oft.

Auch damit befassen sich viele Studien in den Gender Studies: Wann wird von wem wie in welchem Kontext die Geschlechterdifferenz ‚aktiviert‘ – zum Beispiel bei Personalentscheidungen in Betrieben, bei Integrationsmaßnahmen für geflüchtete Menschen, bei Operninszenierungen, im OP? Manche Kollegen kommen dabei zu dem Befund: Nicht überall, wo im alltäglichen Sinne Männer und Frauen erkennbar sind bzw. wären, spielt das überhaupt eine Rolle. Wir können durchaus vom Geschlecht absehen. An vielen Stellen wiederum spielt es weitaus mehr eine Rolle, als viele gemeinhin meinen. Meist spielt die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht eine wichtige, aber diffuse Rolle. Dabei aber nicht an und für sich, allein, abgelöst von allem anderen. Klassenzugehörigkeit, Sexualität, Alter usw. spielen eine nicht nur zusätzliche Rolle, sondern prägen die Form und Bedeutung der Geschlechtlichkeit selbst mit.

Das ist übrigens – Ironie der geschichtsvergessenen Gegenwart? – die Grunderfahrung, von der vielerlei feministische Aktivitäten und Kämpfe, ja auch trennende und schmerzhafte Konflikte ausgingen.

„Ain’t I a woman?“, fragte Sojourner Truth bereits 1851. Sie stellte einer Versammlung von Frauenrechtlerinnen in den USA diese Frage, und brachte dabei ihre Erfahrungen als schwarze Sklavin, die ausgepeitscht worden war, körperlich geschuftet und Kinder geboren hatte, in Anschlag. Ein Frau-Sein, das sich drastisch von den Erfahrungen und Annahmen der Weiblichkeit unterschied, welche die weißen, bürgerlichen Frauen im Saal für das Allgemeine hielten. ‚Ain’t I a woman‘, fragten sinngemäß die lesbischen Frauen, die sich in die zweite Frauenbewegung einbrachten. Und die schwarzen, feministischen Aktivistinnen wie zum Beispiel bell hooks.

Diese Frage ist bis heute virulent geblieben und die forschende Auseinandersetzung damit zeigt: Die Frauen, auch die Frauen­emanzipation sind nur scheinbar je ein Ding. Weil die empirische Wirklichkeit so schlicht binär – Frauen/Männer, Herrscher/Unterdrückte – eben nicht ist. Das ist keine Erfindung von Akademikerinnen, die vom Leben der ‚kleinen‘ Frauen an den Drogeriemarkt-Kassen keine Ahnung haben. Denn: Ist diese Kassiererin schwarz und lebt in Haiti, wird ihre Weiblichkeit und deren Folgen hinreichend anders sein als bei der Kassiererin, die lesbisch, christlich und aus Äthiopien stammend in Oslo arbeitet. Die Liste der spezifischen Positionierungen ließe sich lange fortsetzen. Allerdings nicht, weil wir in den Gender Studies aus purer Lust an der Freude die Welt zersplittern wollen. Sondern weil die sozialen Verhältnisse komplex sind.

Und komplex ist auch das, was Menschen daraus machen. Diese Komplexitätsorientierung ist womöglich auch mitverantwortlich dafür, dass in den Gender Studies (zu?) wenig, (zu?) zaghaft über zum Beispiel religiösen Fundamentalismus geforscht wird. Dass zu wenig hingeschaut wird auf frauen- oder LGBTTQI-feindliche Traditionen und Praxen in muslimisch geprägten Kontexten. Dass nicht hinreichend ausgelotet wird, wie Migration, Islam, Sexismus oder Homophobie sich konkret auch hierzulande manifestieren. Das kann sein. Allerdings: Es gibt durchaus Forschung zu diesen Fragen. Zugleich: Da geht noch mehr. Da wird auch mehr kommen. Wesentlich wird es dabei sein, pauschale Großkategorien – „die Muslime“, „die arabische Kultur“, „der Islam“, „die Deutschen“ usw. – zugunsten präziser empirischer Arbeit zurückzuweisen.

