Petra Morsbach über Gewalt

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Neulich unterhielt ich mich mit einem Richter über den Fall Siegfried Mauser. Mauser, bis 2014 Präsident der Münchner Musikhochschule, wurde letztes Frühjahr von zwei Professorinnen sexueller Übergriffe bezichtigt und vom Amtsgericht München zu einem Jahr und drei Monaten auf ­Bewährung verurteilt. Er bestreitet die Vorwürfe. Demnächst steht die Berufungsverhandlung an.

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Mein Gesprächspartner, ein sehr rationaler Mann, kam sofort auf die „weichen“ Punkte der Anklage zu sprechen: Warum haben die Professorinnen mit ihrer Anzeige sechs Jahre lang gewartet? Und welche beruflichen Nachteile hätten sie zu befürchten gehabt? Der Präsident war ja formal nicht ihr Vorgesetzter.

Da ich gerade an einem Justizroman arbeite, versuchte ich mir diese juristische Sichtweise zu eigen zu machen. Ein Unbehagen blieb. Denn wenn es um Macht geht, auch informelle oder eingebildete, handeln Menschen nicht rational; sie tun es ja, ehrlich gesagt, sowieso seltener als sie meinen. Doch damit lässt sich vor Gericht schlecht argumentieren. Und eigentlich schien die Mauser-Sache mich auch nichts anzugehen; wir verließen also das Thema und kehrten zu meinen juristischen Hauptfragen zurück.

Wochen später fiel mir fast schockartig ein: Mir selbst war vor vielen Jahren – nicht mit Mauser – etwas Ähnliches passiert wie den Professorinnen. Auch ich hatte es damals nicht angezeigt und dann nahezu verdrängt, als gehörte es nicht zu mir. Der Angreifer war ein älterer Herr mit gutem Stand in der Kulturbranche.

Weder war ich aufreizend gekleidet gewesen, noch hatte ich ihn angetrillert, ich zog ihn als Mann nicht entfernt in Betracht. Die Attacke war unvorhersehbar. Mir fehlte jegliche Nahkampferfahrung, ich hatte (und habe bis heute) niemanden geschlagen. Nachdem aber der Moment verpasst war, gab es keine Chance mehr, den Fall zu heilen.

Erst jetzt, viele Jahre später, begreife ich: Es geht bei solchen Attacken nicht vorrangig um Sexualität, sondern um den Genuss, andere ungestraft schockieren und erniedrigen zu dürfen. Um Machtmissbrauch also. Die Attacke entspricht eher einer unangemeldet verabreichten Ohrfeige – mit dem Unterschied, dass der Täter bei der sexualisierten Beleidigung einer körperlich unterlegenen Frau erstens weniger riskiert als bei der Ohrfeige gegen einen Mann, und zweitens bei Kumpels und Öffentlichkeit größere Akzeptanz findet, da er die Tat als grandioses männliches Begehren ausgeben kann.

Dabei müsste auch dem dümmsten Mann klar sein, dass er durch einen unvermittelten Angriff, eventuell noch bei offener Bürotür, nicht zu einem Geschlechtsverkehr kommt. Mit erotischem Selbstbewusstsein hat diese Aktion nichts zu tun, im Gegenteil: Ein reifer Mann riskiert, bei einer persönlichen Annäherung auf persönliche Weise abgewiesen zu werden. Nur ein Unter- oder Zurückentwickelter greift ohne Vorwarnung an. Machtmissbrauch geht immer mit psychischer Regression einher.

Der Täter genießt also die Macht als verringerte Kontrolle. Ein Hausmeister, der eine Institutsangestellte belästigt, wird sofort gefeuert. Deshalb belästigt er sie nicht. Ein Präsident aber scheint sich ziemlich sicher fühlen zu können. Auch wenn er nicht Dienstvorgesetzter ist: hier greifen soziale und instinktive Automatismen, denen sich kaum einer entziehen kann.

