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Caroline Darian: Sie kämpft weiter!

Auf dem Weg zum Prozess: Gisèle Pelicot und ihre Tochter Caroline Darian (li).
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Am 1. November 2020 postet Caroline Darian ein Foto ihres sechsjährigen Sohnes auf Facebook. Er trägt eine Corona-Maske, denn die muss er heute, an seinem ersten Schultag, aufsetzen. Darians Vater Dominique Pelicot reagiert sofort. „Mein armer kleiner Tom. Viel Glück bei diesem etwas speziellen Schulbeginn. Dein Opa, der dich lieb hat.“ 

Tochter Caroline ahnt da noch nicht, dass dies der letzte persönliche Austausch mit ihrem Vater sein wird. Denn am nächsten Tag bricht die Hölle los. Am 2. November 2020 ruft Gisèle Pelicot ihre Tochter an und berichtet von dem Unfassbaren, das ihr Mann Dominique ihr angetan hat. Sie hat es gerade von der Polizei erfahren. Er hatte sie, nachdem er sie mit schweren Medikamenten bewusstlos gemacht hatte, über fast zehn Jahre hunderte Male vergewaltigt und mindestens 80 Männer über ein Internetportal dazu eingeladen, sie ebenfalls zu missbrauchen. Caroline Darian: „Ich breche zusammen. Ich klammere mich an meinen Mann, bin am Boden zerstört. Das Atmen fällt mir schwer.“ 

Noch bevor der Prozess gegen Dominique Pelicot und 50 seiner Mittäter am 2. September 2024 in Avignon begann, hat Caroline Darian ein Buch über das Ungeheuerliche geschrieben. In Frankreich erschien es im April 2022 (die deutsche Übersetzung folgte am 16. Januar 2025, nach Ende des Prozesses am 18. Dezember 2024). Dominique Pelicot war zur Höchststrafe von 20 Jahren verurteilt worden, seine Mittäter bekamen ebenfalls allesamt Haftstrafen. Titel des Buches von Tochter Caroline: „Und ich werde dich nie wieder Papa nennen“.

Der einfühlsame Post des liebenden Großvaters, den Caroline Darian gleich am Anfang ihres Buches zitiert, zeigt, wie groß, ja gigantisch der Schock der Tochter gewesen sein muss. Und wie unfassbar das, was sie an diesem 2. November begreifen musste. Denn ihr Vater Dominique war kein Säufer, kein Schläger, kein Ehemann oder Vater, der seine Familie immer schon drangsaliert oder gar malträtiert hätte. Er schien ein fürsorg­licher Ehemann und Großvater zu sein, der mit seinen Enkelkindern spielte und auch schon seinen Kindern ein guter Vater gewesen war. Wie auch die meisten anderen 50 Vergewaltiger „ganz normale Männer“ gewesen waren.  

Vatertochter Caroline fragt sich nun: „Wer ist mein Vater wirklich? Wo ist der hin, der mich einst so verhätschelt hat? Wo ist der hin, der mich zur Schule brachte, der mich bei meinen sportlichen Aktivitäten unterstützte, meinem Studium, meinen Projekten und später dann bei meinen beruflichen Entscheidungen? Der sich um seine Enkel kümmerte, mit ihnen spielte, den sein Familienleben auszufüllen schien? Wie kann man so viele Jahre lang ein Doppelleben führen und die Welt täuschen?“

Bald kommt zum ersten Schock über die Ver­gewaltigungen ihrer Mutter der zweite: Unter den über 20.000 Videos und Fotos, die Dominique Pelicot von seinen Taten angefertigt hat, sind auch Bilder von ihr selbst. 

Caroline Darian muss begreifen, dass der Vater auch sie ausgezogen und fotografiert hat. Mindestens. Er wird im Prozess bestreiten, sie missbraucht zu haben. Aber das heißt für Caroline ­Darian überhaupt nichts, denn „Dominique sagt nicht die Wahrheit, solange es keine klaren Beweise gibt. Er lügt ständig!“ 

Als Gisèle Pelicot erfährt, dass ihr Mann auch die Tochter betäubt und Aufnahmen von ihr gemacht hat, treibt das einen Keil zwischen Mutter und Tochter. Selbst die heute zu Recht als Heldin gefeierte Gisèle Pelicot ist, wie so viele Mütter, nicht davor gefeit, das Unaushaltbare durch Verdrängung aushaltbar zu machen. „Dein Vater kann so etwas nicht getan haben. Ich kann das nicht hinnehmen, es würde mich endgültig zerstören“, sagt Mutter Gisèle zu Tochter Caroline. 