Formen zu finden, die reflexive Auseinandersetzungen jenseits des Pöbelns und diesseits des Ernstnehmens entwickeln, das ist an uns allen. Auch in dem, was wir schreiben – ob ich hier, andere Autoren in anderen Magazinen oder Sie, liebe Leser_in, im Facebook Thread.

Paula-Irene Villa
Die Autorin ist Professorin für Sozio­logie und Gender Studies an der Ludwig-­Maximilians-Universität München.

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Alice Schwarzer schreibt

Weiberzank - oder Polit-Kontroverse?

Alice Schwarzer und Judith Butler (Fotos: Bettina Flitner, University of California/Berkely)
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Der Beitrag in der Juli/August-­EMMA, um den es geht, ist vom ehemaligen Gender-Studenten Vojin Saša Vukadinović verfasst und basiert auf der Textsammlung Beißreflexe. Darin kritisieren Queer-Aktivisten ihre eigene Szene. Bereits als das Buch erschien, gab es heftige Kontroversen, wurde den Autoren Gewalt, ja „Waffengewalt“ angedroht. Nun, nachdem EMMA der Debatte Raum gegeben hat, reagierten Judith Butler und Sabine Hark persönlich und antworteten in der Zeit. Und sie reagierten heftig.

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Die Chefdenkerin der Queer-Theorie, Judith Butler, unterstellt EMMA nicht nur undifferenziertes Denken und „Hass­reden“, sondern sogar Rassismus. Ein Argument, das uns definitiv ins Unrecht setzen soll. Bezeichnend auch, dass es in dem Text vor allem um die Form und kaum um Inhalte geht. Und das wohl nicht zufällig in einer schwer zugäng­lichen, selbstreferenziellen Sprache, die nicht auf Kommunikation oder gar Verständnis angelegt ist. Der Linguistin Butler müsste das bewusst sein.

Es geht um zwei Sichten auf die Welt, um gegensätzliche politische Konzepte.

Doch der Reihe nach. Worum geht es eigentlich wirklich? Es geht um zwei Sichten auf die Welt, um gegensätzliche politische Konzepte. Das verdeutlicht sich an drei Themen: den Geschlechtern, den Juden und den Muslimen. Immer ist da eine Kluft: eine Kluft zwischen (hehrer) Theorie beziehungsweise Ideologie und (niederer) Wirklichkeit.

Ich kann nicht voraussetzen, dass alle Zeit-Leser mit den Gender-Theorien vertraut sind, denn die sind außerhalb des akademischen Milieus entweder unbekannt oder zur Karikatur verzerrt. Ersteres liegt auch daran, dass die Gender-Theorien sich einer lebensabgewandten, elitären Sprache bedienen – die Kritik an der Herrschaftssprache aus den sechziger Jahren scheint vergessen. Letzteres liegt da­ran, dass sie an den Grundfesten der ­Geschlechterordnung rütteln. Wir Feministinnen kennen das. Wir tun das ja schon länger.

Hier also in groben Zügen die Posi­tionen. Der 1990 erschienene Essay „Das Unbehagen der Geschlechter“ von Butler löste den Wechsel von der Frauen- oder Geschlechterforschung zur „Gender-Forschung“ aus. Dabei handelte es sich nicht wirklich um einen Paradigmenwechsel, eher um neue Begrifflichkeiten für das alte Problem. Das (biologische) Geschlecht und die (soziale) Geschlechterrolle hießen nun sex and gender, Begriffe aus der amerikanischen Sexualforschung. Für Butler ist nicht nur Gender relativ, sondern auch Sex; also nicht nur die Geschlechterrolle, sondern auch das Geschlecht selbst. Was konsequent ist. Denn in dem Moment, wo die Geschlechterrolle nicht mehr zwingend an ein biologisches Geschlecht gebunden ist, verliert es seine Bedeutung.

