Seit neun Jahren arbeite ich als "freiwillige" Prostituierte und immer in meine eigene Tasche. Seit ich Ihr Buch gelesen habe, wurde ich in meiner eigenen Meinung, dass jeder Freier eine Vergewaltigung ist und ich mich von Tag zu Tag mehr und mehr kaputt mache, nur bestärkt.
Auf einigen Internetseiten, wo ich angemeldet bin, gibt es Foren für Frauen, wo über sämtliche Themen zum Gewerbe diskutiert wird. Aktuell das Thema Anmeldepflicht für Prostituierte. Viele unterschrieben die Petition gegen eine Anmeldepflicht, ich nehme mal an, dass sie selber keine Steuernummer haben bzw. Gewerbe-Anmeldung und nun Angst um ihr Geld haben.
Bis vor einigen Monaten hatte ich auch noch ein so genanntes Wohnungsbordell in meinem Wohnhaus. Ich habe mich mit den Damen, die wöchentlich wechselten, sowie meiner Hausverwaltung, Kripo und sämtlichen Ämtern auseinander gesetzt und weiß, dass es sich zu 90 Prozent um Zwangsprostituierte handelte. Die meist ihren Zuhälter mit in der Wohnung hatten. Darum argumentierte ich bei dieser Debatte für die Anmeldepflicht. Denn für den Staat ist es schwer, Zwangsprostitution nachzuweisen und die Gesetzeslage ist nun mal sehr dünn. Mit einer Anmeldepflicht hat man wenigstens einen Handhabe, gegen Zwangsprostituierte bzw. deren Menschenhändler/Zuhälter vorzugehen und darf auch zu Kontrollen die Wohnungen/das Bordell betreten.
Völliges Unverständnis von der anderen Seite folgte. Das ging dann so weit, dass ich mich selbst als Prostituierte für ein Verbot der Prostitution aussprach. Oh, da löste ich ja Wellen aus! Ich sei doch falsch in dem Job, ich solle mir doch helfen lassen usw.
Mir ist sehr wohl bewusst, dass man sich psychisch in dem Gewerbe kaputt macht. Dieses Bewusstsein habe ich jedoch erst seit ca. zwei Jahren. Vorher hatte ich noch die rosarote Brille auf. Unter den diskutierenden Damen waren einige, die als Prostituierte schon mindestens genauso lange wie ich arbeiten, wenn nicht schon länger.
Nun meine eigentliche Frage: Reden sich diese Frauen ihren Job nur schön? Sind sie nicht in der Lage, ihre Wesensänderungen und psychischen Nachteile, die dieses Gewerbe mit sich bringt, zu sehen? Oder reden sie sich ihre Situation einfach nur schön, weil sie aus ihrem Strudel, in dem auch ich mich befinde, einfach nicht mehr raus kommen und sich mit ihrem Schicksal abgefunden haben?
Vivien
Liebe Vivien,
im Grunde kennst du die Antwort: Man muss es sich „schön reden“, um es auszuhalten. Denn wenn man das ganze zu Ende denkt und fühlt, kann man doch eigentlich nur schreiend weglaufen, oder? Dir geht es ja auch zunehmend so.
Ich erinnere mich, als ich in den 70er Jahren für den „Kleinen Unterschied“, mein drittes Buch, recherchierte. Da saß ich in einem Münchner Arbeiterviertel bei einer Frau um die Vierzig am Küchentisch. Sie redete und redete. Der erste Satz war: „Ich bin glücklich!“. Ich sagte nichts und ließ sie weiterreden. Eine halbe Stunde später fing sie an zu weinen. „Was soll ich denn tun?“, schrie sie fast. „Ich habe drei Kinder, keinen Beruf, kaum Kontakte. Soll ich aus dem Fenster springen?“ So ist das. Wenn man keine Wahl hat, hat man verständlicherweise Tendenz, sich etwas vorzumachen. Sonst wäre das ja kaum auszuhalten.
Verschärfend kommt hinzu, dass man in Deutschland seit vielen Jahren die Prostitution so verharmlost, als sei sie „ein Beruf wie jeder andere“. Und dann rutscht eben auch eine Frau wie du da rein, macht das ein paar Jahre, spürt zunehmend deutlicher, wie die Seele Schaden nimmt – und kommt immer schwerer raus.
Und dann ist da ein zweites Problem, selbst für eine bewusste junge Frau wie dich, die in Berlin lebt: Es gibt hierzulande kaum Beratung und Hilfe zum Ausstieg. Selbst Projekte, die von der Politik Geld für „Ausstiegsberatung“ kassieren, verharmlosen die Realität der Prostitution und raten so manches Mal in Wahrheit zum Einstieg. Das ist eine makabere Situation.
Liebe Vivien, solltest du aussteigen wollen, melde dich bitte bei uns. Vielleicht können wir einen Rat geben.
Ich wünsche dir Kraft. Kraft zum Ausstieg!
Herzlich
Alice