Das Gericht wird Dominique Pelicot später lediglich wegen der „Aufnahme und Verbreitung von Bildern sexuellen Charakters“ seiner Tochter verurteilen. Caroline Darian ist entsetzt darüber, dass Polizei und Staatsanwaltschaft nicht weiter ermittelt haben, um herauszufinden, ob der Vater auch sie vergewaltigt hat. So wie sie auch die Haftstrafen für die anderen Täter zu niedrig findet: „Die meisten von ihnen haben drei bis zehn Jahre bekommen, obwohl in Frankreich das durchschnittliche Strafmaß für Vergewaltigung elf Jahre beträgt.“ Hinzu kommt: 17 der Männer haben Berufung eingelegt. „Es sollte ein historischer Prozess zum Thema ‚chemische Unterwerfung‘ werden“, sagt Darian. „Aber die Botschaft, die dieses Urteil an alle unsichtbaren Opfer sendet, ist nicht zufriedenstellend.“

Caroline Darian hat sich nun dem Kampf gegen die „soumission chimique“, die „chemische Unterwerfung“, verschrieben. Ganz wie ihre Mutter, die darauf bestand, das Gerichtsverfahren öffentlich zu führen und es mit diesem atemberaubend mutigen Schritt zu einem Jahrhundertprozess machte, ist auch Tochter Caroline in die Offensive gegangen. Sie gründete die Initiative „M’endors pas“ (Betäube mich nicht). Denn: „Es gibt wahrscheinlich Abertausende Opfer allein in Frankreich, die mit Medikamenten, Schlaftabletten, Schmerzmitteln betäubt werden. Und da geht es nicht nur um Frauen, auch um Kinder.“ Seit sie „M’endors pas“ vor drei Jahren gegründet hat, habe sie „unzählige Berichte von Opfern erhalten“.

Und es geht, selbstredend, nicht nur um Frankreich. Ein Team des NDR-Recherche-Netzwerks Strg_F hat enthüllt, dass sich auf dem Messenger-Dienst Telegram „Dutzende Gruppen mit hunderten bis teilweise zehntausenden Mitgliedern“ darüber austauschen, wie man Frauen betäuben und vergewaltigen kann. „Sie stacheln sich gegenseitig dazu auf oder bieten ihre Partnerinnen anderen Nutzern zur Vergewaltigung an.“ Das klingt zum Beispiel so: „Sie ist jetzt sturzbesoffen und auf ein paar Schlafmedis. Ich sollte hoffentlich bald ein bisschen Spaß haben.“ Die meisten betroffenen Frauen „kommen offenbar aus dem direkten Umfeld der Nutzer, die eigene Schwester, Mutter, Freundin oder Ehefrau“, schreibt das NDR-Team. Häufig machten die Täter Fotos oder Videos der Vergewaltigungen und teilten sie auf Telegram.

Die Aufnahmen seiner Taten wurden gerade einem Mann aus Erfurt zum Verhängnis. Zwischen 2013 und 2023 hatte der Erfurter mindestens 17 Frauen betäubt und vergewaltigt. Unter seinen Opfern waren auch seine jeweiligen Freundinnen. Das Betäubungsmittel hatte der Täter aus Felgenreiniger selbst hergestellt. Der Mann flog auf, als er in der Silvesternacht 2023 eine – unbetäubte – Frau vergewaltigen wollte. Als die Polizei sein Handy auswertete, entdeckte sie die Bilder der anderen Taten. 

Am 20. Dezember 2024, zwei Tage nach dem Urteil von Avignon, verurteilte das Landgericht Erfurt den Täter zu 14 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Es ist der bisher spektakulärste Fall „chemischer Unterwerfung“ in Deutschland.

Und einer der seltenen Fälle, bei denen der Täter gefasst werden konnte.  

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