Butler ist beileibe nicht die Erste, die so argumentiert, handelt es sich bei der Infragestellung des „kleinen Unterschiedes“ doch um den Kern des feministischen Denkens. So schrieb Simone de Beauvoir schon 1949 in „Das andere Geschlecht“ den Jahrhundertsatz: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ Will sagen: Geschlecht ist nicht biologisch, sondern kulturell, ist Prägung; konstruiert, wie es heute heißt – kann also auch dekonstruiert werden. Könnte.

Einfach Mensch sein. Die feministische Utopie an sich. Doch die Verhältnisse, die sind nicht so.

Und genau an dieser Stelle fängt das Problem mit Butler und ihrer Anhängerschaft an. Sie halten ihre radikalen Gedankenspiele für Realität. Sie suggerieren, jeder Mensch könnte hier und jetzt sein, wonach ihm gerade zumute ist. Und er, der Mensch, müsse auch keinesfalls wählen zwischen zwei Geschlechtern, schließlich gäbe es viele Spielarten und Facetten der Geschlechteridentität. Einfach queer sein!

Was für ein schöner Gedanke. Einfach Mensch sein. Das wär’s doch. Die feministische Utopie an sich.

Doch die Verhältnisse, die sind nicht so. Leider sind wir in der bunten Welt der Queerness noch nicht angekommen. Noch sind Menschen in den Augen der anderen – meist auch in ihren eigenen – Frauen oder Männer (und nur selten, wenn auch zunehmend, dazwischen). Oder weiß, schwarz etc. Doch so all­gegenwärtig in der Queerszene die Sensibilität für Rassismus ist, so abwesend ist der Sexismus, das Wissen um das Machtverhältnis der Geschlechter. Ja selbst das Wort „Frau“ ist abgeschafft oder nur noch mit einem angehängten * zulässig. Will sagen: Frau soll jeder Mensch, der sich situativ als Frau versteht, sein können – unabhängig von Sozialisation und Biologie.

In der Realität jedoch sind die weib­lichen Menschen in unserer Kultur weiterhin die Anderen, es gilt für sie ein anderes Maß als für Männer. Entsprechend sind sie zum Beispiel in erster Linie zuständig für Einfühlsamkeit und Fürsorge, Kinder und Haushalt, sie verdienen weniger und können selbst in Liebesbeziehungen Opfer von (sexueller) Gewalt werden. In anderen Kulturen – wie in islamischen, in denen die Scharia Gesetz ist – geht es noch viel ärger zu. Da sind Frauen vollends relative Wesen, sind rechtlose Mündel von Vater, Bruder oder Ehemann, werden in den fundamentalistisch-islamischen Ländern unter das Kopftuch oder den Ganzkörperschleier gezwungen und aus dem öffentlichen Raum verbannt. Sie riskieren schon beim kleinsten Ausbruch aus der Frauenrolle ihr Leben.

Millionen zwangsverschleierter Frauen werden eine solche Rechtfertigung der Burka als Hohn empfinden.

Diese Verhältnisse werden von Butler im Namen einer „Andersheit der Anderen“ gerechtfertigt. So erklärte die in Berkeley lebende und lehrende Butler 2003 in einem Interview zum Beispiel zur Burka: „Sie symbolisiert, dass eine Frau bescheiden ist und ihrer Familie verbunden; aber auch, dass sie nicht von der Massenkultur ausgebeutet wird und stolz auf ihre Familie und Gemeinschaft ist.“ Und weiter im O-Ton: „Die Burka zu verlieren bedeutet mithin auch, einen gewissen Verlust dieser Verwandtschaftsbande zu erleiden, den man nicht unterstützen sollte. Der Verlust der Burka kann eine Erfahrung von Entfremdung und Zwangsverwestlichung mit sich bringen.“

Das geriert sich einfühlsam und edel, ist aber lebensfern und zynisch. Die algerische Politikerin Khalida Toumi (ehemals Messaoudi) nennt diese Art von Kulturrelativismus die „Kulturfalle“: zweierlei Maß in Sachen Menschen-/Frauen-Rechte im Namen einer kulturellen Differenz.

