Menschen: Pinar Selek kämpft weiter

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Es gibt ein Lied über Pinar Selek, komponiert und gesungen von der kurdischen Sängerin Aygül Erce. Man findet es auf Türkisch, Kurdisch und Englisch im Internet. Der Text ist verklausuliert, anders geht es nicht, denn sobald der Name Pinar Selek fällt, hören die türkischen Behörden bei jedem Wort genau hin, ob sich daraus nicht eine Anklage basteln ließe. Von einem Albtraum singt Aygül Erce und von Pinars Lächeln. Das erreiche die Herzen der Menschen wie ein ruhig dahinfließender Fluss. Das Lied ist drei Jahre alt und wird untermalt von sanften Gitarrenklängen. Heute würde Erce dafür wahrscheinlich ein Schlagzeug wählen.

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Pinar Seleks Lächeln ist zwar noch immer wunderbar, verbreitet inzwischen aber eher die Energie von Wildwasser. Ungestüme Locken, selbstbewusster Blick. Eine schöne, mutige Frau, 41 Jahre alt. Sie ist Soziologin, Feministin, Ikone der türkischen Frauen- und Demokratiebewegung, Kämpferin gegen Machismus und Militarismus – und deshalb vielen Türken ein Dorn im Auge. Pinar Selek ist eine Verfolgte. Als angebliche Bombenlegerin war sie im Alter von 27 Jahren verhaftet worden. Das Gericht sprach sie von dem Vorwurf frei, ihre Unschuld wurde mehrfach bewiesen, zuletzt im Februar 2011.

Pinar Selek flüchtete ins Exil. Erst nach Berlin als Writers-in-Exile-Stipendiatin des PEN, seit Januar lebt sie in Straßburg. Sie schreibt dort an einer Doktorarbeit über Emanzipationsbewegungen in der Türkei.
Pinar Selek sieht müde aus, beginnt das Gespräch dennoch messerscharf und klug: „In der Türkei gibt es ein grundsätzliches Problem mit der Demokratie. Es zeigt sich in den Demütigungen der Armenier, der Kurden und in der Verachtung der Frauen“, ­erklärt sie. „Für mich gehören Sexismus, Militarismus und ­Nationalismus zusammen.“ Seit Selek in Frankreich lebt, vergeht kaum eine Woche, in der sie nicht irgendwo als Rednerin in ­Sachen Frauenrechte anzutreffen ist. Sie spricht Französisch, weil sie in Istanbul ein französisches Lycée besucht hat. Noch einmal erzählt sie jetzt, wie das, was die Sängerin Aygül Erce ihren ­„Albtraum“ nennt, vor mehr als 14 Jahren begann.

Die Tochter einer Apothekerin, der das ganze Viertel seine Sorgen anvertraute, und eines Vaters, der ein bekannter Menschenrechts-Anwalt ist, hatte ihr Studium gerade abgeschlossen. ­Sozio­login war sie jetzt, „ich dachte, dass man die Wunden der Gesellschaft analysieren muss, um sie zu heilen.“ Sie führt Gespräche in Deutschland, Frankreich und im Osten der Türkei. „Meine kurdischen Interviewpartner sollten anonym bleiben. Die Polizei erfuhr von dem Projekt und wollte die Namen“, erzählt Selek. Sie verriet niemanden. Da wurde sie am 11. Juli 1998 verhaftet.

„Sie gaben mir Elektroschocks auf die Kopfhaut. Sie hängten mich an den Armen auf, dabei wurde einer ausgekugelt. Sie renkten ihn wieder ein, falsch herum. Also wurde er wieder ausgekugelt, um ihn richtig einsetzen zu können.“ Als sie wieder zu sich kam, war sie in einer Zelle mit rund 70 Frauen. Ältere, so manche noch keine achtzehn Jahre alt. „Die Solidarität, die ich von ihnen erfuhr, war eine prägende Erfahrung für mich“, sagt Pinar Selek: „Sie wuschen mich, zogen mir saubere Kleidung an, gaben mir Wasser. Die Frauen halfen mir ins Leben zurück.“ Aus dem ­Fernsehen erfuhr sie, womit man ihre Festnahme begründete: Sie habe für die PKK eine Bombe auf dem Istanbuler Gewürzbasar gezündet, hieß es in den Abendnachrichten des Staatsfernsehens.

Tatsächlich hatte es dort am 9. Juli 1998 eine gewaltige Explosion gegeben. Sieben Menschen wurden getötet, mehr als Hundert verletzt. Niemand der Pinar Selek kennt, konnte glauben, dass sie etwas damit zu tun hat: Straßenkinder, Prostituierte, ­Trans­sexuelle, denen ihr Engagement gegolten hatte, demonstrierten für ihre Freilassung; auch Politiker und Intellektuelle aller Couleur. Nach mehr als zwei Jahren kamen Gutachter zu dem Schluss, dass keine Bombe, sondern eine Gasleitung explodiert war. 2006 wurde sie juristisch freigesprochen. Pinar Selek kam frei. Drei Jahre später kassierte der ­Kassa­tionsgerichtshof in Ankara das Urteil, rollte den Fall wieder auf. Eines Verfahrensfehlers wegen. Angeblich. Warum ließ die Justiz Selek nicht in Ruhe? Was hatte die Menschenrechtlerin und Feministin nach ihrer Freilassung getan? Sie hatte mit anderen Frauen „Amargi“ gegründet, eine feministische Organisation, die gegen Gewalt gegen Frauen kämpft, eine Zeitschrift herausgibt und in ­Istanbul den ersten feministischen Buchladen eröffnete.

Bis aufs Blut gereizt aber hatte die Richter etwas anderes: Pinar Selek hatte ein Buch geschrieben. Über den Männlichkeitswahn und dessen Schule, das Militär. Unter dem Titel „Zum Mann ­gehätschelt, zum Mann gedrillt – Männliche Identitäten“ (Orlanda) liegt das Buch auch auf Deutsch vor.

Seleks Buch kritisierte auch die Beschneidung von Jungen, für konservative Muslime eine Pflicht. Für Selek ist der aufwendig inszenierte Akt, bei denen die kleinen Jungen als Prinzen ausstaffiert werden, eine fatale Überhöhung von Männlichkeit. – Am 22. November ist der nächste Gerichtstermin in Sachen Selek. Sie wird nicht hingehen: „Sie verhaften mich womöglich schon bei der Einreise.“
Ihre Arbeit als Chefredakteurin der Zeitschrift Amargi macht sie nun von Straßburg aus. Bei Konferenzen in der Türkei wird sie mit Skype zugeschaltet. Sogar Lesungen ihres Buches wurden so an türkischen Universitäten schon mit ihr organisiert. Die ­StudentInnen hörten der Widerständlerin sehr gern zu. Es geht schließlich auch um ihr Leben.
 

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