Bei unserem nächsten Treffen bat ich den Richter, den wir hier R nennen wollen, um einen Gedankentest. Er willigte ein.

Petra Morsbach: Stellen Sie sich vor, der Hausmeister des Gerichts tauscht in Ihrem Büro eine defekte Lampe aus. Sie arbeiten am Schreibtisch. Plötzlich tritt er auf Sie zu, verpasst Ihnen eine Ohrfeige und tritt grinsend drei Schritte zurück. Was tun Sie?

Richter R (denkt nach): Eine körperliche Auseinandersetzung würde ich vermutlich nicht anstreben.

Er verlässt zufrieden pfeifend das Büro. Was tun Sie jetzt?

Ich rufe den Präsidenten an, schildere den Vorfall und sorge dafür, dass der Hausmeister fristlos gekündigt wird.

Er behauptet, Sie hätten sich das eingebildet.

Man wird mir glauben.

Fall zwei: Der Gerichtspräsident kommt in Ihr Büro und verpasst Ihnen eine Ohrfeige. Was tun Sie?

(Lacht) Das ist schon sehr absurd. (überlegt) Gibt es eine Vorgeschichte? Sind wir verfeindet? Konnte ich damit rechnen?

Nein. Sie hatten ein unkompliziertes kollegiales Verhältnis.

Vermutlich frage ich: „Geht es Ihnen nicht gut? Haben Sie Drogen genommen?“

Er antwortet: „Ich hatte einfach Lust!“ und verlässt fröhlich pfeifend Ihr Büro.

Zeugen gibt es nicht?

Nein.

Hm … Wenn ich keinen Zeugen habe, mache ich zunächst nichts. (denkt nach) Oder zeige ich ihn auf dem Dienstweg an?

Was ist der Dienstweg?

Das ist zunächst der Präsident. (lacht) Also den rufe ich natürlich nicht an. Ich rufe den Personalchef des Justizministeriums an und schildere ihm den Fall.

Was passiert dann?

Er wird den Präsidenten zu einer Stellungnahme auffordern.

Der Präsident antwortet: „Herr R leidet ­offenbar an Einbildungen und sollte zum Amtsarzt geschickt werden.“ Wem wird man glauben?

Tja, das stimmt. … Also, wahrscheinlich würde ich den Fall auf sich beruhen lassen.

Sechs Jahre vergehen, und Sie haben die Sache beinahe vergessen.

So eine Sache vergisst man nicht.

Vielleicht vergisst man sie halb. Dauernd daran denken bringt nichts; ist ja peinlich genug.

Stimmt.

Dann erfahren Sie durch Zufall, dass der Präsident auch andere, vornehmlich jüngere Kollegen geohrfeigt hat. Immer grundlos, immer überfallartig, immer ungestraft. Er genießt wohl einfach, sich das leisten zu können.

Jetzt ist Handeln geboten. Ich hole die Geschädigten an einen Tisch. Wir entwerfen eine Generalanzeige.

Zuerst sind alle begeistert, doch dann will keiner unterschreiben. Die Kollegen genieren sich, als Geohrfeigte in den Akten zu stehen, und befürchten Schaden für ihre Karrieren. Wir wissen natürlich, dass Richter nur dem Gesetz unterworfen sind, nicht dem Präsidenten. Trotzdem: Wundern Sie sich?

Hm, nein. Vielleicht übernehme ich also die Verantwortung und schreibe den Brief allein: „Dieses und jenes ist mir vor sechs Jahren von Seiten des Präsidenten zugestoßen. Damals habe ich im Interesse des Ansehens der Justiz davon abgesehen, die Sache weiter zu verfolgen. Da mir aber zu Ohren gekommen ist, dass der Präsident in dieser Weise weiter verfährt, habe ich mich im Interesse der Integrität unserer jüngeren Kollegen zu einer Anzeige entschlossen.“

Quod erat demonstrandum.

Ja … So hatte ich das bisher nicht gesehen. Ein unangenehmes Experiment.

Petra Morsbach

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