Vor allem aber: Millionen zwangsverschleierte Frauen in der islamischen Welt, die davon träumen, die Welt und den Himmel sehen zu dürfen, werden eine solche Rechtfertigung der Burka durch eine amerikanische Intellektuelle als reinen Hohn empfinden. Verstärkt vor dem Hintergrund, dass Judith Butler selbst sich die – von der Frauen- und Homo-­Bewegung erkämpfte! – Freiheit nimmt, mit einer Frau verheiratet zu sein. Für ihre „Andersheit“ würde Butler in diesen von ihr so generös verteidigten anderen Kulturen mindestens geächtet, im schlimmsten Fall getötet werden.

Die Akzeptanz des „Anderen“ muss also da ihre Grenzen haben, wo es um elementarste Menschenrechte geht. Und diese Menschenrechte sind weder okzidental noch orientalisch, sie sind human und universell. (Auch wenn der Begriff Menschenrechte seit einigen Jahren politisch missbraucht wird für ganz andere Interessen, wie bei den hegemonialen ­Interventionen. Aber das ist wieder ein anderes Thema.)

In ihrem Zeit-Text räsonieren ausgerechnet Judith Butler und Sabine Hark (Leiterin des Zentrums für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der TU Berlin), sie wollten „zurückhaltender und bedachter mit apodiktisch daherkommenden Verallgemeinerungen“ umgehen und „Begrifflichkeiten wählen, die Ambivalenzen auszudrücken erlauben. Die totalisierende und versämtlichende Sichtweisen zurückweist.“ Kurzum, sie wollten, „die Welt teilen, ohne die Andersheit der Anderen auszulöschen“.

Wer will schon Andere „auslöschen“? Die EMMA! Ist das ein Missverständnis? Nein, es hat Methode. Denn Kritikerinnen, denen man unterstellt, sie seien Rassistinnen niederer Machart, die den eigenen ­hohen Gedanken kaum folgen können, solche Kritikerinnen brauchen den Mund gar nicht mehr erst aufzumachen. Sie sind schon von vorneherein erledigt.

Die Akzeptanz des „Anderen“ muss ihre Grenzen haben, wo es um elementarste Menschenrechte geht.

Der Ton von Butler und Hark verschärft sich beim Thema Islam. Die Politisierung des Islams mit all ihren Folgen – von der rigiden Geschlechtertrennung bis hin zum blutigen Terror – wird seit Jahrzehnten von aufgeklärten Muslimen ebenso bekämpft wie von universell denkenden Westlern, aber das ignorieren diese selbst ernannten „Anti-Rassistinnen“ geflissentlich. Bei ihrer Kritik an der „Kritik am Islam“ (was bedacht heißen müsste: Islamismus) fällt ihnen nur drohende „Verwestlichung“ und „Freiwilligkeit“ der Kopftuch- und Burka-Trägerinnen ein. Haben die erklärten Anti-­Rassistinnen da eigentlich keine Angst vor dem sonst so gerne beschworenen „Beifall von der falschen Seite“, nämlich der Islamisten?

