Prinz Philips Verletzungen
Es war Europas aristokratische High Society, die sich am 7. Oktober 1903 in der russischen Kapelle auf der Darmstädter Mathildenhöhe versammelt hatte. Die griechische Königsfamilie war ebenso zugegen wie das russische Zarenpaar. Die gekrönten Häupter waren angereist, um der Trauung von Alice von Battenberg und Prinz Andreas von Griechenland beizuwohnen.
Und dann unterlief der Braut dieser Fauxpas! Als der Geistliche sie fragte, ob sie den Mann, mit dem sie vor den Altar getreten war, heiraten wollte, sagte sie „Nein“. Die Frage jedoch, ob sie bereits einem anderen die Ehe versprochen hätte, bejahte sie.
Alice von Battenberg war von Geburt an taub, konnte aber so perfekt von den Lippen lesen, dass auf jeder Adelsparty, auf die auch sie geladen war, die Gäste nur unter vorgehaltener Hand Klatsch und Tratsch verbreiteten. Es sollte nicht der letzte unkonventionelle Auftritt der Prinzessin bleiben, die die Mutter von Philip, dem Ehemann von Königin Elisabeth werden würde – und eine der bemerkenswertesten Frauen des britischen Königshauses.
Sie war taub, aber konnte perfekt von den Lippen lesen
Margaret, Diana, Camilla, deren Affären, Kleider und Tragödien sorgten für Gesprächsstoff. Zurzeit reden alle von Meghan, der Frau von Prinz Harry, die zwar Prinzessin sein will, aber ein Leben ohne royale Verpflichtungen führen möchte. Dabei ist der Meghxit-Skandal nur eine Miniaturausgabe von dem, was andere mit dem britischen Königshaus verbundene Frauen vor ihr ausgelöst hatten. So wie Alice von Battenberg.
Am 25. Februar 1885 in Anwesenheit ihrer Urgroßmutter, der britischen Königin Victoria, geboren, erlebte Alice die letzten Züge der alten Adelswelt, aber auch den Untergang dieser Welt. Und sie erfuhr, wie grausam die Rache der Unterdrückten sein kann. Kriege und politische Umstürze bestimmten ihr Leben.
Alice, seit ihrer Heirat Mitglied des griechischen Königshauses, begann nach ihrem Umzug nach Athen, sich sozial zu engagieren. Sie richtete eine Strickereischule für Frauen ein. Den Großteil ihrer ersten Ehejahre verbrachte sie allerdings mit den üblichen weiblichen Verpflichtungen: Vier Töchter wurden geboren. Mit dem Ausbruch des Griechisch-Türkischen Krieges 1919 fand das beschauliche Familienleben ein jähes Ende.
Alice ging zunächst in ein Militärhospital, um Verwundete zu pflegen. Bald organisierte sie an der Front Feldlazarette, in denen sie auch selbst im Einsatz war. Das britische Rote Kreuz verlieh ihr dafür einen Orden. In ihrem Land aber wurde sie zur unerwünschten Person. Als dem Sieg der Türken in Griechenland ein Staatsstreich folgte, musste die königliche Familie das Land überstürzt verlassen. Ihr jüngstes Kind Philip war da gerade ein Jahr alt.
Sigmund Freud, riet ihr, ihre Libido zu senken
Sie und ihr Mann waren weitgehend mittellos, als sie sich mit den Kindern in Paris niederließen. Alice eröffnete ein kleines Geschäft, in dem sie Stickereien und Bilder verkaufte. 1930 verließ ihr Mann die Familie, um zu seiner Geliebten nach Monaco zu ziehen. Alice stand jetzt allein da, mit fünf Kindern und einer angeschlagenen Psyche.
Ende der 1920er-Jahre verfiel sie in eine psychische Krise und suchte zunehmend Halt in der Religion. Ihre Mutter Viktoria ließ sie in das Sanatorium Schloss Tegel in Berlin einweisen, die erste psychoanalytische Klinik der Welt. Direktor Simmel diagnostizierte ihr eine Schizophrenie.
Sigmund Freud persönlich empfahl eine drastische, damals übliche Behandlungsmethode. Weil er ihre Wahnvorstellungen auf sexuelle Frustrationen zurückführte, riet er, ihre Libido zu senken. Zu diesem Zweck wurden ihre Eierstöcke einer intensiven Röntgenstrahlung ausgesetzt, um die Menopause einzuleiten.
Nach Alice’ Entlassung verschlechterte sich ihr Zustand derart, dass sie in eine geschlossene Anstalt eingewiesen wurde. Erst nach zweieinhalb Jahren erteilte ihre Mutter ihr die Erlaubnis, das Sanatorium zu verlassen.
