Post aus Amerika: Becker und die

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Ich bin zurzeit in meiner zweiten Heimat, den USA, und kam bei meinen Ausflügen an der Ostküste wieder einmal durch Camden. Hier fiel mir diese melancholische Frau vor ihrer Haustür auf. Woher kommt diese fatalistische Melancholie? Camden liegt zwei Stunden südlich von New York am Ufer des Delaware, direkt gegenüber der Millionenstadt Philadelphia. Früher gab es dort Industrie und Camden war eine lebendige Stadt. Unter anderem wurden hier Campell Dosensuppen produziert (berühmt geworden dank Warhol), Schallplatten (His Masters Voice, das Logo mit dem Hund Nipper vor dem Grammophontrichter) und große Schiffe gebaut. Heute ist Camden eine verwahrloste Stadt, ein Ort der Hoffnungslosigkeit, Drogenjunkies, verfallenen Häusern mit zugenagelten Fenstern.

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Früher eine 100.000 Einwohnerstadt leben hier heute noch zirka 77.000 Menschen. Über 60.000 Jobs sind innerhalb weniger Jahre verloren gegangen, als die Firmen dichtmachten oder anderswo produzieren ließen. Hier gibt es weder ein Hotel noch einen Supermarkt.Jede "Devils Night" (Halloween) fallen verlassene Fabriken durch Vandalismus den Flammen zum Opfer. Die Feuerwehr rückt gar nicht erst aus, aus Furcht erschossen zu werden.
Sogar die Mafia ist verschwunden, weil es nichts mehr zu holen gibt. Dennoch ist Camden die amerikanische Stadt mit der höchsten Mordrate. Ganz zu schweigen von Drogentoten und Verletzten durch Vergewaltigungen, Raubüberfälle, häusliche Gewalt etc. Die katholische Kirche „Our Lady of Good Counsel“ im etliche Meilen entfernten Moorestown hat zum Jahreswechsel in ihrem Vorgarten einen Friedhof aufgestellt. 60 weiße, namentlich gekennzeichnete Kreuze stehen für 60 Ermordete in Camden im Jahr 2011. Umgerechnet auf eine Stadt mit der Einwohnerzahl New Yorks wären das doppelt so viele Tote wie bei den Anschlägen vom 11. September 2001.
Auch die von mir porträtierte Frau lebt von Essensmarken und hat keinerlei Perspektive. Sie gehört zu den Millionen hoffnungslos Ausgegrenzten in diesem Land. Wird auch sie eines nicht zu fernen Tages eines dieser Opfer sein? Ein Name auf einem weißen Holzkreuz?
Mister President, übernehmen Sie!

Franziska Becker ist seit 1977 die Hauscartoonistin von EMMA - und weit darüber hinaus die Chronistin moderner Zeiten. Ihr Buch "Letzte Warnung" mit den neuesten Cartoons und den besten Bildergeschichten kann im EMMA-Shop bestellt werden.
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