Da ist es nur folgerichtig, dass Butler 2010 auch den „Zivilcourage-Preis“ des Berliner CSD abgelehnt hat. Argument: Die Verantwortlichen des CSD seien „Rassisten“. Warum? Weil einige von ihnen gewagt hatten, die Schwulenfeindlichkeit in der arabischen und türkischen Community zu thematisieren. Dazu von der taz befragt, antwortete Butler 2010: Man solle sich lieber um die homophoben Attacken der Neonazis kümmern. „Was ist mit dem Zusammenhang von Homophobie und rechtsextremen Bewegungen?“, fragt sie vorwurfsvoll. Nun, einmal abgesehen davon, dass auch Islamisten Rechtsextreme sind, ist es doch erstaunlich, dass eine Wissenschaftlerin aus Berkeley, die auch mal in Heidelberg studiert hat, noch nicht einmal zu ahnen scheint, dass genau zu dieser Frage in Deutschland und Europa seit einem halben Jahrhundert geforscht wird. Denn in der Tat: Der männerbündische Faschismus ist, ganz wie der Islamismus, auch – nicht nur, aber eben auch – eine gesteigerte Form des Männlichkeitswahns.

Doch dererlei Defizite konnten den Ruf der Berufs-Denkerin nicht schmälern. Im Jahr 2012 erhielt Judith Butler den Adorno-Preis. Dagegen protestierte unter anderem die Jüdische Gemeinde. Butler sei eine Antisemitin, weil sie mit der Hisbollah und der Hamas sympathisiere und Israel das Existenzrecht abspreche. In der Tat, bei Butlers – im Prinzip durchaus legitimer – Kritik an Israel ist sie wieder deutlich: die Kluft zwischen Theorie und Wirklichkeit. Doch Butler stellt sich nicht der Sache, sondern moralisiert über die Form. Selber Jüdin, protestiert sie gegen den Vorwurf des „Selbsthasses“ und schrieb in der Zeit: „Meine tatsächliche Position wird von meinen Verleumdern nicht gehört. Und vielleicht sollte mich das nicht überraschen, insofern ihre Taktik darin besteht, die Bedingungen der Hörbarkeit selbst zu zerstören.“

Die Bedingungen der Hörbarkeit selbst zerstören. Ein kluger Satz. Muss ich mir merken. Denn darin kenne ich mich schließlich schon seit 40 Jahren aus, als Zielscheibe dieser Methode. Nun wird sie also von Butler und Hark auch gegen EMMA angewandt.

Hier wird also wieder einmal der Rassismus
gegen den Sexismus ausgespielt.

So behaupten die Amerikanerin und die Berlinerin in ihrem Zeit-Text apropos EMMAs Berichterstattung über die Silvesternacht in Köln allen Ernstes: „EMMA scheint vorzuschlagen, wir sollten uns in der Verurteilung nicht-west­licher muslimischer Migranten enga­gieren, da die Sorge um die Zunahme von Rassismus vom eigentlichen Geschehen – sexualisierter Gewalt gegen Frauen – ablenke.“

Hier wird also wieder einmal der Rassismus gegen den Sexismus ausgespielt. Richtig: Für uns als feministische Zeitschrift hat der Kampf gegen den Sexismus Priorität –, aber ist gleichzeitig der Kampf gegen den Rassismus für Feministinnen immer schon eine Selbstverständlichkeit gewesen. So haben die amerikanischen Suffragetten im 19. Jahrhundert sich zunächst für gleiche Rechte für die Schwarzen eingesetzt – bis sie ­erkannten, dass auch für sie, die Frauen, noch ein gewisser Handlungsbedarf ­besteht.

Und weiter schreiben Butler und Hark: „Welchen Feminismus auch immer EMMA vor Augen hat, es scheint ein Feminismus zu sein, der kein Problem mit Rassismus hat und der nicht bereit ist, rassistische Formen und Praktiken der Macht zu verurteilen. Dies aber ist ein bornierter Feminismus, der sich nicht darum bemüht, sein Verständnis der Achsen von Ungleichheit zu vertiefen und seine solidarischen Bindungen zu ­erweitern.“

In der Butlerschen Diktion bedeutet das wohl: die Zerstörung der Hörbarkeit selbst. Oder auch: Hate-Speech.

Diese Frauen können allerdings noch nie eine EMMA gelesen haben (wie so viele von EMMAs Kritikern) – oder sie sind schlicht borniert oder bösartig. Oder aber sie schreiben einfach bei den (meist linken) Verleumdern im Netz ab, die EMMA seit Jahren des „Rassismus“ bezichtigen.