Jahrelang hatten Philipp und seine Mutter keinen Kontakt
In den folgenden Jahren reist sie von einem europäischen Land zum anderen. Ihre Töchter waren erwachsen. Doch Philip war erst zwölf, als seine Mutter das Sanatorium verlassen konnte. Nachdem seine Mutter nach Kreuzlingen gebracht worden war, wurde Philip von einem Haushalt zum nächsten geschickt. Die Schulzeit verbrachte er in Internaten. In den Ferien war er meist in der Obhut seiner Großmutter mütterlicherseits. Im Sommer reiste er regelmäßig zu seinem Vater nach Südfrankreich. Fünf Jahre lang hatte er mit seiner Mutter keinen Kontakt. Es gab nicht einmal eine Karte zu seinem Geburtstag. Philip selbst sagt im Rückblick nur: „Ich musste damit klarkommen.“
Wo sich Alice auf ihrer jahrelangen Odyssee aufgehalten hat, ist nicht bekannt. Einsam war sie nicht, sondern traf vielerorts auf Menschen, mit denen sie sich über politische und spirituelle Fragen austauschte. 1937 kam ihre hochschwangere Tochter Cäcilie mit ihrem Mann und den beiden Söhnen bei einem Flugzeugabsturz im belgischen Ostende ums Leben. Bei der Beerdigung traf sie erstmals alle Angehörigen wieder.
Kurz darauf zog sie zurück nach Griechenland, das seit 1936 mit Zustimmung des Königs eine Militärdiktatur war. Der Plan war, hier gemeinsam mit ihrem Sohn Philip zu leben. Das scheiterte am Ausbruch des Krieges zwischen Großbritannien und Deutschland. Philip musste im Seekrieg in der britischen Marine dienen.
Während der Besatzung half sie, die Not zu lindern
Nachdem im April 1941 die deutsche Wehrmacht in Athen einmarschiert war, brach das Grauen aus. Bei einer Hungersnot starben Zehntausende von Menschen. Während fast alle Mitglieder der königlichen Familie flohen, blieb Alice, um zu helfen. Neben der Organisation von zwei Waisenhäusern und Krankenbesuchen in Armenvierteln, richtete sie eine der größten Suppenküchen der Stadt ein. Als ein Wehrmachtsgeneral die deutschstämmige Adelige fragte, was er für sie tun könnte, antwortete sie knapp: „Sie können Ihre Truppen aus meinem Land abziehen.“
Mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Griechenland begann auch die Jagd auf die jüdische Bevölkerung. 60.000 jüdische Frauen, Männer und Kinder wurden in Griechenland ermordet. Alice von Battenberg rettete einer Familie das Leben: Rachel Cohen mit Tochter und Sohn. Bis zum Ende des Krieges versteckte sie die Witwe des Parlamentariers Haimaki Cohen und deren Kinder in ihrem Haus.
Als die Gestapo Verdacht schöpfte und sie befragte, tat sie, als ob sie wegen ihrer Taubheit nichts verstehen könnte. Irgendwann ließ man sie in Ruhe. 1994 wurde Alice in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem für ihren Einsatz für die Cohens als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.
„Ich vermute, dass es ihr nie in den Sinn gekommen ist, dass ihre Handlung in irgendeiner Weise etwas Besonderes war“, sagte Prinz Philip bei der Zeremonie: „Sie war eine Person mit einem tiefen religiösen Glauben, und sie hätte es als eine vollkommen natürliche menschliche Reaktion auf Mitmenschen in Not angesehen.“
In den letzten Jahren war sie ihrem Sohn nahe
1947 verlobte Philip sich mit Prinzessin Elisabeth. Wegen seiner deutschen Verwandtschaft – drei seiner Schwager waren NS-Größen – empfing man ihn nicht unbedingt mit offenen Armen.
1949 legte Alice endgültig ihre Titel und weltliche Kleider ab und gründete auf der griechischen Insel Tinos die Maria-Martha-Schwesternschaft. Fortan trug sie nur noch ein graues Nonnenhabit, auch bei der Krönung ihrer Schwiegertochter am 2. Juni 1952.
1967, nach dem Militärputsch in Griechenland, zog Alice nach London in den Buckingham Palast: eine kettenrauchende Nonne, die gerne Canasta spielte. In den letzten Jahren war sie ihrem Sohn nah. „Liebster Philip“, schrieb sie kurz vor ihrem Tod 1969, „sei mutig und denke daran, dass ich dich nie verlassen werde und du mich immer finden wirst, wenn du mich am meisten brauchst.“
CLAUDIA BECKER