Warum? Weil EMMA seit 1979, seit der Machtübernahme von Khomeini im Iran, vor der Offensive des politisierten Islams warnt. Denn die ersten Opfer der Islamisten waren und sind Musliminnen: erst die Frauen, dann die Intellektuellen und Künstler, die Homosexuellen und sodann alle, die noch nicht auf den Knien liegen. Die Juden nicht zu vergessen.

Ich bin seit Jahrzehnten in Deutschland eine der wenigen Stimmen – lange die einzige –, die strikt unterscheidet zwischen Islam (dem Glauben) und Islamismus (der Ideologie). Doch das schert meine Verleumderinnen nicht. Dreist behaupten sie gebetsmühlenartig, ich sei eine „Islamkritikerin“ (Dabei habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nie zum Islam geäußert). Sie unterscheiden so wenig zwischen Islam und Islamismus, wie Pegida oder die AfD es tun.

Die Butlermania hat manche AkademikerInnen verwirrt: Sie können kaum noch politisch denken.

Das gleiche Muster bei der Kölner Silvesternacht: Im Mai 2016 habe ich dazu ein Buch herausgegeben („Der Schock“). Vier von acht Autoren dieser Anthologie sind aus dem muslimischen Kulturkreis, weil besonders betroffen, ergo besonders kundig: zwei Algerierinnen, eine Deutsch-Türkin, ein Deutsch-Syrer. Sie alle vertreten wie ich uneingeschränkt die These: Es handelte sich bei der Gewalt aus den Reihen der etwa 2000 jungen muslimischen Flüchtlinge und Illegalen auf dem Kölner Bahnhofsplatz nicht um individuelle Ausrutscher, sondern um eine politische Demonstration: Uns Frauen sollte gezeigt werden, dass wir am Abend nichts zu suchen haben im öffentlichen Raum – oder aber Flittchen und Freiwild sind. Von Kairo bis Köln. Die Silvesternacht ist nicht zufällig weltweit zum Symbol geworden; sie war eine neue Variante dessen, was der französische Islamexperte Gilles Kepel den „Dschihadismus von unten“ nennt.

Das nicht erkennen zu wollen, ist in der Tat rassistisch. Denn es nimmt alle Muslime in Zwangsgemeinschaft mit diesen frustrierten, entwurzelten, fanatisierten Männern. Es ignoriert, dass der Geist, in dem die Männer in Köln gehandelt haben – dieses fatale Gebräu aus patriarchaler Tradition und fundamentalistischem Islam – keineswegs gleichzusetzen ist mit „dem“ Islam.

In Algerien, wo ich gerade ein paar Wochen verbracht habe, waren alle, mit denen ich sprach, entsetzt über das Wüten der fundamentalistischen Muslime und ihren Terror in der Welt. Sie schämen sich dafür. Die Algerier kennen den islamistischen Terror aus eigener, leidvoller Erfahrung.

Vielleicht sind die sektiererischen Butlerschen Denkkonstrukte von manchen Anhängern noch apodiktischer rezipiert worden, als sie gemeint sind. Diese jungen Akademikerinnen und Akademiker sind damit für ein wissenschaftliches und politisches Denken verloren. Das ist, neben der Verleumdung ihrer Kritiker, die wohl gravierendste Verantwortung von Butler & Co.

„Grabenkämpfe“ betitelte die Zeit den Text von Butler und Hark. Da ist die „Schlammschlacht“ nicht weit. Dabei geht es um so viel mehr: nämlich um die elementarsten Menschenrechte der Frauen in unserer Welt. Denn es gibt sie noch, die Frauen! Und ihnen macht gerade ein gewaltiger Rollback zu schaffen: von Trump bis Erdoğan, vom Konsumwahn bis zur Zwangsverschleierung. Gehen wir es an.

Alice Schwarzer

 

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